Ob als Fußballspieler, Manager, TV-Experte, Rechtehändler – Günter Netzer spielte immer in der ersten Liga. Ein Gespräch über richtige Zeitpunkte zum Aufhören, Disziplin am Roulettetisch, Hamburg und den HSV sowie WM-Fachgespräche mit seiner Frau.

„Na, Sie sind gut!“ Günter Netzer beim Gespräch auf der Terrasse des Club Baur au Lac in Zürich. Zum Glück hatte das club!-Magazin zwei männliche Interviewer geschickt, denn Frauen haben in dem altehrwürdigen Wirtschaftsclub nach englischem Vorbild keinen Zutritt.

club!: Herr Netzer, wie viel im Leben eines Fußballprofis ist Arbeit und wie viel bleibt immer ein Spiel?
Günter Netzer: Für einen erfolgreichen Fußballspieler muss bis zum Ende seiner Karriere das Spiel im Vordergrund stehen. Sobald er es als Arbeit, also als notwendiges übel betrachtet, wird er keinen Erfolg mehr haben. Nur wenn er sich Enthusiasmus, Leidenschaft und Freude bewahrt, kann er zeit seines Lebens eine überragende Rolle spielen.

club!: Sprechen Sie auch von eigenen Erfahrungen?
Netzer: Selbstverständlich. Ich werde mein Leben lang im Geiste ein Fußballspieler bleiben. Heute ist das beste Beispiel Messi. Er ist der vielleicht reichste Fußballer aller Zeiten und er will nichts anderes als spielen. Wie ein junger Hund. Er hat fünf Jahre am Stück keine schlechte Leistung gezeigt. Das ist überragend.

club!: Ging und geht es Ihnen nur um den Fußball oder haben Sie generell Spaß am Spiel?
Netzer: Zu meiner Zeit als Manager des HSV bin ich mit unserem Trainer Ernst Happel gern ins Kasino gegangen. Wir haben teilweise sogar die Trainingslager danach ausgesucht, wo es die wunderbarsten Kasinos gab. Waren die Spieler abends im Bett, sind Happel, unser Co-Trainer Aleksandar Ristic und ich Roulette spielen gegangen.

club!: Würden Sie sich als Zocker bezeichnen?
Netzer: Nein, das war nicht krankhaft, es war die Freude am Spiel. Und es war sehr imponierend, Happel beim Spielen zuzusehen. Er war im Kasino, wie er als Trainer war: ein disziplinierter Spieler, der seine Grenzen kennt, im Gewinn wie im Verlust.

club!: Auch Sie waren vermutlich sehr diszipliniert am Tisch?
Netzer: Ja. Natürlich wurde nicht so viel aufs Spiel gesetzt, aber man wollte ja dem Kasino trotzdem nicht erlauben, dass es einem das Geld wegnimmt. Sportler sind keine guten Verlierer.

club!: Heutzutage wird vornehmlich am Computer gespielt. Es gibt Spiele im Internet, bei denen 50 Millionen Menschen auf der Welt mitspielen. Können Sie das verstehen?
Netzer: Natürlich nicht, aber das muss ja auch nicht sein. Ich stehe mit Fassungslosigkeit vor diesem Phänomen, aber auch mit Begeisterung. Für mich bleibt diese Welt verschlossen, ich bin da völlig unbrauchbar. Aber ins Kasino gehe ich heute noch hin und wieder gern.

club!: Die Kasinobesuche mit Ernst Happel fallen in eine Zeit, in der Sie als Manager dem HSV Ruhm und Ehre beschert haben. Wie sehen Sie heute die Situation Ihres ehemaligen Vereins?
Netzer: Es hat mich fassungslos gemacht, was sich die Mannschaft am Ende der Saison erlaubt hat. Ich war entsetzt, wie Spieler die eigenen Karrieren, den Verein, einfach alles aufs Spiel gesetzt haben. Das bestärkt mich in meiner Meinung, dass man heute Spieler nicht mehr allein nach ihren fußballerischen Möglichkeiten verpflichten darf. Man muss sie inzwischen nach ihren charakterlichen Fähigkeiten aussuchen. Zwei oder drei charakterlich nicht einwandfreie Spieler machen aus einer Mannschaft oder einem Verein ein Irrenhaus.

club!: Woran liegt das?
Netzer: Die Macht ist in die falschen Hände geraten. Spieler werden heutzutage in einem Maße bezahlt, wie nie zuvor. Ich habe kein Problem damit, dass große Stars überdimensional bezahlt werden. Das heiße ich eher gut, als dass ich es verurteile, denn sie sind ihr Geld wert. Das Problem sind die Durchschnittsspieler. Sie sind eigentlich nicht zu finanzieren und schaden dem ganzen Gebilde.

club!: Inwiefern?
Netzer: Der Verein hat keine Möglichkeit mehr, etwas gegen Spieler zu unternehmen, wenn sie Verfehlungen begehen. Bestrafungen haben früher Wirkung gezeigt, heute zeigen sie keine Wirkung mehr. Deshalb muss man darauf achten, einen charakterlich einwandfreien Spieler zu verpflichten, der seine Aufgaben dementsprechend erfüllt.

