Es ist viel los für ULRICH TUKUR. Sein neuer Film ist fertig, er ist im „Tatort“ zu sehen und hat ein Buch geschrieben. Zudem denkt er an einen Umzug: Hamburg oder Berlin statt Venedig. Seine Frau sagt Berlin, er Hamburg. Mal sehen, was passiert.

club!: Herr Tukur, in Ihrem neuesten Film „Houston“ geht es um einen ehemals erfolgreichen Headhunter, der an seinem Job zugrunde geht. Ein ziemlich beklemmender Film.
Tukur: Es ist ein todtrauriger Film. Unser Mann steckt, wie viele andere Menschen auch, in Strukturen, die er nicht mehr überblickt. Die Erwartungen und das Tempo sind hoch, er muss liefern. Und er kann es nicht. Er hat Angst, hält dem Druck nicht mehr stand und geht langsam, aber sicher kaputt. Der Film ist eine Parabel auf unser Leben und die gnadenlose Arbeitswelt, in der viele stecken.

club!: Die meisten versuchen, wie Ihr Held Trunschka, verzweifelt die Fassade aufrechtzuerhalten, aber dahinter zerbröckelt alles.
Tukur: Und dann kippt man die Nöte mit Alkohol oder Tabletten zu. Die halbe Menschheit schluckt irgendetwas, nur um dem mörderischen Druck eines Systems standzuhalten, das außer Kontrolle geraten ist. Der Film zeigt Menschen in einem Wirtschaftssystem und in Lebensumständen, die nicht mehr menschlich sind.

club!: Beklemmend sind in dem Film viele kleine Szenen, in denen Trunschka, der Headhunter, nichts mehr hinbekommt. Man fragt sich, wie der mal erfolgreich gewesen sein kann.
Tukur: Der ist nicht mehr in der Realität. Schon als der Film beginnt. Er ist außer sich, einfach nicht mehr da.

club!: Sie drehen Filme für Kino und Fernsehen, schreiben, machen Musik. Sie sagen auch selbst, dass Sie sich schwer damit tun, Nein zu sagen und sich oft viel zu viel aufladen – so wie Trunschka. Stimmt das?
Tukur: Ich kenne das. Natürlich. Nur ist es bei Trunschka so, dass er Dinge tut, die ihn nicht ausfüllen und unglücklich machen. Er sieht keinen Sinn mehr in seiner Tätigkeit und seinem Leben. Bei mir hingegen ist es so, dass ich im Wesentlichen glücklich bin mit dem, was ich machen darf. Und es ist zu 80 Prozent ein guter Stress.

club!: Wie begegnen Sie den restlichen 20 Prozent?
Tukur: Natürlich befinde auch ich mich in Strukturen, die ein Tempo angenommen haben, das ich nicht immer mithalten kann. Da haben Sie recht. Und das ist nicht gut. Da muss man raus. Deshalb habe ich jetzt Stopp gesagt. In diesem Jahr mache ich nichts mehr. Und in den ersten drei Monaten im nächsten Jahr werde ich ebenfalls müßig sein. Ich hatte für eine Fernsehserie bei dem amerikanischen Sender HBO unterschrieben, aber die ist kurzfristig gekippt worden. Ich bin eigentlich ganz froh darüber.

club!: Das heißt, Sie haben jetzt erst einmal Pause.
Tukur: Ich kann mich hinsetzen und anfangen, ein neues Buch zu schreiben. Das ist wunderbar, denn die Geschichte habe ich schon im Kopf.

club!: Einfach nur Pause machen und stillsitzen können Sie also nicht?
Tukur: Nein. Stillsitzen kann ich nicht. Da habe ich irgendeinen körperlichen oder geistigen Defekt. Die Fähigkeit, von mir abzusehen, mich auszuruhen und stundenlang den Wolken nachzuschauen, ich hab’ sie nicht. Ich finde nichts entsetzlicher, als am Strand in einem Liegestuhl zu sitzen, das blaue Meer vor mir und die südliche Sonne über mir, rechts und links Palmen – das halte ich keine zwei Minuten aus.

