Wenn Fachkräfte immer schwerer zu finden sind, ist der Algorithmus bei der Suche ein willkommener Helfer. Viele Firmen setzen daher beim Recruiting bereits auf Künstliche Intelligenz. Aber ist das wirklich sinnvoll?

An den Anruf kann sich Ralf Belusa noch genau erinnern. „Ich war gerade in Berlin auf einer Wiese am Alexanderplatz, als das Handy klingelte”, erzählt er. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Pia Thomsen, eine Recruiterin des Hamburger Digital-Headhunters CareerTeam, und erzählte ihm von einem spannenden Stellenangebot. Heute, fünf Jahre später, ist Belusa CDO bei der Reederei Hapag Lloyd und als solcher verantwortlich für das Digitalgeschäft.
Dass sich ein Headhunter bei ihm meldet und ihm einen Job vermittelt, ist nichts Besonderes. Bei einem Blick auf seinen Lebenslauf fällt auf: Der 46-Jährige hat seine Aufgaben gefühlt häufiger gewechselt als seine Socken. Belusa hat unter anderem für das Fraunhofer Institut, Axel Springer, Microsoft Ventures, Karstadt, Bertelsmann, Volkswagen, Red Bull und Nivea gearbeitet, zahlreiche Start-ups gegründet und sogar als Zellforscher an der Berliner Charité gearbeitet. „Er hat einen der vielfältigsten Lebensläufe, die mir bisher je begegnet sind”, sagt Recruiterin Thomsen. Trotzdem ist es etwas anderes, das seinen Wechsel zum Hamburger Traditionsunternehmen besonders macht: Die Art und Weise, wie Thomsen ihn gefunden hat.

 

„Wir haben den Suchprozess in 70 Schritte unterteilt.”

Pia Thomsen, CareerTeam

 

 

 

Das Hamburger CareerTeam, für das Thomsen arbeitet, ist ein Headhunter für Digital-Jobs. Passend dazu ist auch das Recruiting, also die Suche nach Fachkräften, weitgehend automatisiert. „Wir haben den Suchprozess in 70 einzelne Schritte unterteilt, die alle in einem System abgebildet werden”, erklärt Thomsen. Zwar müssen einzelne Parameter per Hand dort eingetippt werden, „aber die Suche läuft dann komplett automatisch”, sagt die Recruiterin. Das geht in der Regel schneller, genauer und effizienter als wenn der Mensch diesen Job erledigt.
Auch deshalb ist die Automatisierung im Personalwesen auf dem Vormarsch, allen voran die Künstliche Intelligenz. Laut einer Umfrage des Onlinejobportals Monster setzt bereits jedes zwanzigste Unternehmen bei der Suche nach neuen Mitarbeitern auf digitale Hilfsmittel. Bei IT-Unternehmen ist es sogar jedes fünfte. Dass sich dieser Trend verstärkt, zeigt die steigende Aufgeschlossenheit gegenüber intelligenten Systemen: Laut Monster-Umfrage sind mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen offen eingestellt für KI-Anwendungen im Recruiting.
Aber wo kommen diese Tools überhaupt zum Einsatz? Das weiß Sarah Landau. Sie leitet unter anderem das Recruiting bei der Hamburger Firma Marquard & Bahls, einem Energie- und Chemie-Unternehmen mit Sitz in der HafenCity, und ist Bereichsleiterin für den Norden beim Bundesverband Personal Manager, der mit fast 5000 Mitgliedern größten Vereinigung für Personaler in Deutschland. Sie setzt beim sogenannten Active Sourcing auf digitale Hilfe. „Active Sourcing bedeutet, dass Talente aktiv gesucht werden müssen”, erklärt die Personalerin. Das ist eine erste Folge des Fachkräftemangels, durch den Bewerbungen nicht mehr wie von selbst bei den Firmen eintrudeln, sondern Fachkräfte, weil sie immer knapper und der Kampf um sie entsprechend härter wird, gezielt gesucht werden müssen. „Arbeitnehmermarkt” heißt das im Fachjargon.
Künstliche Intelligenz hilft Landau etwa dabei, Stellenanzeigen passgenau zu platzieren. Sie kann die Onlineanzeigen mit Parametern versehen, sodass sie in Portalen und Netzwerken auch tatsächlich nur bei den Menschen ausgespielt werden, die entsprechend ihrer Angaben auch für die Stelle geeignet sind. „Das macht das Recruiting natürlich präziser“, sagt sie. Auf der anderen Seite kann sie aber auch Suchanfragen in diesen Jobportalen mit entsprechenden Voraussetzungen und Parametern füttern, um so einfacher passende Nutzer zu finden, die sie dann für Marquard & Bahls gewinnen kann. Das nennt sich „Matching“ und wird ebenfalls durch Künstliche Intelligenz unterstützt. Hier wie da gilt: Je genauer die Angaben sind und je mehr Daten das System zur Verfügung gestellt bekommt, desto besser ist das Ergebnis.

