Für ein lebenswertes Morgen werden heute die Weichen gestellt. Befindet sich HAMBURG auf einem guten Weg? club! hat sich auf die Suche gemacht und herausgefunden, dass viele kluge Köpfe ein hohes Innovationspotenzial schaffen.
Gute Idee sind eigentlich ganz einfach
„Retouren!“, sagt Aileen Schmuck, und das Ausrufezeichen ist zu hören. Retouren sind ein unangenehmes Problem überall, wo das Netz als Handelsplattform genutzt wird: Man bestellt sich drei Hemden, schickt zwei zurück, und die Logistik kann sehen, wie sie damit klar kommt: abholen, die Rechnungen rückabwickeln, die Ware wieder ins Lager bringen, prüfen, neu verpacken oder verwerten, ein endloser Aufwand von Zeit und Personal, endloser Ausstoß von CO2. Wer in der boomenden Branche des E-Commerce damit befasst ist, könnte jeden Tag verzweifeln.
Die junge Frau in T-Shirt und Sneakers ist stellvertretende Leiterin des Digital Hub Logistics Hamburg in der Seicherstadt. Dunkelrote Klinkerwände, offene Räume mit Balkendecken, locker verteilte Arbeitsplätze. Viel stilechter lässt sich so ein Co-Working-Space für Start ups nicht herrichten. Aileens offizielle Funktion ist Head of Open Innovation and Ecosystems – und schon müssen ein paar Kleinigkeiten erläutert werden. Erstens: Vorname und Du ist die übliche Form der Anrede unter Menschen, die sich hauptberuflich mit Innovation beschäftigen, zweitens: Englisch muss sein. Klingt deutlich cooler, entspricht außerdem den Abmessungen des Spielfelds. Wir reden von weltumspannenden Netzwerken und minutiös abgestimmten Lieferketten, stehen im Wettbewerb mit Alphabet, Amazon & Co – willkommen also in der Welt der interconnected supply chains und der value ecosystems, der artificial intelligence, social entrepreneurs und des high performance computing.
Andreas Richter, Abteilungsleiter in einer Wirtschaftsbehörde, die den Begriff Innovation schon im Briefkopf trägt, mit seinem grauen Vollbart eher ein Herr Richter als ein Andreas, hat die Entwicklung von Anfang an begleitet und mitgestaltet. Und Hamburg war früh am Start mit der Erkenntnis, dass eine vorausschauende Politik sich zubewegen muss auf die Menschen, die mit ihren Ideen Fortschritt möglich machen, proaktiv statt abwartend. Heute erinnert er sich an einen Auftritt vor der Kommission der Europäischen Union, lange her, zehn Jahre oder mehr: „Die fanden das super“, fasst er zusammen. „Von da an haben sie allen gesagt: Ihr bekommt EUGeld. Aber nur, wenn ihr auch so eine regionale Innovationsstrategie habt. Nun ja. Wir hatten eine.“ Denn der Ort, an dem die Ideen zur Welt gebracht und zu businessfähigen Konzepten ausgearbeitet werden, ist genau hier, im Logistik Hub Hamburg zwischen Kästen mit Bio-Brause und Vintage-Rennrädern, die zur Sicherheit im Büro geparkt werden.
Das Problem mit den Retouren zum Beispiel: Aileen Schmuck steht vor einer gelben Tafel und zeigt auf den Namen eines Start ups, toern, das mit CO2OPT, Shipcloud und 83 anderen jungen Unternehmen aufgelistet ist. „toern sind drei Gründer“, sagt sie. „Die waren kaum aus der Hochschule, da hatten sie schon ein Produkt entwickelt, das die ganze Branche revolutionieren könnte. Dezentral, von Kunde zu Kunde. Funktioniert ein bisschen wie eine Tauschbörse für Retouren.“ Handelsunternehmen wie Otto und Tchibo, die neben der Stadt und anderen Unternehmen zu den Partnern des Ideen-Inkubators gehören, Riesen im Bereich E-Commerce und Logistik, sollen sich sehr interessiert gezeigt haben. Wie hilfreich für die Partner, wenn man so kurze Wege hat.
Überhaupt: Gute Ideen sind eigentlich ganz einfach. Und wenn sie richtig gut sind, reichen auch wenige Worte, sie zu umschreiben. Die gute Idee der Hamburger Wirtschaftspolitik lautet: Erkenne deine Stärken. Konzentriere dich darauf, baue sie aus und halte dich nicht auf mit Gedöns. Mozartkugeln können sie anderswo besser. Aber Flugzeuge, Schiffe, der Transport von Kardanwellen oder Kuschelteddys von Shanghai bis Schenefeld, überallhin – das sind die Stärken, die zur DNS der Stadt gehören. Die Hanse eben, die Kaufmannstradition, das Tor zur Welt.
