Viele Unternehmen setzen bei der Produktenwicklung auf Ideen ihrer Kunden. Dieses sogenannte Crowdsourcing ist eine Form von Open Innovation , frei nach dem Motto: Der Köder muss dem Fisch schmecken – und nicht dem Angler.

Die „Saturn V“ hat einen besonderen Platz im Zimmer von Felix Stiessen. Das liegt zum einen an der Größe, denn mit einer Höhe von einem Meter ist der kleine Nachbau des Spaceshuttles neben dem Modell des Pariser Eiffelturms das höchste Lego-Set überhaupt. Und zum anderen ist es Stiessens bisher schönster Erfolg als Produktentwickler für den größten Spielzeughersteller der Welt mit den berühmten kleinen Bausteinchen aus Dänemark. Bereits wenige Wochen nach der Veröffentlichung war der Raketenbausatz restlos ausverkauft.
Fast ein Jahr hatte Stiessen an der „Saturn V“ gearbeitet, gemeinsam mit Valérie Roche aus Frankreich. Ein weiteres Jahr lang wurde das endgültige Set entwickelt, ehe es im Sommer 2017 den Spielwarenmarkt eroberte. Nur: Felix Stiessen ist in Wirklichkeit gar kein Produktentwickler bei Lego. Felix Stiessen ist 19 Jahre jung, lebt in Kärnten im Süden Österreichs und ist bis vorigen Sommer noch zur Schule gegangen. Als er sich die „Saturn V“ ausdachte, war er gerade einmal 14 Jahre alt. Aber wie kommt ein 14-jähriger Österreicher dazu, einen Lego-Bausatz zu entwerfen, der dann auch noch zu einem solchen Verkaufserfolg wird?
Die Antwort lautet Open Innovation und ist ein Trend, den immer mehr Unternehmen für sich nutzen. Statt ausschließlich auf die Arbeit der eigenen Mitarbeiter setzen die Firmen bei der Produktentwicklung auf Ideen aus dem Umfeld, Ideen von Kunden, Lieferanten oder Geschäftspartnern. Sei es durch Reklamationen, Bewertungen oder gezielte Aktionen wie Umfragen oder Produkttests: Alles das können schon Beispiele für Open Innovation sein.
Entsprechend weitreichend sind auch die Definitionen. „Wenn Sie Open Innovation googeln, werden Sie Hunderte unterschiedliche Erklärungen finden“, sagt Prof. Dr. Ove Jensen. Er nähert sich der Sache daher eher pragmatisch: mit einer Gegenüberstellung der Open und der Closed Innovation. „Closed Innovation gab es immer und wird es immer geben, nämlich dort, wo ein Ingenieur- Genius eine Idee hat“, meint Jensen, „und Open Innovation gab es immer und wird es immer geben, nämlich dort, wo man den uralten Marketing-Grundsatz beherzigt, dass der Köder dem Fisch schmecken muss – und nicht dem Angler.“
Aber wie wird diese scheinbar altbekannte Faustformel zu einem aktuellen Trend? Die Antwort lautet, wie so häufig: Digitalisierung. „Der Begriff Open Innovation ist mehr als 20 Jahre alt“, sagt Jensen, der an der WHU – Otto Beisheim School of Management Vertriebsmanagement und B2B-Marketing unterrichtet, „aber durch das Internet und die sozialen Medien hat Crowdsourcing als Form der Innovationsbeschaffung zunehmend an Bedeutung gewonnen.“ Der Draht zwischen Unternehmen und ihren Kunden wird immer kürzer. Nahezu jede Firma hat eine Facebook- Seite, über die sie sich präsentiert und auch mit ihren Fans in Kontakt tritt. Lego geht sogar noch einen Schritt weiter und hat mit Lego Ideas eine ganz neue, eigene Community gegründet. Der Name ist Programm – und das Prinzip simpel: Lego-Fans können sich anmelden, ihre Ideen für Bausätze hochladen und die Community darüber abstimmen lassen. Wer mehr als 10 000 Stimmen erhält, sogenannte Likes, dessen Idee wird von Entwicklern geprüft und im besten Fall weiterentwickelt und produziert. Am Ende landen die Produkte im Handel.