club!: Wie sieht denn für Sie ein entspannter Tag aus?
Tukur: Für mich ist Entspannung, wenn ich mich bewege. Möglichst ohne Ziel. Zuhause in Venedig fahre ich mit dem Boot, der Linie 4.1, zum Lido, laufe einmal quer über die Insel und dann den ganzen Strand hinauf nach San Nicolò. Danach geht’s wieder zurück und hinein in eine nette Trattoria. Wenn ich dann am Abend wieder zu Hause bin, sind gut fünf Stunden vergangen. Und es war ein schöner, entspannter Tag.

club!: Gehört dazu auch ein gutes Glas Rotwein?
Tukur: Selbstverständlich. Ein einfacher Fasswein aus dem Veneto. Der schmeckt gut, ist leicht und tut dir nichts. Den kann man auch in größeren Mengen zu sich nehmen.

club!: Sie haben in der Toskana auch einen malerischen Bauernhof. So ein Haus müsste doch der perfekte Ort zum Entspannen sein?
Tukur: Wenn Sie ein solches Haus haben, sind Sie nie wirklich entspannt. Ich wusste vorher nicht, wie sehr man zum Opfer eines Hauses werden kann. Dort ist einfach immer etwas kaputt, Sie müssen dauernd irgendetwas tun, Sie haben immer Sorgen. Hätte ich vorher gewusst, was da auf mich zukommt mit diesen ganzen Renovierungsarbeiten, ich hätte es nie getan. Wenn Sie wirklich entspannen wollen, verkaufen Sie Ihren Besitz.

club!: Haben Sie denn ein Händchen fürs Handwerken?
Tukur: Nicht wirklich. Ich bin weder Bastler noch Landmann und einen grünen Daumen habe ich vermutlich auch nicht.

club!: Dann sind Sie ja der richtige Typ für dieses Projekt.
Tukur: Es war der typisch romantische Traum eines Großstädters. Es ist nur kein Traum geblieben, ich habe versucht, ihn zu realisieren.

club!: Und nun?
Tukur: Man müsste sich mit Leuten zusammentun, die etwas davon verstehen. Es wäre ja schade drum, denn es ist schon einzigartig schön. Aber vielleicht passiert ja noch etwas ganz Unvorhergesehenes.

club!: Es klingt ein bisschen so, als ob es irgendwann auch sein könnte, dass Sie Ihre Zelte in Italien abbrechen.
Tukur: Man kann auch alles wieder verkaufen. Und vielleicht zurück nach Hamburg gehen.

club!: Ist eine Rückkehr in die Stadt Ihrer Anfänge für Sie eher eine Idee oder schon ein konkreter Plan?
Tukur: Ich lebe jetzt 14 Jahre in Italien. Es war eine sehr schöne Zeit und wir haben viele wundervolle Freunde gefunden und unser Leben dort auch gemeistert. Nur wird mich der Tod in Venedig sicher nicht ereilen. Ich habe manches Mal Heimweh. Und dann eben nach der Stadt, in der ich meine Karriere begonnen habe und die mir so viel gegeben hat.

club!: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an Hamburg und St. Pauli denken, dort wo Sie lange gelebt haben?
Tukur: Aus der Distanz wird die Stadt noch schöner, als sie es ohnehin ist. Ich liebe die hanseatischen Traditionen, das Understatement und die Weltoffenheit dieser Hafenstadt, die vielen Lieder, die hier entstanden sind. Ich liebe die Hafenarbeiterkultur, die es einmal gab und heute noch aus der Vergangenheit herüberstrahlt. Hamburg ist eine starke Stadt mit einem substantiellen, stolzen Bürgertum. Das unterscheidet sie von Berlin.

club!: Das klingt nach einer Liebeserklärung.
Tukur: Wir wissen ja alle, dass Hamburg die schönste deutsche Großstadt ist. Ich habe lange an der Grenze von St. Pauli und Altona gelebt. Und wenn ich könnte, würde ich dort wieder hingehen. Nur haben sie mein kleines Märchenhaus, das auf dem Hinterhof eines Autohändlers stand, schon lange abgerissen. Vieles hat sich verändert, das Gesicht der Stadt wandelt sich, denn alles fließt. Das alte St. Pauli, dessen letzten Nachklang ich noch erleben durfte, als ich 1985 nach Hamburg kam, ist verschwunden. Aber ich bin dankbar, dass ich Erna Thomsen vom „Silbersack“ kennengelernt habe und uns eine lange Freundschaft verband, und bin froh über die vielen unvergesslichen Nächte im „Schlußlicht“ und anderen Kaschemmen, die originellen Typen, die es gab, die noch auf See gewesen waren und jetzt an der Buddelflasche hingen. Ich hab’ sie alle in mein Herz geschlossen. Und auch das ist Hamburg für mich.

