Neurowissenschaftler HENNING BECK ist als Hirnforscher auch ein gefragter Wirtschaftsberater. Ein Gespräch über „German Angst“, Frontenbildung und warum KI eine hilfreiche Optimierungsmaschine ist, die nur tut, was man ihr sagt.

club!: Herr Beck, neu denken, vordenken bedeutet verändern. Was sagt die Forschung dazu? Sind wir Menschen dazu bereit?
HENNING BECK: Grundsätzlich lieben Menschen Gewohnheiten. Wir schützen, was wir haben, verteidigen lieber statt neu zu gestalten. Wir bleiben Mustern treu. Deshalb ist jede Veränderung erst einmal ein Feind.

Das hört sich nicht gut an …
BECK: Moment …! Wäre es nur so, wären Menschen nicht so erfindungsreich – was sie ja sind. Ab und zu brauchen wir Menschen Abwechslung, eine Überraschung. Irgendwann langweilt uns das Altbekannte. Und je jünger Menschen sind, desto interessierter sind sie an Überraschungen. Neugier ist der Gegenspieler von Langeweile.

Funktioniert auch Stadtplanung nach diesem Prinzip?
BECK: Aber ja. Jede Stadt ist ein Abbild der Gesellschaft. Sie zeigt, wie wir zusammenleben. Eine Zeitlang bewegt sich nicht viel, dann verändert es sich. Manchmal massiv.

So wie die Hamburger HafenCity? Ein Stadtteil, dessen Fertigstellung mutmaßlich Jahrzehnte dauern wird?
BECK: Frankfurt, wo ich jetzt lebe, war schon immer Messestadt, Knotenpunkt, Krönungsstadt. Irgendwann denkt man in Frankfurt, jetzt ist die Stadt aber mal fertig gebaut. Ist sie natürlich nicht. Es ist wie derzeit überall sonst in großen Ballungszentren: Die Stadt ist eine niemals endende Großbaustelle. Und warum? Weil neu Denken heißt, mit progressiven Ideen vorangehen und verändern. Ein Prozess, der nicht endet.

Was Menschen aber nicht so mögen, wie Sie gerade ausgeführt haben …?
BECK: Verändern heißt bewegen, auch im physischen Sinn. Wer pendelt, den immer gleichen Weg zur U-Bahn nimmt, der verändert nur ungern diese Gewohnheit. Es sei denn, er sieht ein, dass es Sinn macht. Es kommt also darauf an, wie man Veränderungen vermittelt. Es ist ganz wichtig, den angestrebten Fortschritt deutlich zu machen. Nur dann werden Verbesserungen, am besten erst einmal geringfügige, angenommen.

Wann muss dieser Fortschritt erkennbar sein? Die letzte Generation beispielsweise fürchtet um die Zukunft des Planeten. Ist das zu weit weg – zeitlich und räumlich gesehen?
BECK: Menschen ist die lange Sicht egal. Sie müssen konkret einen Vorteil für sich im Jetzt erkennen, um sich auf Veränderungen einzulassen. Was die Klimakleber und ihr Anliegen betrifft, das sind für mich religiöse Narrative. Es geht um Ängste, um die Apokalypse, eine höhere moralische Idee. Dabei vergessen sie das Wichtigste: ein Paradiesversprechen anzubieten. Niemand setzt sich dafür ein, dass es nicht ganz so schlecht wird. Wenn schon mit religiösen Narrativen arbeiten, dann bitte konsequent.