 

„Die persönlichen Gespräche sind unersetzlich.”

Sarah Landau, Marquard & Bahls

 

 

 

Damit bieten intelligente Systeme gleich mehrere Vorteile bei der Suche und der Auswahl neuer Mitarbeiter. Während Recruiter per Hand oft stundenlang die Jobbörsen durchsuchen, erledigt ein Algorithmus diese Arbeit in wenigen Sekunden. Gleiches gilt für die Auswahl: Während sich Personaler mühsam durch die sich stapelnden Bewerbungsmappen arbeiten, in der Hoffnung, die Bewerber zu finden, die am besten zur Stellenbeschreibung passen, schafft das der Algorithmus in wenigen Sekunden – und erzielt häufig sogar ein präziseres Ergebnis, weil bei ihm nicht etwa die Konzentration nachlässt oder er entscheidende Aspekte übersehen könnte. Beides bringt eine enorme Zeitersparnis mit sich. Zeit, die Landau dann in die persönlichen Gespräche investieren kann. „Die sind nach wie vor unersetzlich”, sagt sie.
Softwareentwickler sehen das jedoch zunehmend anders. Google beispielsweise arbeitet an einer sogenannten Job KI, mit deren Hilfe Siemens in Deutschland in einem ersten Test insgesamt 11 000 interne Stellen vergeben hat. IBM bietet Kunden sogar das Komplettpaket: KI-Unterstützung, je nach Bedarf, von der Ausschreibung bis zum Stellenantritt. Die Tech-Riesen glauben, dass die Auswahl der Roboter-Recruiter, weil sie auf Daten basiert und nicht auf dem Bauchgefühl der Personaler, nicht nur präziser sind, sondern auch fairer und besser.
Daten statt Bauchgefühl: Das wäre die Lösung für ein Problem, das Daniel Kahneman schon vor zehn Jahren in seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken” beschrieben hat. Der Wirtschaftsnobelpreisträger hat seinerzeit in unzähligen Experimenten erforscht, dass Menschen zwar grundsätzlich rational handeln, sich dann aber aufgrund ihrer Emotionalität wieder davon abbringen lassen. „Das spielt unterbewusst auch bei Personalentscheidungen eine Rolle”, sagt Prof. Dr. David Scheffer, Lehrstuhlinhaber an der Nordakademie, der sich seit 15 Jahren mit diesen Themen beschäftigt. Das kann beispielsweise dazu führen, dass Menschen, die sich gut verkaufen, überschätzt werden. Und auf der anderen Seite: Immerhin jeder vierte neue Mitarbeiter denkt bereits während der ersten 100 Tage im Job an die Kündigung. 11,6 Prozent setzen dieses Denken sogar in die Tat um. Ursache dafür kann eine falsche Intuition des Personalers sein. Die Suche beginnt wieder von vorne. Das kostet Zeit, Geld und Nerven.
Künstliche Intelligenz kann das verhindern. Zumindest gibt es Hinweise darauf. Etwa aus den USA. Dort haben Wissenschaftler 90 000 Auswahlprozesse untersucht, bei denen Bewerber kein Vorstellungsgespräch führen, sondern lediglich einen Einstellungstest abgeben mussten. Diesen Test hat ein Algorithmus ausgewertet und die Bewerber nach Ampelfarben sortiert. Ergebnis: Die von der Künstlichen Intelligenz ausgewählten Mitarbeiter blieben länger im Unternehmen als die Kollegen, die die Recruiter auf die klassische Art und Weise eingestellt hatten.
Andere KI-Lösungen gehen sogar noch einen Schritt weiter. Zum Beispiel die des Münchner Start-ups Retorio. Statt aus der Auswertung eines Testes kann die Künstliche Intelligenz ihre Empfehlung auf der Grundlage von Videoaufnahmen abgeben. „Eine Minute Video zeigt eine lebenslange Möglichkeit”, wirbt das Unternehmen. Die Idee: Anhand eines Videos kann die Retorio-KI eine sogenannte vorausschauende Analyse erstellen: Ist der Bewerber geeignet oder nicht? Dafür wurde die Software mit Hilfe der Daten von 12 000 Menschen aufgebaut und vergibt auf dieser Basis Punkte in Kategorien wie Offenheit oder Gewissenhaftigkeit. Der Vorteil liegt auf der Hand: Weil der Roboter nach Daten und nicht aus der Emotion heraus entscheidet, spielt die Intuition des Personalers beim Recruiting keine Rolle mehr. Aber sind diese Ergebnisse des Roboters wirklich aussagekräftig – und besser als die eines Menschen?
„Natürlich hat Künstliche Intelligenz ein Problem”, sagt Nordakademie-Professor Scheffer: „Sie wird von Menschen programmiert.” Das zum einen und zum anderen wird sie mit Daten der Vergangenheit trainiert, die wiederum aus menschlichen Entscheidungen hervorgegangen sind. Wohin das führen kann, zeigt das Beispiel des US-Riesen Amazon. Dessen Recruiting-KI hat 2016 bei einem Test zwar eine große Zahl an Bewerbern vorgeschlagen – aber nur sehr wenige Bewerberinnen. Bei der Analyse kam später heraus, dass Bewerberinnen bisher unter anderem wegen ihrer Eigenschaft als Frau bei Amazon schlechtere Aussichten auf Zusagen hatten.