club!: Wie sehen Sie Hamburg als Filmstadt?
Tukur: Hamburg hätte natürlich ebenso eine Filmstadt werden können wie Paris, Berlin oder München. Ist sie aber nicht. Wahrscheinlich waren die Theater und die Oper wichtiger und die Bereitschaft, in eine cineastische Infrastruktur zu investieren, nicht so hoch. Aber es gibt ja das Hamburger Filmfest und Werner Grassmanns Abaton. Immerhin.

club!: Mangelt es an Attraktivität für Filmemacher und Schauspieler?
Tukur: Nein. Hamburg ist eine extrem attraktive Stadt. Ich weiß nicht, warum dort nicht Filmstudios funktionieren sollten, die auch internationale Künstler anziehen. Dass das in der Tat nicht so ist, hat viele Gründe. Wir Deutschen sind kein Kinovolk, wir sind eher ein Fernsehvolk. In Paris stehen vor jedem Kino Menschenschlangen, auch vor anspruchsvollen, schwierigen Filmen.

club!: Die Franzosen haben eine cineastische Kultur, die wir nicht haben.
Tukur: Nicht mehr haben. Das hat mit unserer jüngeren Geschichte zu tun und Teil dieser Geschichte ist auch Hamburg. Das deutsche Kino hat sich von der nationalsozialistischen Katastrophe nie erholt. Es braucht Zeit, manchmal viele Generationen, etwas Großes aufzubauen, und im Handumdrehen kann man es wieder zerstören. Ist aber einmal eine Tradition verschwunden, kann man sie nicht mehr zurückholen. Frankreich hat diesen Kulturbruch nicht erlebt. Mit dem Ergebnis, dass dort heute noch entsprechend produziert wird. Und dass es ein gebildetes Publikum gibt.

club!: Wie sondieren Sie Ihre Projekte?
Tukur: Ich bekomme Drehbücher zugeschickt. Nicht üppig viele, aber meist interessante. Die Geschichte, die erzählt werden soll, und das Drehbuch sind das A und O eines Filmprojekts. Sie sehen sehr schnell, ob das eine Chance hat, ob es in Ihnen etwas auslöst, und dann machen Sie es oder lassen es bleiben. Mehr Struktur im Entscheidungsfindungsprozess hatte ich nicht. Nun ja, die Gage musste natürlich auch stimmen.

club!: Wie ist es zum Beispiel mit dem Tatort, in dem Sie Mitte Dezember erneut zu sehen sind. Wie sind Sie zum Kommissar in Deutschlands wichtigstem Krimiformat geworden?
Tukur: Den Tatort habe ich zuerst einmal abgelehnt. Ich dachte, es sei nicht gut, weil man in einem so populären Format schnell beliebig wird. Dann aber waren die Redakteure des Hessischen Rundfunks so charmant und wagemutig, dass ich mich darauf einließ, eine Figur zu entwickeln, die am Abgrund des Lebens stehen sollte. Das war spannend und einmal etwas anderes. Ich mache das einmal im Jahr und die Schwierigkeit besteht darin, mit ständig wechselnden Regisseuren und Drehbuchautoren einen Charakter stringent weiterzuführen.

club!: Und was ist das Zentrum Ihrer Arbeit?
Tukur: Das weiß ich gar nicht. Musik, Theater, Film … Im Augenblick bin ich verblüfft, wie sehr mir das Schreiben gefällt. Ich habe das ja am Anfang eher aus Not gemacht, weil ich in Venedig nicht richtig ankam, weil diese Stadt sich mir gegenüber so gleichgültig, ja ablehnend verhielt. Ich kam mir vor wie ein Zugvogel, der kurz dort gelandet war, um schnell wieder zu verduften. Deshalb habe ich angefangen, ein Buch über die Stadt und die Menschen zu schreiben, die mir dort begegneten. So konnte ich sie gewissermaßen in die Tasche stecken. Das hat mein Verhältnis zu Venedig sehr positiv verändert.