Warum findet die Idee, den Planeten zu retten, trotzdem zunehmend Anhänger?
BECK: Wir Deutsche, das zeigt der internationale Vergleich, sind besonders auf neue Ideen angewiesen. Sie zu entwickeln, können wir besonders gut. Allerdings reicht das nicht, man muss auch dafür begeistern – am besten mit einem positiven Ausblick. Wenn also jemand in unseren Augen positive Ideen vermittelt, dann folgen ihm die Menschen gern, vor allem wenn er jemand ist, dem sie glauben können. Beispielsweise Helmut Schmidt in Hamburg. Der stand für verantwortungsbewusstes Handeln, deshalb hatte sein Wort Gewicht. Oder nehmen sie die Lehrer, die man an der Schule hatte. An den coolen Mathematiklehrer, der einen für ein Thema begeistert hat, erinnert man sich besonders.gern. Begeisterung ist das Ansteckendste, was wir kennen.

Und wie werde ich ein überzeugender Politiker?
BECK: Indem ich mir darüber klar werde, wie ich die geplanten Veränderungen sehe und welche ich umsetzen möchte? Dazu sollte man wissen, dass Menschen in Räumen denken, nicht in Buchstaben. Wenn ich also große Veränderungen plane, ganz pragmatisch als Stadtplaner, dann sollte man das gesamte Umfeld aber auch die Psyche der Menschen mit einbeziehen. Menschen neigen zu Beharrungskräften. Das muss man wissen, wenn man sie für Veränderungen motivieren möchte.

Welche Ansprache ist richtig, wenn beispielsweise Partikularinteressen gegen Entscheidungen, eine Stadt weiterzuentwickeln stehen? Bäume fällen, Bahntrassen verlegen, mehrstöckig in Einfamilienvierteln bauen hat immer öfter Widerstand zur Folge.
BECK: Es ist auf jeden Fall clever, Menschen abzuholen, sie Teil des Veränderungsprozesses sein zu lassen, sie bei Veränderungen mitzunehmen. Entscheidet man Dinge über ihre Köpfe hinweg, hat das Trotzreaktionen und womöglich Ablehnung zur Folge. Es ist wichtig, Menschen das Gefühl zu geben, dass sie Teil des Ganzen sind und dadurch gewissermaßen die Kontrolle haben. So funktioniert Demokratie.

Dazu ein Beispiel. Hamburg wird zu einer Fahrradstadt umgebaut, was Parkmöglichkeiten für Autos einschränkt. Auch das bringt Kritiker auf den Plan und vertieft Gräben. Gibt es dafür eine Lösung?
BECK: Das ist in Frankfurt nicht anders. Was ich dabei sehe ist, dass Projekte so vermittelt werden, als ob sie für die Allgemeinheit gut sind. Tatsächlich wäre es entspannter und hilfreicher, wenn Veränderungen speziell auf den konkreten Vorteil für die betroffenen Gruppen oder in diesem Fall Stadtteile bezogen würden. Das verhindert den Aufbau von Fronten, den ich zunehmend in unserer Gesellschaft wahrnehme.

Ist eine andere Art der Kommunikation nötig?
BECK: Zumindest eine menschlichere. Um Veränderungen positiv durchzusetzen, braucht es auch Menschen, die das glaubhaft vermitteln. Persönlichkeiten, die Vertrauen ausstrahlen und denen ich zutraue, dass sie Veränderungen so herbeiführen, dass ich sie trotz aller Bedenken mittragen kann.

Wie lässt sich das praxisnah umsetzen?
BECK: Es ist gar nicht so schwierig. Projekte könnten als Pilotprojekte gekennzeichnet werden. Und wenn Verantwortliche dafür um Vertrauen werben, weil sie dafür einstehen, ist man schon einen Schritt weiter. Solche Verhaltensweisen geben Halt, denn Menschen folgen eher Menschen und erst dann Ideen. Wenn ein Projekt nicht klappt, verschwindet es eben wieder in der Schublade. Try and Error oder Change and Hope.