 

club!: Hätten Sie nicht Lust, beim Hamburger SV noch einmal alles in die Hand zu nehmen und so richtig auszumisten?
Netzer: Das maße ich mir nicht an zu beurteilen. Ich sehe, dass es viele Defizite gibt. Ob es aber damit getan ist, auf einige Spieler zu verzichten, kann ich nicht sagen. Sie haben Gott sei Dank die Unterstützung der Fans, die zu keinem Zeitpunkt besser war als jetzt. Wir waren zu meiner Zeit Europapokalsieger und Deutscher Meister und hatten einen Zuschauerschnitt von 23.000. Heute liefert die Mannschaft schockierende Leistungen und 56.000 Menschen unterstützen sie.

club!: Sind Sie eigentlich in der aktuellen Situation noch einmal um Hilfe gebeten worden?
Netzer: Nachdem ich 1986 gegangen bin, habe ich gesagt, man wird mich nie mehr im Fußball sehen. Der Fußball hat alle meine Energien abgesaugt. Das musste ich einige Male wiederholen. Dann hatten es alle verstanden. Es war damals die richtige Entscheidung und heute erst recht.

club!: Dass Sie mit Ihrer Expertise helfen könnten, steht aber nach wie vor außer Zweifel. Netzer: Ich könnte ihnen nicht helfen. Ich habe diesen Elan längst nicht mehr, dass ich Gutes bewirken könnte. Was ich aus der Ferne tue, ist Theorie und Analyse. Das heißt keineswegs, dass die tägliche Arbeit genauso gut aussehen würde.

club!: Der Hamburger SV setzt jetzt auf die Ausgliederung des Profifußballs und auf Investoren. Ist das der richtige Schritt?
Netzer: Ja, ein sehr guter Weg. Sie setzen auf sportliche Kompetenz, andere Strukturen, die unbedingt notwendig sind. Das war ein großer Schritt in die richtige Richtung, das kann man nicht anders sagen.

club!: Doch: Die Kritiker dieses Wandels behaupten, Vereine, die auf Investoren wie den Milliardär Klaus-Michael Kühne setzen, verkauften die Seele ihres Klubs.
Netzer: Es ist nicht unbedingt ein Allheilmittel, wenn Investoren von draußen erscheinen, den Verein mit sehr viel Geld ausstatten und glauben, man gewinnt sofort die Meisterschaft. Das ist nicht gewährleistet. Mehr Geld erzeugt aber eine qualitativ bessere Mannschaft. Dazu braucht man dann natürlich einen erstklassigen Trainer, der das vorhandene Potential bearbeiten kann. Das hat der HSV über Jahrzehnte versäumt. Und deswegen befinden sie sich jetzt in dieser Situation. Da kann nicht mehr über Nacht ein Mäzen kommen, Geld investieren und das Ding fängt wieder an zu laufen. Das ist nicht möglich, eigentlich Gott sei Dank nicht möglich.

club!: Warum ist es in Hamburg eigentlich schwierig, finanzkräftige Partner oder Sponsoren zu finden?
Netzer: Als ich 1978 nach Hamburg kam, bin ich auf der Suche nach Sponsoren tapfer durch die Gegend gezogen. Dabei habe ich auch hin und wieder einen Reeder getroffen oder andere honorige hanseatische Kaufleute. „Was wollen Sie, junger Mann“, haben die mich gefragt, „uns für Fußball interessieren?Wir sind ein 200 Jahre altes Unternehmen, wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, uns mit diesem Anliegen zu belästigen?“ Das war in der damaligen Zeit undenkbar. Die Wirtschaft in dieser wunderbaren Stadt hat sich für Fußball nicht interessiert.

club!: Weil der Fußball nicht akzeptiert war?
Netzer: Es gab große Zweifel am Fußball. Es war alles noch nicht fein genug. Nicht wie heute, wo auch große Industriekapitäne regelmäßig Fußballspiele besuchen und mitreden wollen. Der Fußball hat einfach eine ganz andere Bedeutung bekommen. Deshalb ist es heute einfacher, Sponsoren zu finden.

club!: Dennoch scheint der HSV im Augenblick für Unternehmen nicht so richtig sexy zu sein?
Netzer: Der HSV hat grandiose Erfolge aus der Vergangenheit vorzuweisen, aber dafür kriegt man heute nichts mehr. Auch Unternehmen sind gern auf der Gewinnerseite. Wenn es nicht läuft und der Erfolg ausbleibt, möchte man nicht mehr dazugehören.