club!: Das Buch, das Sie jetzt geschrieben haben, ist ganz anders, eine fast märchenhafte Geschichte.
Tukur: Eine schwarz-romantische Novelle. Ich habe sie über drei Jahre zwischen Tür und Angel, Konzerten und Filmen geschrieben. Und es hat mir wirklich Spaß gemacht. Man reproduziert nichts, sondern schafft etwas völlig Neues. Es ist ganz und gar meine Welt.

club!: Wie haben Sie Ihren Schreibstil entwickelt?
Tukur: Es ist die Literatur meiner Kindheit. Die Musik der Worte, die man mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke las. Die düsteren Novellen von Theodor Storm, die Erzählungen E.T.A. Hoffmanns und der deutschen Romantiker, die Gruselgeschichten Edgar Allan Poes. Ich liebe eine schöne, musikalische Sprache. Und ich wollte ein aus der Zeit gefallenes Buch schreiben, das versucht, etwas wiederzugewinnen, was wir verloren haben – das Geheimnis der Dinge. Wir leben in einer Zeit, die alles auseinanderreißt, zerpflückt, seziert und platt tritt. Man glaubt hinter allem die wissenschaftliche, biochemische Erklärung finden zu müssen und zerstört das Wesentliche, das Göttliche der Dinge und des Seins. Ich wollte etwas schreiben, was sich nicht auflösen lässt.

club!: Sie haben kürzlich in einer Talkshow erzählt, dass Sie sich irgendwann beim Schreiben verrannt und dann gemeinsam mit Ihrer Frau die Geschichte zu Ende entwickelt haben. Wie ist die Zusammenarbeit mit Ihrer Frau, die auch Künstlerin ist?
Tukur: Ich habe mit meiner Frau, die fotografiert, schon einmal ein Buch herausgebracht. Und sie hat auch die Bilder für mein Venedig- Buch gemacht. Das war eine wunderbare Zusammenarbeit. Meine Frau ist klug und sie versteht Zusammenhänge oft besser als ich. Ich bekomme manchmal Drehbücher zugeschickt, von denen ich nicht sagen kann, ob sie der letzte Dreck oder nicht doch irgendwie genial sind. Ich gebe sie dann Katharina und die sagt mir mit ihrer weiblichen Intuition und Klugheit sofort, was ich da in der Hand halte.

club!: Sie hören also auf Ihre Frau?
Tukur: Ich höre sogar sehr auf sie, weil sie meist richtig liegt. Sie ist spirituell, ohne esoterisch zu sein. Und das finde ich spannend und bewundernswert. Bei meiner Novelle war es so, dass ich nicht wusste, wie ich sie zu Ende bringen sollte. In solchen Momenten ist es gut, jemanden zu haben, mit dem man sich austauschen kann und der einen versteht. Ich glaube, wir hatten ein gutes Gespräch, denn innerhalb weniger Tage habe ich die Geschichte dann zu Ende geschrieben.

 

Ulrich Tukur , 56, ist einer der profiliertesten Künstler Deutschlands. Er ist Schauspieler, Musiker, Schriftsteller. 2006 spielte er in dem oscarprämierten Film „Das Leben der anderen“. Rollen in Filmen wie „Ein fliehendes Pferd“ oder „John Rabe“ begründeten genauso sein Ansehen wie Theaterarbeiten etwa mit Peter Zadek. Am 5.12. feierte sein Film „Houston“ Premiere in deutschen Kinos. In der Tatort-Folge „Schwindelfrei“ (8.12.) spielt er zum dritten Mal den Ermittler Felix Murot. Als Schriftsteller schaffte er es mit der Novelle „Die Spieluhr“ in die Bestseller-Liste des Spiegel. Mit seiner Band, den Rhythmus Boys, geht er 2014 auf Tournee. Tukur ist in zweiter Ehe verheiratet mit der Fotografin Katharina John. Aus erster Ehe hat er zwei Töchter, Lili und Marlene.