Im Technologiezentrum Tempowerk auf der Harburger Seite der Elbe funktioniert das Prinzip seit 38 Jahren: 120 Betriebe aus 45 Branchen, Labors, Werkstätten, Infrastruktur und Büros, zusammen rund 800 Arbeitsplätze, alles hervorgegangen aus einer Initiative, die kreativsten Köpfe unter den Elektronikspezialisten und Schiffbauingenieuren aus der Technischen Universität zu unterstützen, wenn sie gute Ideen ausarbeiten und auf den Markt bringen wollen. Heute zählen sie dort die Patente, die Kooperationen und die Weltmarktführer. Also: dran bleiben! Ausbauen! Nicht abwarten, bis eine neue Entwicklung zu hektischen Reaktionen zwingt, sondern den Vorsprung mit klugen Investitionen für lange Zeit sichern!
In Hamburg sagt man: Cluster. Cluster sind Bündel von Unternehmen, so etwas wie Branchen, auf denen der Wohlstand der Stadt beruht und die zugleich Brückenköpfe in die Zukunft sind. Nachdem der Gedanke einer Bündelung so um 2007 herum erstmals in der Wirtschaftsbehörde diskutiert wurde, fokussierte sich die Aufmerksamkeit also auf Geschäftsfelder, in denen Hamburger Unternehmen Herausragendes leisten. Derzeit sind es neun:
Man redet miteinander, tauscht sich aus
Nein, der HSV gehört nicht dazu, aber Aviation, also Luftfahrt, klar, maritime Wirtschaft mit Schiffbau und Schifffahrt, Meerestechnik und Offshore, auch klar. Logistik und Finance, drei und vier. Dazu Life Sciences, also Medizintechnik, Pharma und Biotechnologie, die Medien- und Digitalwirtschaft, die Kreativen, die Gesundheitswirtschaft, die von Wohnraum mit Assistenzsystemen für ältere Menschen bis zum Zukunftsthema e-Health für mehr als ein Zehntel der gesamten Wirtschaftsleistung der Stadt steht. Und schließlich alles, was mit erneuerbaren Energien zu tun hat, von der Off-Shore Windenergie bis zum grünen Wasserstoff, für dessen Produktion es nicht viele Orte in Europa gibt, in denen so viele Voraussetzungen so günstig zusammenkommen – eben der Wind, das technische Know how, die logistische Infrastruktur, die Begleitung durch die Wissenschaft, die Investitionsfreude der Industrie und die Bereitschaft der Politik, Entwicklung effektiv zu fördern. Sie haben kapiert, worauf es ankommt.
Denn das ist das Wesensmerkmal der Hamburger Innovationsallianz: Man redet miteinander, man tauscht sich aus. Die Stadt moderiert, ermöglicht, fördert; Wirtschaft und Wissenschaft kreisen Probleme ein und ergänzen einander bei den Lösungen. Klingt wie in einer besseren Welt. Aber muss die Forschung nicht den Verlust ihrer akademischen Freiheit fürchten, wenn sie sich in den Dienst der Wirtschaft stellt? „Unsinn!“, sagt Arik Willner, Chief Technology Officer bei DESY in Bahrenfeld – und wieder ist das Ausrufezeichen zu hören: wirklich Unsinn.
Wer seit mehr als 60 Jahren Spitzenforschung betreibe, so stellt der Manager klar, der beim Deutschen Elektronen-Synchrotron ganz offiziell für Innovation zuständig ist, wer dafür vom Bund mit hohen Summen finanziert werde – der trage Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Ein paar Beispiele? „Wir haben zusammen mit BioNTech den Transport der Messenger-RNA optimiert, die den Corona-Impfstoff im Körper dorthinbringt, wo er wirksam werden soll. Das war 2019, und BioNTech war noch ein kleines Start up in Mainz. Oder wir haben für die Firma Trumpf in Ditzingen bei Stuttgart ein Lasersystem fit gemacht; jetzt vertreiben sie es für die Fertigung von E-Autos. Und wir brauchen Elektromobilität.“
Messenger-RNA? Dafür wurde Anfang Oktober der Nobelpreis in Medizin vergeben. Und Willner könnte weitererzählen. Vom Kampf gegen den Klimawandel, den Verheißungen der Nano-Forschung, von neuer Technologie für Kliniken und von Medikamenten gegen den Krebs, vielleicht gar einem Impfstoff, eines Tages. „Wenn wir mit dem, was wir hier forschen, etwas dazu beitragen können, dann sollten wir alles dafür tun, dieses Wissen auch nutzbar zu machen.“
Aufbruch in Deep Technology
Herzlich willkommen also, Science City Bahrenfeld! 5000 Studierende der Fachbereiche Physik, Chemie und Biologie werden den Innovationspark bevölkern, um in unmittelbarer Nachbarschaft und, womöglich, in Kooperation mit den DESY-Forschern zu arbeiten. Und damit aus gelehrigen Famuli einmal Kollegen werden, entstehen gleich nebenan mit Geldern vom Bund und von der Investitionsagentur Hamburg Invest die Start up Labs Bahrenfeld, ein eigener TecHHub für junge Gründer und die DESY Innovation Factory, noch einmal 10 000 Quadratmeter für Technik-Unternehmer auf der Startbahn in den Markt. Dazu Wohnungen, Kultur, Sport – ein ganzer Stadtteil, ein Ökosystem für das, was Willner nicht ohne Stolz einen Aufbruch in Deep Technology nennt. Ein Riesenprojekt.
