club!: Herr Grube, wie häufig im Monat sind Sie mit der Bahn unterwegs?
Rüdiger Grube: Ich versuche, die Hälfte meiner Arbeitszeit vor Ort an der Basis bei meinen Mitarbeitern und Führungskräften zu verbringen, um zu erfahren, wo der Schuh drückt. Und dazu fahre ich natürlich, wenn es irgend geht, mit dem Zug – also drei- bis fünfmal die Woche. Am häufigsten bin ich auf unserer „Rennstrecke“ Hamburg–Berlin unterwegs.

Würden Sie uns bitte drei schlagende Argumente geben, warum Bahnfahren attraktiv und empfehlenswert ist?
Sicherheit, Zuverlässigkeit und Komfort. In welchem Verkehrsmittel können Sie effektiv arbeiten, entspannt aus dem Fenster schauen, gut essen gehen, ein Buch lesen oder mit den Kindern spielen? Außerdem ist die Bahn das umweltfreundlichste Verkehrsmittel.

Die Wertschätzung der Bahn in der Bevölkerung ist trotz allem nicht besonders hoch. Ist das ungerecht?
Die Eisenbahn als Verkehrsmittel finden alle gut. Wenn es um die Deutsche Bahn als Unternehmen geht, gibt es sicherlich auch kritische Stimmen. Das mag auch daran liegen, dass die Bahn zu Behördenzeiten Teil der staatlichen Daseinsvorsorge war und von vielen heute noch so wahrgenommen wird. Da gibt es Erwartungen, die wir nicht immer erfüllen können. Aber die Imagewerte steigen kontinuierlich. Niemand wünscht sich ernsthaft die Zeiten der Behördenbahn zurück.

Viele Kunden sagen, das Reisen sei nicht komfortabel genug, die Züge seien häufig unpünktlich, zu voll oder zu warm oder zu kalt, der Service sei schlecht.
Als Dienstleister muss man jeden Tag aufs Neue Bestleistungen erbringen. Wenn etwas schief geht, dann hat der Kunde nichts davon, dass es hundertmal vorher gut geklappt hat. Er ärgert sich zu Recht und erzählt es weiter. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, beweisen die Fahrgastrekorde, die wir jeden Tag aufstellen. Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland mit dem Zug unterwegs wie 2014. Noch nie hatten so viele Menschen eine Bahncard. Und Deutschland hat mit 34 000 Kilometern Streckenlänge das dichteste Eisenbahnnetz Europas.

Tatsächlich hatte sich die Bahn 2014 zum Ziel gesetzt, dass 80 Prozent der Fernzüge pünktlich ihr Ziel erreichen – das hat nicht geklappt. Warum nicht?
Nah- und Fernverkehrszüge waren in der Summe zu 95 Prozent pünktlich – das ist ein guter Wert. Im Fernverkehr haben wir mit 77 Prozent das Ziel verfehlt. Da haben uns vor allem das Sturmtief Ela im Juni 2014 in Nordrhein-Westfalen und die langen Streiks der Lokführergewerkschaft GDL einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wären diese Ereignisse nicht gewesen, hätten wir sogar sehr viel bessere Werte als in der Planung gehabt.

Ist man als Bahnchef ein bisschen in der Rolle wie Fußball- Bundestrainer Joachim Löw – jeder der 80 Millionen Deutschen weiß im Prinzip immer alles besser?
Ich sehe das positiv. Es zeigt, dass sich alle für die Deutsche Bahn interessieren. Andere Konzernchefs würden sich darüber freuen, wenn ihr Unternehmen die gleiche Aufmerksamkeit bekäme. Aus den vielen Schreiben, die wir täglich bekommen, fische ich mir jeden Tag drei bis vier heraus und rufe die Kunden persönlich an. Ich kann dann manche Probleme lösen und viele Zusammenhänge erklären, und merke immer wieder: Kommunikation ist das A und O in unserem Geschäft.