club!: Vermissen Sie eigentlich Hamburg, die Stadt, in der Sie acht Jahre gelebt haben?
Netzer: An meinem letzten Tag sind meine Frau und ich am Dammtor vorbeigefahren, meine Frau tränenüberströmt, dass wir diese Stadt verlassen mussten und wollten. Auch ich habe mich schwer getan. Hamburg ist eine Stadt, die mir sehr gelegen hat. Ich bin eher zurückhaltend und habe dort Menschen gefunden, die meinem Charakter entsprachen. Wir leben sehr zurückgezogen, auch wenn wir manchmal in der Öffentlichkeit stehen. Aber wir besuchen selten Veranstaltungen.

club!: Ein bisschen wie die Schweiz?
Netzer: Auch die Schweizer geben uns eine gewisse Anonymität, allen bekannten Menschen, denn hier leben wesentlich berühmtere Menschen als ich.

club!: Ihren Einstieg in die Glamourwelt des Fernsehens, der nach Ihrem Ausscheiden beim Hamburger SV folgte, hatte man von Ihnen als reserviertem Menschen eher nicht erwartet.
Netzer: Ich wusste, dass ich die Fernsehwelt nicht so erleben werde, wie Sie es jetzt beschreiben. Das hätte überhaupt nicht meinem Naturell entsprochen. Ich habe meine Stärke ausgenutzt, um über Fußball zu sprechen, und nicht über Dinge, denen ich nicht gewachsen war. Mit Gerhard Delling hatte ich zudem einen Partner, auf den ich mich hundertprozentig verlassen konnte. Es bestand nie die Gefahr, dass ich in die so genannte Fernsehwelt hineingezogen würde, die mir nicht gefällt. Ich wusste immer, was ich kann, und erst recht, was ich nicht kann. Das ist ein abgedroschener Satz, aber fundamental wichtig, dass man das für sich erkennt.

club!: Ihre Popularität ist heute, 40 Jahre nach der Karriere als Fußballspieler, gut 30 Jahre nach Ihrer Zeit als Bundesliga- Manager und vier Jahre nach Ihrer TV-Karriere noch immer unglaublich hoch.
Netzer: Ist das so?

club!: Das ist so.
Netzer: Eine Fernsehtätigkeit hat eine anhaltende Wirkung. Durch meine Tätigkeit als Fußballspieler, auch als Manager, habe ich darüber hinaus einen Bonus gehabt. Die Leute vor dem Fernseher haben gesagt, dem hören wir ganz gerne zu. Als ich 1998 anfing, hat man von mir mit einer bis dahin nicht dagewesenen Klarheit gehört, wo die Defizite im deutschen Fußball liegen. Das war absolut neu. Bis dahin hatten alle fernsehtauglich gesprochen, diese Gefahr bestand bei mir nicht. Ich habe nicht polemisiert oder beleidigt. Aber ich habe die Dinge klar angesprochen, wie der Zuschauer vor der Kiste sie auch sah – und entsetzt war über die Reporter, die sich nicht trauten, es zu sagen, oder es nicht erkannten. Das war ein wichtiger Abschnitt für meine Popularität, weil der Zuschauer auch merkte, dass ich absolut authentisch bin.

club!: Ihr Ende als Kommentator bei der Weltmeisterschaft vor genau vier Jahren, erschien wie der Rücktritt auf dem Höhepunkt, war aber vermutlich sehr wohl kalkuliert.
Netzer: Ich habe eigentlich alle meine Karrieren zu früh beendet, aber für mich war es immer der richtige Zeitpunkt. Ich habe zu viele Menschen erlebt, in verschiedenen Genres, Filmschauspieler, Musiker, Fußballspieler, die man mit dem Lasso von der Bühne holen musste, weil sie den Zeitpunkt des Aufhören verpasst hatten – aus lauter Angst vor dem tiefen Loch der Bedeutungslosigkeit, in das sie unter Umständen zu fallen drohten. Das ist dann sehr peinlich, wenn einen keiner mehr sehen will, aber man immer noch präsent ist. Ich wusste, dass mir das nie passieren wird.

club!: Es gab für Sie nie ein Comeback, nicht als Fußballspieler, nicht als Manager, nicht als Fernsehkommentator.
Netzer: Es ist nie passiert. Und wer meinen Charakter kennt, der weiß, es bestand auch nie die Gefahr. Wenn Schluss war, war Schluss. Es gab kein Zurück. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Das gibt es ja bei Menschen, dass sie plötzlich merken, dass sie mit ihrem Rücktritt eine furchtbare Fehlentscheidung getroffen haben.