„Die Agenda unserer Forschung verändert sich nicht“, stellt der promovierte Physiker jedoch klar. „Wir wollen und werden nicht zu Geschäftsleuten mutieren. Wir verstehen uns weiterhin als Ermöglicher. Aber wir müssen auch in der mittel- und kurzfristigen Verwertung Geschichten produzieren, die begreifbar sind.“ Die Spitzenforschung öffnet ihre Türen, ganz wörtlich.
1420 Start-ups, 335 Investoren aus Hamburg, 80 Förderprogramme, eine eigene Investitions- und Förderbank, Hubs und Cluster, Technologieparks, Start-up-Inkubatoren und Innovationsallianzen: Die Initiative der Stadt Hamburg hat sich längst als Standortfaktor herumgesprochen, als Erfolgsmodell, dem andere nacheifern, als Ausdruck hanseatischer Zukunftsoffenheit. Vielleicht hat sie sogar ein ganz neues Paradigma von Wirtschaft hervorgebracht. Christoph Birkel jedenfalls konstatiert als Geschäftsführer des Tempowerks einen grundlegenden Kulturwandel: „Die nächste Generation“, so erlebte er es bei den jungen Unternehmern in seinem Technologiepark, „ist eine Plattform-Generation. Für sie ist es ganz natürlich, Know-how zu teilen und zu sagen: Ich will nicht alles alleine wissen, kann es auch gar nicht mehr – aber ich weiß: Was wir erreichen wollen, müssen wir gemeinsam erreichen; wir teilen uns die Arbeit auf, und los geht’s.“
Unterschiedliche Cluster verbinden
So bekommt die Initiative der traditionsreichen Hansestadt eine unerwartet tiefe, politische Dimension, eine, die nicht mehr nur Stadtentwicklung, Unternehmensgewinne oder Arbeitsplätze im Blick hat. Ja, es geht um Pflege und Ausbau eigener Stärken. Und ja, jeder Geschäftsmann und jeder Wirtschaftspolitiker muss die Konkurrenz im Blick behalten und ihren nächsten Zug schon kennen, bevor der auch nur gedacht ist. München vielleicht? Das Silicon Valley? Gerade hat Indien eine Sonde auf dem Mond landen lassen. Arik Willner aber, der bei DESY von der Warte der Wissenschaft auf den Markt schaut und nicht als Kaufmann die Potenziale der Forschung taxiert, sagt es ganz einfach: „Unsere Zeit ist viel zu knapp. Wir lösen ein Problem wie den Klimawandel oder die großen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht, indem wir weitermachen wie bisher. Wir müssen uns unterhaken.“
Wirtschaft und Wissenschaft als Koch und Kellner? Kann sein, dass sich da gerade etwas verschiebt. Denn was gestern noch Errungenschaften waren, wird morgen bedrängt und relativiert durch neue Möglichkeiten und Herausforderungen. Wer hat zum Start der konzertierten Innovationspolitik schon groß an Wasserstoff und alternative Energien gedacht? Jedenfalls besaßen entsprechende Pläne nicht die Dringlichkeit, ökologisch und geopolitisch, die sie heute besitzen. Oder Künstliche Intelligenz. Heute ist klar: Damit stehen und fallen Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand der ganzen Region für den Rest des Jahrhunderts.
Den Kurs also radikal ändern? Irgendwo verlieren die vertrauten Metaphern ihre Überzeugungskraft. Eher schon: das Begriffssystem im Sinn einer gewandelten Realität revidieren. Die Geschäftsfelder und Allianzen in andere Richtung sortieren. Wie in einem Supermarkt: nicht mehr in Wurstwaren, Obst und Fertiggerichte, sondern vielleicht in Bioprodukte und Convenience. Das Denken hat sich geändert. Die Regale können ja stehen bleiben. Andreas Richter aus der Wirtschaftsbehörde jedenfalls hat angeregt, auch die Schul- und die Kulturbehörde mit ins Boot zu holen, wenn künftige Innovationsstrategien für eine lebenswerte Stadt entwickelt werden.
Und auch ARIC tut so etwas: Das Artificial Intelligence Center Hamburg springt locker über die Grenzen der Geschäftsfelder hinweg und bringt, nur mal als Beispiel, Logistiker und die Gesundheitswirtschaft miteinander ins Gespräch – unterschiedliche Cluster, aber beide könnten sehr bald darauf angewiesen sein, die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz virtuos für sich zu nutzen. Vielleicht hat einer schon Erfahrungen gemacht. Vielleicht haben sie einander etwas zu erzählen.