Die „Saturn V“ von Felix Stiessen und Valérie Roche hat es geschafft. Die zwei Lego-Fans haben sich über die Onlineplattform kennengelernt und gemeinsam am Bausatz für das Spaceshuttle getüftelt. Am 28. August 2014 luden sie ihre Idee hoch, „Ende 2015 erreichten wir die 10 000 Likes, und am 1. Juli 2017 startete der Verkauf mit einer Veranstaltung im Lego-Store in Wien“, erinnert sich Stiessen, Lego-Fan seit frühester Kindheit, der seit 2013 insgesamt 41 Ideen auf die Onlineplattform hochgeladen hat. In die Entwicklung der „Saturn V“ war er auch nach der Abstimmung eingebunden. „Wir hatten mehrere Skype-Konferenzen mit den Designern, bei denen wir das Modell sehen und Vorschläge einbringen konnten“, sagt er. Die fertige Rakete sei stabiler, sagt Stiessen, entspräche aber weitgehend dem, was er und Roche auf Lego Ideas hochgeladen haben.
Im Herbst feierte die Plattform ihr zehnjähriges Bestehen – zusammen mit fast einer Million Nutzern. „Lego Ideas zeigt die Stärke unserer Fangemeinde“, sagte Marketing-Chefin Julia Goldin anlässlich dieses Jubiläums: „In den vergangenen zehn Jahren sind unsere Fans mit den unglaublichsten Ideen zu uns gekommen, die zu beliebten Sets geworden sind.“ Jedes Jahr erreichen im Schnitt 25 Ideen die Schwelle von 10 000 Likes, daraus sind bisher 23 Produkte entstanden. Positiver (Marketing-)Nebeneffekt: Neben guten Ideen erhält Lego so auch Kontakt zu seinen Kunden. Und kann sich relativ sicher sein, dass die Produkte gefallen.
Einen kleinen Haken hat die Open Innovation allerdings. „Lego bindet mit seiner Community nur eine sehr ausgewählte Gruppe ein, nämlich Fans“, sagt Alexander Peter: „Und die sind meist voreingenommen und finden ohnehin gut, was das Unternehmen macht.“ Tatsächlich aber sei ein offener Innovationsprozess, also Open Innovation, gerade dann erfolgreich, wenn der Blick von außen auf das Projekt, Produkt oder Unternehmen gerichtet werde. Ansonsten verschwimme die Grenze zur Close Innovation, die innerhalb einer Firma entsteht.
Peter weiß, wovon er spricht. Er war BWL-Werkstudent bei einem Spin-off von McKinsey und hat für die Unternehmensberatung evers&jung gearbeitet. Vor fünf Jahren gründete er mit Mirko Bendig seine Agentur Phantominds, mit der er für seine Kunden Open Innovation-Projekte umsetzt. Sein Spezialgebiet ist das sogenannte Crowdsourcing. Hierbei wird eine ausgewählte Gruppe an Menschen aufgefordert, Ideen abzugeben – in der Regel für Produkte. Peter erklärt das so: „Ich nutze eine Schwarmintelligenz, um Open Innovation-Projekte durchzuführen.“
Aus dieser Idee hat der 42-Jährige ein Geschäftsmodell entwickelt – Phantominds, was im weitesten Sinne und übersetzt so viel heißt wie: Gedanken von Phantomen. Und genau das bietet Peter mit seiner Firma. Er hat eine eigene Community ins Leben gerufen, die von 500 Mitgliedern zu Zeiten der Gründung auf mittlerweile 25 000 User angewachsen ist. „Damit sind wir sehr valide“, sagt er. Diese Community stellt Peter seinen Kunden zur Verfügung.