club!: Haben Sie immer alles richtig gemacht oder gibt es doch versteckte Ecken in Ihrem Leben, in denen ein paar Zweifel zurückgeblieben sind?
Netzer: Die gab es ganz, ganz selten. Nicht weil ich so überzeugt meine, dass ich ein toller Mensch bin. Ich gehe an Dinge, die ich tue, sehr klar heran. Es dauert lange, bis ich sie überhaupt mache, aber dann mache ich sie mit den notwendigen und für mich selbstverständlichen Attributen aus Wissen, Disziplin und Spaß. Nein, in meinem Leben ist alles sehr, sehr gut verlaufen, ich habe keine Defizite.

club!: Wie sieht Ihr Arbeitsalltag denn heute aus? Sitzen Sie auch einmal acht Stunden am Schreibtisch?
Netzer: Das hat es schon immer sehr selten gegeben, ich bin auch nicht besonders gut geeignet dafür. Ich gehe in die Firma, wann ich will, aber ich gehe vor allem auch raus, wann ich will. Unabhängigkeit war mir in meinem Leben immer das Wichtigste. Ich habe mich schon unabhängig verhalten, als ich noch gar nicht unabhängig war. Wobei Unabhängigkeit nicht gleich Faulheit ist. Wenn gearbeitet werden muss, kann ich das sehr gut.

club!: Die Fußball-Weltmeisterschaft jetzt in Brasilien ist die erste nach fast zwei Jahrzehnten, bei der die deutschen Fernsehzuschauer auf Ihre Analysen verzichten müssen. Wo sind Sie, wenn der Ball rollt?
Netzer: Nicht in Brasilien. Da ist mir zu viel Trubel, das habe ich oft genug miterlebt. Diese WM findet ohne mich statt.

club!: Können Sie uns dennoch sagen, wie die Chancen der deutschen Mannschaft auf den Titel sind?
Netzer: Was wir zur Verfügung haben, ist ein erstklassiger Kader, der beste, den wir je hatten. Das ist nicht nur ein Bauchgefühl, sondern eine Analyse. Leider heißt das in Bezug auf den Titelgewinn überhaupt nichts. Jetzt müssen die Spieler eine überragende Form finden. Sie müssen sich von Spiel zu Spiel steigern, sie müssen Rhythmus entwickeln, und die besten von ihnen müssen in ihre beste Form kommen – das ist die Bedingung, um ins Finale zu kommen oder sogar Weltmeister zu werden.

club!: Wie schwierig ist es, etwa die Spielphilosophien von Bayern- Trainer Pep Guardiola und Dortmunds Coach Jürgen Klopp unter einen Hut zu bringen?
Netzer: Joachim Löw ist in der glücklichen Lage, aus diesen großartigen Mannschaften eine Nationalelf nach seinen Ideen zu komponieren. Das ist eine sehr schöne Aufgabe.

club!: Und Sie sitzen zu Hause auf dem Sofa. Wie ist das, wenn Sie Fußball im Fernsehen schauen?
Netzer: Ich bin ganz ruhig. Meine Frau behindert mich etwas, sie spricht neuerdings über Fußball. Das bin ich nicht gewohnt. Und was mich dabei am meisten erstaunt: Wenn sie sagt, was ihr nicht gefallen hat und wie sie einige Spieler einschätzt, da muss ich sagen: Manchmal bin ich dann doch sehr überrascht, was sie mit dieser treffsicheren weiblichen Intuition so alles erkennt.

club!: Was sagt denn Ihre Frau: Wer wird in diesem Jahr Weltmeister?
Netzer: Also hören Sie mal! Jetzt reicht’s.

 

GüNTER NETZER, 69, ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten des Fußballs. Er spielte von 1963 bis 1977 für Borussia Mönchengladbach, Real Madrid und Grashopper Zürich, mit denen er zahlreiche Titel gewann. Mit der Nationalmannschaft wurde er Welt- (1974) und Europameister (1972). Von 1978 bis 1986 führte er als Manager den HSV zu drei Meisterschaften und dem Sieg im Europapokal der Landesmeister (1983). Von 1998 bis 2010 kommentierte er mit Gerhard Delling in der ARD die Fußballspiele der Nationalmannschaft. Dafür erhielt er den Grimme-Preis (2000). Heute ist Netzer Medienunternehmer. Bei der Marketing- und Fernsehrechtehändlerin Infront Sports & Media AG (500 Mitarbeiter, geschätzte 300 Mio. Euro Jahresumsatz) ist er Teilhaber und Executive Director. Netzer wohnt mir seiner Frau, dem ehemaligen Model Elvira Lang, und der gemeinsamen Tochter Alana in Zürich.

Interview: Andreas Eckhoff, Achim Schneider       Fotos: Ivo von Renner