Sie pendeln regelmäßig mit dem Zug zwischen Hamburg und Berlin. Bekommen Sie auf diesen Fahrten etwas von der Stimmung bei den Fahrgästen mit und gewinnen Sie dadurch Anregungen für Verbesserungen?
Ein klares Ja. Ich registriere, wie die Reisenden auf Durchsagen reagieren: Sind sie zu kurz oder zu lang? Ich nehme das Zugpersonal wahr: Reicht die Zeit für den Service am Platz? Ich spreche mit den Kollegen und erfahre: Ist die Unternehmensbekleidung zu warm oder zu kalt? Im Zug und auf den Bahnhöfen erfahre ich, wo der Schuh drückt. Außerdem möchte ich den Mitarbeitern zeigen, dass ich Wertschätzung und Respekt für ihre Leistungen habe. Das kann ich nicht im Berliner BahnTower tun, dazu muss ich raus an die Basis.

Die Konkurrenz an Verkehrsmitteln wächst, nicht zuletzt durch Fernbusse und preiswerte Zugangebote. Muss die Bahn in den Preiskampf einsteigen, um Kunden zu halten?
Ich bin für Wettbewerb, aber er muss zu gleichen Bedingungen stattfinden. Und Fernbusse zahlen keine Maut, während bei jeder Zugfahrt Entgelte für die Benutzung der Strecke anfallen. Das sind pro Person und Kilometer fünf bis sechs Cent, noch ohne Kosten für Personal und Strom – beim Fernbus ist das schon der Endpreis für den Kunden. Das zeigt: Auf einen ruinösen Preiskampf können und wollen wir uns nicht einlassen.

Sie sind inkognito mit dem Fernbus von Hamburg nach Berlin gefahren. Was haben Sie auf der Tour erlebt?
Ich habe mit meinem Smartphone den günstigsten Preis von zwölf Euro gebucht und saß morgens um sieben Uhr mit elf weiteren Reisenden im Bus. Die Fahrt hat deutlich länger als eine Zugfahrt gedauert, zumal der Bus noch eine Stunde Verspätung hatte. Aber ich habe gesehen, dass es Kunden gibt, für die die Reisezeit nicht das entscheidende Kriterium ist. Insgesamt kann man Busfahren nicht mit einer Fahrt im ICE oder Intercity vergleichen, denn der Zug ist deutlich komfortabler, man kann das Bordrestaurant besuchen und einiges mehr tun, was dem Buskunden verwehrt bleibt.

Ende vergangenen Jahres sickerten Pläne durch, die BahnCard abzuschaffen und durch ein neues Kundenbindungsinstrument zu ersetzen. Man las auch von Plänen, auf Nachtzüge zu verzichten oder andererseits stillgelegte Regionalstrecken wieder zu aktivieren.
Wir wären ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir einen Verkaufsschlager wie die BahnCard einstellen würden. Das war eine dreiste Falschmeldung. Bei den Nachtzügen mussten wir allerdings schweren Herzens einige Verbindungen einstellen. Sie waren wegen der Konkurrenz durch steuersubventionierte Billigflieger und Fernbusse nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben. Beim Nahverkehr haben die Bundesländer das Sagen. Die Bedienung der Strecken wird ausgeschrieben und im Wettbewerb entschieden. In den Ausschreibungen ist alles genau vorgegeben, vom Fahrplan über die Anzahl der Mitarbeiter bis zu den Haltepunkten.

Sie haben im vergangenen Jahr 20 Mitarbeiter ins Silicon Valley geschickt. Sie sollten nach Lösungen für Ihr Unternehmen suchen. Was haben die Kollegen gefunden?
Sie sollten erkunden, welche Innovationen die Mobilität verändern werden. Das Stichwort heißt Mobilität 4.0. Die Verknüpfung von realer und virtueller Welt nimmt immer stärker Einfluss darauf, wie wir wohnen, reisen oder die Freizeit gestalten. Das Gute ist, dass wir nicht bei Null anfangen. Schon heute werden jeden Tag drei Millionen Reiseauskünfte über das Internet abgerufen. Auch in der Logistik ist Big Data längst Realität. Aber wir müssen
noch mehr daraus machen, denn Daten sind der Rohstoff der Zukunft. Diesen Aufbruch ins digitale Zeitalter werden wir selbst aktiv gestalten. Wir wollen Treiber und nicht Getriebener sein.