Damit tun wir uns in Deutschland manchmal schwer. Eine zweite Chance geben wir ungern …?
BECK: Angst ist nicht nur kein guter Ratgeber, sondern auch schlecht für den Gestaltungswillen. Ein Beispiel dazu: Überall sonst auf der Welt führt mehr Reichtum zu mehr Risikobereitschaft. Das ist ausgerechnet im gut funktionierenden und wohlhabenden Deutschland anders. Je reicher die Deutschen werden, pauschal betrachtet, desto mehr Angst haben sie, jemand könnte ihnen etwas wegnehmen. Die Risikobereitschaft sinkt. Das ist weltweit einzigartig.

Trotzdem kriegen wir als Gesellschaft aber auch vieles hin. Wie passt das zusammen?
OTTO: Der Schlepp-Anker, den wir als Kaufmannsstadt hinter uns herziehen, wiegt schwer. Aber das ist relativ. Schaut man sich die Hamburger Geschichte an, sieht man, wie beweglich alles ist. Es ging los mit dem Freibrief von Barbarossa 1189. Danach hatten wir den Zugang zum Meer. Dann kam Störtebeker. Der fragte nicht, der nahm sich. Wir Hamburger sind gut gerüstet für Veränderungen.

Dennoch lernen wir wenig aus der Geschichte. Kriege, Hungersnöte, alles wiederholt sich.
BECK: Man kann nur spekulieren. Vielleicht wollen wir vorbereitet sein, wenn die Welt untergeht? Das hat etwas mit Kontrolle zu tun. Andererseits kann man diese Risikominimierung auch positiv sehen. Wir sind ein Land von Problemlösern. Erfindungsreich, wenn es darauf ankommt, anpassungsfähig, ja sogar schnell in der Umsetzung von Ideen, wenn es nötig ist.

So wie während der Pandemie?
BECK: Genau. Da gehörte Deutschland zu jenen Ländern, die schnell auf Corona reagierten. Für einen kurzen Moment waren wir ein Land, in dem die überwältigende Mehrheit glaubte, dass die Regierung das Richtige tut. Wir haben sogar einen Impfstoff innerhalb von nur anderthalb Jahren entwickelt. Und vor 25 Jahren wären wir während der Pandemie mit dem Ausgangsverbot verhungert. Diesmal hatten wir Lieferdienste, die uns mit Essen versorgt haben. Auch das ist ein Beispiel für gutes Anpassen an Veränderungen und neue Bedürfnisse.

Aktuell sind Künstliche Intelligenz und ihr Einsatz das große Thema. Die einen halten KI für einen Segen, für die anderen ist sie ein Fluch. Wer hat Recht?
BECK: Wir Menschen sollten künstliche Intelligenz nicht so skeptisch sehen. Betrachtet man ihren Einsatz bei der Stadtplanung, bei den Infrastrukturen, bei der Modellierung von Verkehrsströmen, dann bewirkt sie viel Gutes. Sie verbessert Logistik, Arbeitsprozesse können verschlankt werden, Verkehrswege optimiert werden, und, und, und. Generell ist sie überall dort hilfreich, wo mit großen Datenmengen gearbeitet wird.

Dennoch gibt es die Angst, Roboter, also Maschinen könnten die Macht übernehmen?
BECK: Menschen müssen keine Angst vor Maschinen haben. Die Welt hat sich schon immer geändert, wird sie weiterhin tun. Neue Technologien werden die Menschen auch nicht arbeitslos machen. Im Gegenteil. Nach dem Parkinson’schen Gesetz wächst die Arbeit sogar, je mehr Technik ich einsetze.

Wie jetzt?
BECK: Das Parkinson’sche Gesetz besagt, dass Arbeit genau solange dauert, wie Zeit dafür zur Verfügung steht. Wenn ich also durch E-Mails und Videocalls Zeit spare, dann habe ich mehr Zeit für andere Arbeit oder Ideen. Die Angst, dass mehr Technik weniger Beschäftigung zur Folge hat, ist unbegründet. Die Arbeit wird nur anders. Als Microsoft Excel in den 1990ern eingeführt wurde, dachte man, der Beruf des Buchhalters würde aussterben. Es gibt heute in den USA tatsächlich über eine Million weniger Buchhalter als damals, aber über 1,5 Millionen zusätzliche ,Financial Analysts‘. Unterstützende Technik schafft mehr neue Jobs als sie vernichtet.