Ein Unternehmen, das dieses Angebot genutzt hat, ist die Hamburger Hochbahn. Unter dem Motto „Deine Ideen für die Hochbahn“ haben das städtische Unternehmen und die Open Innovation-Agentur einen Monat lang Ideen aus der Community gefischt. Mehr als 1000 Mitglieder haben sich aktiv an dem sogenannten Co-Creation-Projekt beteiligt, bei dem 137 Ideen zusammengekommen sind. Die besten drei wurden mit einem Preisgeld ausgezeichnet: eine Touristen-App, die Usern zeigt, welche Sehenswürdigkeiten sich auf der Route befinden, ein Textil-Reinigungsservice am Bahnsteig sowie eine Lebensmittelpackstation. „Das sind Ideen, auf die Produktentwickler oft gar nicht kommen, weil sie so fern liegen“, erklärt Peter.
Ein weiteres Beispiel dafür sind die USB-Ports in U-Bahnen, an denen Smartphone-Nutzer ihre Akkus aufladen können. Eine Idee der Phantominds-Community. „Wir fanden sie total bescheuert“, sagt der Gründer: „aber die Leute haben dafür gevotet – und heute werden diese Ports geliebt.“ Genau wie WLAN in Bussen, das nun fast selbstverständlich ist. Phantominds filtert diese Ideen zunächst und prüft sie auf Umsetzbarkeit. Evaluierung nennt Peter dieses Prozedere in bestem Unternehmensberaterdeutsch. Dann werden sie den Kunden präsentiert und, wenn möglich, umgesetzt. Das WLAN in Bussen und die USB-Ports gibt es bereits.
Wenn ein Kunde lieber eine eigene Plattform aufbauen oder ein Produkt gezielt an einer Zielgruppe testen möchte, kann Peter ebenfalls helfen. Er hat einen Algorithmus entwickelt, der anhand von Nutzerdaten aus dem Internet ermittelt, wer in die Community des jeweiligen Unternehmens passt. „Tchibo hat mit unserer Hilfe zum Beispiel ein Innovationsprojekt zum Thema Kundenbindung durchgeführt“, sagt der Unternehmensberater. Daraus ist eine Community geworden, in der Tchibo-Fans aktuelle Produkte testen und sich mit dem Unternehmen darüber austauschen können. Immer mal wieder schafft es auch dort eine Idee zum Produkt, wie der ergonomische Eisportionierer von Simon Michel oder die variable Tortenhaube von Tobias Kotulla. Und selbst in eher theoretischen Branchen wie der Finanzwirtschaft kommt Crowdsourcing zum Einsatz. So bietet zum Beispiel die Postbank ihren Kunden mit dem Ideenlabor eine Plattform zum Austausch – und für Produktideen.
Neben dem B2C- funktioniert Open Innovation auch im B2B-Bereich. Der Softwareentwickler Salesforce zum Beispiel lässt Nutzer über neue Features abstimmen. „Hier können Geschäftskunden Ideen einbringen und die Vorschläge anderer Kunden bewerten“, erklärt Prof. Dr. Ove Jensen. Seiner Meinung nach sind Innovationskooperationen etwa zwischen Zulieferern und Anbietern im B2B-Bereich besonders stark. „Viele Kunden haben Feedback- Plattformen mit einer ‚Ampel- Logik‘, die Zulieferern ständig die eigene Leistunge vor Augen führen“, sagt Jensen. Allerdings sei die Kritik oft methodisch, weil Einkäufer sich dadurch etwa erhoffen, die Preise zu senken. Darüber hinaus gebe es bei Crowdsourcing im B2B-Bereich eine rechtliche Hürde, sagt der promovierte Wirtschaftswissenschaftler. Daher säßen neben den Ingenieuren des Kunden und des Anbieters immer auch Juristen am Tisch, damit getrennt wird, welche Idee nun geistiges Eigentum welcher Partei ist.
Mit derartigen Fragen muss sich Felix Stiessen noch nicht beschäftigen. Wenn alles nach Plan läuft, wird er im Sommer an der Technischen Universität in Wien ein Maschinenbaustudium beginnen. Ob er sich nicht auch einen Job als Produktdesigner vorstellen könnte? „Ich bin eher technisch interessiert, aber als Lego-Designer würde ich auf jeden Fall arbeiten“, sagt er und hat Grund zur Hoffnung: Bisher wurden schon zwei Community- Mitglieder eingestellt.

 

 

Text: Alexander Siebert Illustration: Stephan Kuhlmann