Glauben Sie, dass sich die Menschen in Zukunft mehr von Ort zu Ort bewegen oder ist vielleicht das Gegenteil der Fall? Weil sie dank besserer Kommunikationsmittel nicht mehr jeden Tag ins Büro fahren, sondern daheim arbeiten?
Ich bin überzeugt, dass die Mobilität weiter zunehmen wird, trotz Homeoffice und Videokonferenzen. Das ist kein Zweckoptimismus des Bahnchefs, der auf volle Züge hofft, sondern meine feste überzeugung. Das persönliche Gespräch, der Kontakt von Angesicht zu Angesicht, ist auch in Zukunft nicht durch Technik zu ersetzen. Außerdem wird man die Fahrt im Zug immer besser auch als Arbeitszeit nutzen können. So ist die Umrüstung von
255 ICE-Züge zu rollenden Hot Spots fast abgeschlossen. Das 5200 Kilometer lange ICE-Netz ist komplett mit WLAN-Sendern ausgerüstet. Wir beobachten, dass der Stellenwert eines eigenen Autos für junge Menschen, vor allem in den Ballungsgebieten, immer weiter sinkt. Auch beobachten wir, dass für Schüler das Smartphone immer wichtiger wird.

Wenn wir an Zukunftsmobilität denken, reden wir von selbst fahrenden Autos, Urlaubsreisen ins All, über die Wiederauferstehung von Passagierflugzeugen, die schneller sind als der Schall. Wie sieht Bahnfahren in Utopia aus?
Wir erleben im Zuge der Digitalisierung den größten Umbruch seit der Bahnreform im Jahr 1994. Die digitale Welt der Bahn bietet unerschöpfliche Potenziale zur Steigerung von Qualität und Effizienz, von denen unsere Kunden, Mitarbeiter und die Umwelt gleichermaßen profitieren werden. Jede Fahrt mit dem Auto verursacht im Durchschnitt das Dreifache an Kohlendioxid im Vergleich zum Zug, das Flugzeug sogar ein Vielfaches. Insbesondere
im Güterverkehr ist die Schiene der mit Abstand umweltschonendste Verkehrsträger. Schon heute wird die S-Bahn Hamburg vollständig mit Strom aus regenerativen Energiequellen betrieben. Mit der BahnCard oder einer Streckenzeitkarte fährt man im ICE oder Intercity schon heute mit 100 Prozent Ökostrom. Den Umweltvorteil der Schiene werden wir weiter ausbauen. So wird bis 2020 der Ökostromanteil am Bahnstrommix auf über 40 Prozent steigen.

Zuletzt hat sich Deutschland sehr schwer getan, große Bauprojekte zu realisieren. Dazu gehört der Berliner Flughafen, die Elbphilharmonie in Hamburg, aber auch der Stuttgarter Bahnhof. Ist das ein grundsätzliches, gesellschaftlich-politisches Problem oder ist jeder Einzelfall anders?
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Großprojekte haben sich stark verändert. Frühe Öffentlichkeitsarbeit, Offenheit und Transparenz sind der Schlüssel zum Erfolg. Diese Lektion haben wir aus „Stuttgart 21“ gelernt.
Das setzen wir zum Beispiel bei den Planungen für die Neu- und Ausbaustrecke Hamburg/Bremen-Hannover um, der sogenannten Y-Trasse. Zusammen mit dem Land Niedersachsen haben wir ein Dialogforum gestartet und informieren politische Mandatsträger, Bürgerinitiativen und Verbände in zahlreichen Veranstaltungen über die aktuelle Machbarkeitsstudie mit ihren verschiedenen Streckenvarianten. Alle sind sich einig, dass für die wachsenden Seehafen-Hinterlandverkehre die Schieneninfrastruktur wachsen muss. Nun führen wir den Dialog darüber, wie das am sinnvollsten geschehen kann.

Als gebürtigem Hamburger vermuten wir bei Ihnen durchaus eine Affinität zur Hansestadt.
Ich bin auf einem Bauernhof in Moorburg aufgewachsen und habe in Finkenwerder Flugzeugbauer gelernt. Mein oberster Chef, Werner Blohm, hat mich dann gefördert. Mit seiner Hilfe konnte ich mein Abitur nachholen und in Hamburg studieren. Später habe ich bei der Deutschen Airbus gearbeitet. Ich bin also in der Hansestadt tief verwurzelt.