Was bedeutet das für die Zukunft?
BECK: Kein Mensch weiß, welche digitalen Probleme die Zukunft bringen wird oder welche Ethik zukünftige Generationen haben werden. Aber statt pessimistisch in die Zukunft zu blicken, Angst zu haben, sollten wir pragmatisch und positiv mit Veränderungen und Entwicklungen umgehen. Auf englisch hörte ich neulich: ,Pessimists sound smart. Optimists make money.‘ Wenn wir die Probleme der Welt bestmöglich analysieren, stellen wir fest: sie sind derzeit unlösbar. Deswegen klingen Pessimisten schlau. Optimisten hingegen müssen träumen – etwas, was wir Deutsche nicht so mögen. Aber genau diese Typen verändern die Welt. Deshalb ist es wichtig, über den Tellerrand zu schauen. Die meisten neuen Projekte, die ich kenne, profitieren von Exoten, die sich trauen, Dinge anders zu machen, die einen anderen Blickwinkel haben.

Dann braucht Hamburg unter anderem den Input von Menschen, die neue Blickwinkel mitbringen?
BECK: Unbedingt. Meine Schwester lebte lange Zeit erst in Sydney, dann in Melbourne. Zwei großartige Städte, die nicht zufällig eine gigantische Entwicklung hinter sich haben. Diese Städte haben Menschen aus allen Teilen des Landes und der Welt angezogen – und das verbindet. Alle fühlen sich als Melbournians, als Sydneysider, als Teil der städtischen Idee. Sie profitieren von den unterschiedlichen Einflüssen und Perspektiven. Auch in San Francisco habe ich das beobachtet. Starke Städte haben starke Bewohner, die sich mit ihrer Stadt identifizieren und wenig Angst haben vor Veränderungen. Aber wichtig: Solch ein Image muss man vermitteln und pflegen.

Wie setzt man das in die Praxis um?
BECK: Das ist etwas Grundsätzliches. Menschen müssen sich trauen, testen. Wenn es nicht funktioniert, bricht man es ab. Kein Problem. Veränderung entsteht auch durch Fehlerakzeptanz. Und natürlich die Vielfalt von Menschen und ihren unterschiedlichen Ideen.

Entstehen durch unterschiedliche Ideen und Vielfalt auch Konflikte?n?
BECK: Konfrontation ist in Zeiten von Social Media leider sogar ein anerkanntes Geschäftsmodell geworden. Jeder kann auf einer persönlichen Ebene damit viel Geld verdienen. Wir haben in vielen Bereichen einen Grad an Monetarisierung erreicht, der einzigartig ist. Und in seinen Ausprägungen Demokratie konterkariert.

Wie konnte das passieren?
BECK: Das große Versprechen des Internets aus den 90er Jahren, Demokratie für alle, hat sich nicht erfüllt. Zwar haben Internetriesen wie Google, Meta und Co. Slogans wie ,don’t be evil‘, die das einfordern, doch das Gegenteil ist der Fall. Laute Gruppen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Jeder will recht haben – in seiner Blase von Gleichgesinnten.

Was bedeutet das für ,Hamburg denkt neu‘? Wir können es sein lassen, weil wir aus Fehlern nichts lernen?
BECK: Auf keinen Fall. Dann würde der Pessimismus siegen! So sind wir Menschen aber nicht. Ja, wir tun uns schwer, Gewohnheiten und Regelmäßigkeit zu durchbrechen. Aber: irgendwann tun wir es. Und deshalb bin ich zuversichtlich, was unsere gemeinsame Zukunft betrifft. Trotz und mit KI und Social Media.

Gespräch: Martina Goy  Fotos: Fabian Vuksic