 

„Es gibt einige Bereiche, in denen Algorithmen das Leben erleichtern.”

Sebastian Tschentscher, CareerTeam

 

 

 

Da stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie viel Künstliche Intelligenz im Bewerbungsprozess macht überhaupt Sinn? „Den gesamten Prozess zu automatisieren ist sicher nicht sinnvoll”, sagt Sebastian Tschentscher. „Aber es gibt jede Menge Bereiche, in denen Algorithmen das Leben erleichtern. Wir sagen daher ‚teilautomatisiert’ zu unserem Prozess.“ Tschentscher ist Geschäftsführer des Digital-Headhunters CareerTeam – und Bruder des Ersten Hamburger Bürgermeisters. Er beschäftigt sich schon sehr lange mit der Frage, wie man Automatisierung im Recruiting einsetzen und es dadurch verbessern kann. Neben dem Zeitvorteil bei der Suche und der Auswahl passender Bewerber sieht er vor allem im gesammelten Datenschatz einen großen Nutzen. „Das hilft mir enorm dabei, meine Suchen zu optimieren”, sagt Tschentscher.
Deshalb sammelt CareerTeam nicht nur Kontaktdaten von Bewerbern, sondern auch Angaben wie Absagegründe. „Denn wenn mir für meine Softwarefirma in Gütersloh reihenweise die Entwickler absagen, weil sie nicht an den Standort kommen möchten, sollte ich überlegen, ob ich sie nicht von zu Hause arbeiten lassen kann”, meint Tschentscher. Ein weiterer Vorteil einer großen Datenbank: Nur, weil ein Bewerber den einen Job absagt, heißt das nicht, dass für ihn ein anderer vielleicht doch infrage kommt. „Wenn ich ihn dann noch in der Datenbank habe, muss ich ihn beim nächsten Mal nicht erst wieder aufwendig rekrutieren“, sagt der Experte.
So war es auch bei Hapag Lloyd-CDO Ralf Belusa. „Wir hatten ihn zunächst für einen CTO-Job im Blick”, erinnert sich Recruiterin Thomsen. Diesen Job hatte der Digitalexperte seinerzeit aber abgelehnt. Als dann jedoch die Anfrage der Reederei hereinkam, musste Thomsen nicht lange suchen. Und dieses Mal war dann auch der Kandidat überzeugt. „Ich hatte erst das Gespräch mit dem CareerTeam, danach drei Gespräche mit den Hapag Lloyd-Vorständen und dann sind wir uns relativ schnell einig geworden, dass es bei uns passt”, erinnert sich Belusa.
Und wie es passt. Seit 2017 ist der neue Head of digital nun im Amt. In dieser Zeit hat er das Digitalgeschäft bei Hapag Lloyd erfolgreich aufgebaut, sondern auch global in 129 Länder skaliert. Jeder zehnte Container wird dank der Arbeit seiner Mitarbeiter mittlerweile online verkauft. Das waren im Jahr 2019 insgesamt eine Million Boxen. Bis 2023 soll der Umsatz in diesem Bereich auf 15 Prozent wachsen. Den passenden Mann dafür scheint das Unternehmen jedenfalls gefunden zu haben – mit Hilfe der digitalen Tools des CareerTeams.

 

Text: Alexander Siebert Illustration: Stephan Kuhlmann Foto: Archiv