Und drücken jetzt Hamburg die Daumen für die Olympia-Bewerbung?
Jetzt darf ich nicht in die Falle tappen, denn es bewirbt sich ja auch Berlin, wo wir unseren Unternehmenssitz haben. Da bin ich natürlich zu Neutralität verpflichtet. Aber eins verspreche ich: Die Stadt, die sich durchsetzt, werden wir mit aller Kraft unterstützen, denn zu gelungenen Spielen gehört immer ein leistungsfähiger öffentlicher Personenverkehr. Bei der Fußball-WM 2006 haben wir das schon einmal erfolgreich bewiesen.

Wie wichtig ist die Bahn für den Standort Hamburg?
Hamburg ist mit 9000 Mitarbeitern ein ganz besonderer und großer Standort. Der Hauptbahnhof ist mit täglich 500 000 Reisenden der meistfrequentierte deutsche Bahnhof. 1350 Mitarbeiter sorgen für einen reibungslosen Betrieb. Auf 14 Gleisen fahren täglich über 800 Fern- und Regionalzüge sowie 1200 S-Bahnen. In Maschen, vor den Toren der Stadt, steht der größte Güterbahnhof Europas, den wir gerade für 230 Millionen Euro modernisiert haben. Der Hamburger Hafen ist unvorstellbar ohne die Schiene. Wir transportieren jedes Jahr über 25 Millionen Tonnen Güter.

Wie sehen Sie die Rolle der Bahn beim Wachstum des Wirtschaftsstandorts Hamburg?
Das prognostizierte Wachstum im Güter- und Personenverkehr kann ökologisch sinnvoll nur auf der Schiene bewältigt werden. Die Bahn ist also Motor und Lebensader für die dynamische Entwicklung der Hansestadt. Während die Y-Trasse noch im Planungsstadium ist, bauen wir für den Güterverkehr schon ganz konkret den sogenannten Ostkorridor aus. Das ist eine Trasse, die von den deutschen Seehäfen über Uelzen, Stendal, Magdeburg und Halle in Richtung Hof und Regensburg führt. Auch hier gilt: Der Ausbau vorhandener Strecken hat Vorrang vor prestigeträchtigen Neubauten.

Aber den Altonaer Bahnhof wollen Sie neu bauen.
Ja, aber mit hanseatischem Understatement: kein Protzbau, sondern modern und funktional. Die Planungen für den neuen Bahnhof Hamburg Altona am Standort Diebsteich haben schon begonnen. Der S-Bahnhof Altona, bleibt wo er ist, aber die 13 Hektar großen Flächen der Gleisanlagen des Fernbahnhofs hat die Hansestadt gekauft. Im Herzen von Altona wird ein Stadtquartier mit rund 2000 weiteren Wohnungen, Grün- und Freiflächen entstehen.

Was wird aus dem Hauptbahnhof? Der platzt schon jetzt zu
Stoßzeiten aus allen Nähten.

Das stimmt. Bisher müssen die Züge nach den Halten im Hauptbahnhof und in Dammtor im Kopfbahnhof Altona die Fahrtrichtung wechseln, um ins Werk Eidelstedt zu fahren. Mit dem Durchgangsbahnhof in Diebsteich entfällt dieses aufwändige Manöver. Die Wege der Züge kreuzen sich nicht mehr – dadurch werden auch die Gleise im Hauptbahnhof entlastet. Auch die Planungen für die S4 sind ein wichtiger Schritt in die Zukunft.

Herr Grube, verreisen Sie eigentlich gern? Was bedeutet Ihnen das Reisen?
Ich bekomme den Kopf frei und eine andere Sicht auf die Dinge des Alltags. Das ist wichtig, wenn man einen 18-Stunden-Tag hat. Aber ehrlich gesagt: Ich verreise zu selten. Dafür laufe ich jeden Tag morgens eine Stunde und mache regelmäßig Halbmarathon. Das ist ein wichtiger Ausgleich.

RÜDIGER GRUBE, 63, ist in Hamburg-Moorburg geboren. Nach einer Ausbildung zum Flugzeugbauer studierte er an der Fachhochschule Hamburg (heute HAW Hamburg) Flugzeugbau. Im Anschluss an ein Zusatzstudium in Berufs- und Wirtschaftspädagogik arbeitete er als Berufsschullehrer und war Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. 1989 ging er in die Wirtschaft – unter anderem zu MBB, DASA und Daimler-Benz. Am 1. Mai 2009 übernahm er von Hartmut Mehdorn das Amt des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG.