Einige fiebern ihn herbei, manchen macht er Angst: der Ruhestand. Ist die Arbeitsroutine weg, fallen viele Menschen in ein Loch. Andere dagegen blühen auf. Wie gelingt ihnen das?

Jürgen Deller kennt das Muster: Der Wirtschaftspsychologe forscht seit Jahren zum Thema Silver Workers – Menschen, die nach der Rente noch arbeiten, sei es bezahlt oder ehrenamtlich. Drei typische Phasen hat er definiert: Vor dem Ruhestand sehnt man den Renteneintritt herbei, danach genießt man für einige Monate die neue Freiheit, bis man plötzlich feststellt: Mir fehlen
Herausforderungen. „Kein Wunder“, sagt Deller. „Ziele, Aufgaben, Deadlines: Das war Alltag. Und plötzlich gibt es nichts mehr zu erreichen.”

Ein anderer wichtiger Aspekt, den Arbeit mit sich bringt: Struktur. „Für viele ist es selbstverständlich gewesen, dass der Alltag für sie von anderen organisiert wurde – selbst in die Steuerrungsrolle
zu schlüpfen, sich zu kümmern, fällt dann schwer.“ Dazu kommen Privilegien wie der Dienstwagen, Restaurantbesuche, manchmal eine eigene Sekretärin, die von einem auf den anderen Tag wegfallen.

Das Loch nach der Rente ist wissenschaftlich anerkannt. Im ICD, ein weltweit anerkanntes System, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden, findet sich im Schlüssel F43.2 der Schlagbegriff Anpassungsstörungen. Das können beispielsweise depressive Stimmungen sein.

Dellert und sein Team haben auch untersucht, welche Berufsgruppe das größte Risiko dafür trägt. Das Ergebnis: Zwischen Freelancern, Angestellten und Unternehmern gibt es keine signifikanten Unterschiede, wohl aber beim Arbeitspensum. Wer sein Leben lang nur gearbeitet und Hobbys vernachlässigt hat, dem fällt es nach dem Ruhestand schwerer. Der Experte empfiehlt daher, sich mindestens zwei Jahre vor dem Ruhestand damit auseinanderzusetzen, wie man zukünftig leben möchte. Was macht mir Freude, woraus ziehe ich Kraft? Optionen gibt es genug. Einige
fangen ein Ehrenamt an, andere arbeiten als Berater weiter, wiederum andere studieren nochmal. „Jeder muss seinen individuellen Weg finden”, sagt Deller.

Vom Kommunikationsprofi zum Schlossbauer: Gottfried Unterweger hat das geschafft. Über 25 Jahre führte er erfolgreich seine eigene Kommunikationsagentur in Hamburg, heute leitet er ein Kulturzentrum in einem alten Schloss im Heimatdorf seiner Mutter. „Man kann sagen, ich habe mich noch einmal neu verwirklicht”, sagt Unterweger. Aber wie?

Von 65 bis 75 – die goldenen zehn Jahre
2020 macht der Unternehmer einen harten Cut: Er verkauft seine Agentur, aus dem Büro landet alles im Müll, die Website schaltet er ab. „Anders konnte ich nicht loslassen und den neuen Lebensabschnitt einläuten”, sagt er. So abrupt das Ende seines Berufslebens klingt, es war gründlich überlegt. Mit 60 beginnt Unterweger bereits, seinen Exit zu planen.

Zu dieser Zeit besucht er seine Mutter in ihrem Heimatdorf Anrach im österreichischen Tirol. Zufällig kommt er ins Gespräch mit dem Dorflehrer, der ihm von einem alten Schloss im Ort erzählt, das von Jahr zu Jahr mehr verfällt. Kurzerhand setzt sich Unteweger ein ambitioniertes Ziel: Das Schloss wieder mit Leben zu füllen. Er stellt ein kleines Team zusammen, akquiriert Geld, entwickelt ein Nutzungskonzept – und renoviert.

Anfangs managt er das noch parallel zum Job, seit seinem Ruhestand widmet er sich voll und ganz dem neuen Herzensprojekt, das in manchen Zeiten einem Vollzeitjob gleicht. „Dieser weiche Übergang in den neuen Lebensabschnitt hat mir gutgetan”, sagt Unterweger. Heute strahlt das alte Schloss in neuem Glanz, der Unternehmer hat es zu einem pulsierenden Kultur- und Gemeindezentrum umgebaut, das er nun als Geschäftsführer leitet.

Für Unterweger war es nie eine Option, nach der Rente in den Tag hineinleben – dafür sei das Leben zu lang. „In unserer modernen Gesellschaft dauert es nach dem Ruhestand noch einmal
so lange wie von der Geburt bis zum Ende des Studiums”, sagt er. Wer da kein Projekt habe, verdumme schnell und werde alt. Wer allerdings fündig wird, dem stehen möglicherweise die goldenen
Jahre erst noch bevor, weil die Melange aus fi anzieller Sicherheit, Lebenserfahrung und abfallendem Druck optimale Voraussetzungen bietet. „Die Zeit zwischen 65 und 75 kann die beste
des Lebens sein”, sagt er.

Vor allem wenn eines stimmt: die Gesundheit. Und die ist nachweislich besser, wenn man nach der Rente im Job aktiv bleibt. Langzeitstudien zeigen, dass Menschen, die im Alter weiter arbeiten, unter weniger schweren Krankheiten leiden und oft auch länger leben. Das merkt auch Unterweger. „Mein Projekt hält mich fit”, sagt er. Oft ist seine Arbeit ein Fulltime-Job, stören tue ihn das allerdings nicht. „Ich finde das alles sehr spannend, deswegen fühle ich mich auch nicht überarbeitet”.

Arbeiten nach der Rente – ein solidarischer Akt?
Längst ist der Ruhestand kein individuelles Thema mehr. Die Zeit nach dem Berufsleben ist zu einem äußerst politischen Thema geworden. Die Ampel-Regierung plant, die Hinzuverdienstgrenzen
für alle Arbeitnehmer zu streichen, die nach einem vorzeitigen Renteneintritt nebenher noch arbeiten. So soll dem Fachkräftemangel begegnet werden. Jürgen Deller begrüßt diese Entscheidung.
„Viele, die nach der Rente arbeiten wollen, sind heutzutage topfit, wieso sollten wir so gut ausgebildete Menschen einfach verlieren?‘‘.

Doch nicht nur der Fachkräftemangel, auch der demographische Wandel bringt noch eine weitere Komponente ins Spiel: Solidarität. „Wer nach der Rente weiterarbeitet, nimmt der jungen Generation Last von den Schultern”, sagt Deller. Denn in Deutschland gibt es ein großes Problem: Täglich gehen knapp 2900 Menschen in Rente, aber nur 2100 feiern ihre Volljährigkeit. Tendenz steigend. Es zahlen also immer weniger Menschen die Rente von immer mehr Menschen – das kann nicht funktionieren. Auch deshalb erleichtert die Bundesregierung wohl zukünftig das Arbeiten im Alter.

„Wenn ich den Beruf als mein Leben definiere, dann wird mein Leben zu Ende sein, wenn der Beruf zu Ende ist”
Neben Arbeitnehmer und Politik sitzt noch ein anderer im Boot, der den Übergang in die Rente erleichtern kann: der Arbeitgeber. Sascha Schneider ist Personalchef beim Schreibgerätehersteller
Montblanc. Das Unternehmen bietet Altersteilzeit an. Die Idee: Arbeitnehmer reduzieren bereits in den Jahren vor der Rente die Arbeitszeit, so dass der Ruhestand nicht so abrupt kommt. Wie lange
Montblanc diese Option noch anbieten kann, weiß Schneider allerdings nicht. Denn: Mitarbeiter früher in den Ruhezustand zu entlassen, wenn gleichzeitig keine jungen nachkommt, ist beim aktuellen demographischen Wandel ein Problem.

Die Praxis sieht meist anders aus. Oft haben Führungskräfte kein Interesse am Altersteilzeitangebot. „Viele können und wollen nicht loslassen von ihrer Verantwortung”, sagt Schneider. Das aber steigere das Risiko, danach in ein Loch zu fallen. „Der Job verhilft Manager auf eine Bühne – und die stürzt mit der Rente ein.”Sascha Schneider macht zudem eine interessante Beobachtung:
Nicht alle leitenden Angestellten gehen in den regulären Ruhestand, sondern werden schon früher ersetzt. Oft kommt ein CEO, der frischen Wind in die Firma bringt und Führungspositionen
mit jungen Leuten besetzen möchte. Ein Gefühl von fehlender Dankbarkeit, sogar Scheitern macht sich breit, das zu den allgemeinen Herausforderungen des Renteneintritts hinzukommt. Schneider rät deshalb, eine Erkenntnis früh zu berücksichtigen: „Wenn ich den Beruf als mein Leben definiere, dannwird mein Leben zu Ende sein, wenn der Beruf zu Ende ist”.

SIEBEN TIPPS FÜR DAS LEBEN NACH DER ARBEIT

  1. Zurückblicken, um nach vorne zu schauen
    Wer in Rente geht, hat ein langes Leben hinter sich. Da lohnt es sich zurückzublicken: auf Ihre Stationen, Ihre Erfolge – beruflich wie privat. Da wird es einiges geben, worauf Sie stolz sind. Schreiben Sie sich Ihre besonderen Leistungen doch einfach mal auf und lassen sie Revue passieren. Aber es sollte noch Platz übrig bleiben, denn Sie werden die Liste in den kommenden Jahren ganz bestimmt noch ergänzen!
  2. Nehmen Sie neue Herausforderungen an
    Füße hochlegen und Entspannung ist völlig in Ordnung. Denn das haben Sie sich verdient. Aber: Ohne Herausforderungen wird das Leben auf Dauer langweilig, zumal die Zeit in dieser neuen Lebensphase (hoffentlich) lang ist. Es hilft, aktiv zu bleiben. Das kann auch ein neuer beruflicher Anfang sein oder eine unternehmerische Aufgabe, die zeitlich weniger anspruchsvoll ist. Unser
    Tipp: Machen Sie doch eine Liste von Dingen, die Sie schon immer mal machen wollten.
  3. Sharing is caring! IhrWissen ist weiterhin gefragt
    In Ihrem Job wurde Ihre Expertise geschätzt. Mit der Rente kann sich das Gefühl einstellen, als würde ihr Wissen nicht mehr gebraucht. Doch das stimmt nicht. Ob im Ehrenamt, in einer Teilzeitstelle oder als Berater: Ihre Erfahrungen sind in anderen Bereichen auch gefragt und man wird Ihre Mitarbeit schätzen. Und andere werden wiederum von Ihrer Expertise profitieren – Das ist eine Win-Win-Situation!
  4. Soziale Kontakte erhalten und ausbauen
    Auch außerhalb der Familie sollten Sie gezielt soziale Kontakte aufrecht erhalten und suchen. Etwa durch Kommunikation und Treffen mit ehemaligen Kollegen, aber auch außerhalb Ihres Arbeitsumfelds. Neue Menschen kennen zu lernen, hält den Geist wach. Denn gerade Menschen von außen sind es, die für neue,Impulse und Beschäftigung sorgen können und uns neuen Reizen
    aussetzen. Speziell im höheren Alter sind soziale Kontakte sehr wichtig – sonst droht Einsamkeit und Isolation.
  5. Schrittweise den Übergang organisieren
    Einfacher wird es auch, wenn man den Zeitgewinn schrittweise organisiert. Die größte Herausforderung steht dabei Unternehmern, angestellten Geschäftsführern und Führungskräften bevor.
    Hohes Arbeitspensum. Vielfältige Aufgaben. Und häufig definiert der Job das Sein. Wer bin ich in den Augen anderer und für mich selbst? Suchen Sie nach Lösungen für schrittweise Veränderung
    und damit mehr Zeit für die Umstellung, eine neue Perspektive.
  6. Hobbys (re)aktivieren, Pläne umsetzen
    Mit Übergang in den Ruhestand haben Sie plötzlich Zeit. Viel Zeit. Experten sind sich einig: Diese Zeit sollte möglichst sinnstiftend ausgefüllt werden. Reaktivieren Sie in den letzten Jahren Ihrer Berufstätigkeit bereits alte Hobbys und halten Sie zeitgleich Ausschau nach neuen Aktivitäten. Stellen Sie sich folgende Fragen: Was hat mich schon immer interessiert? Was möchte ich neu ausprobieren? Suchen Sie dazu auch den Austausch mit Menschen, die in ähnlicher Situation sind oder es bereits waren.
  7. Nehmen Sie sich Zeit
    Sie müssen nicht zu allem bereits eine Antwort parat haben und den dazu passenden detaillierten Plan. Sie haben Zeit. Zeit mit ihrem Partner und Freunden Ideen zu entwickeln, diese auszuprobieren, Erfahrungen zu machen, um dann neue Pläne zu schmieden. Es ist ein wenig so, wie in der Schulzeit mit der Berufswahl. Für jeden Menschen ist es auch jetzt ein erstes Mal, ein neuer Lebensabschnitt. Es gibt kein Patentrezept. Viel Freude mit neuen Erfahrungen!

 

Text: Wyn Matthiesen Illustration: Nathalie Sodeikat