Sie haben attraktive Jobs und sichere Einkommen – und fühlen sich trotzdem nicht wohl. Immer häufi ger verlassen deshalb auch Topmanager den sicheren Arbeitsplatz und gründen ihr EIGENES UNTERNEHMEN.

Toilettenpapier muss Julia Rosenkranz jetzt selber kaufen und wenn sie Kunden empfängt, gibt es keine Sekretärin, die Getränke serviert. Rosenkranz muss den Kaffee selber aufsetzen – und das tut sie gern, denn auch solche Aufgaben gehören zu ihrer neuen Freiheit dazu: Seit rund einem Jahr ist Rosenkranz, 55, ihr eigener Chef, nichts Ungewöhnliches, haben doch 2015 nach Schätzungen des Bonner Instituts für Mittelstandsforschung rund 300 000 Menschen den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt – und doch gehört Rosenkranz zu einer bisher seltenen Spezies: nämlich zu derjenigen, die nach langer Zeit als angestellte Arbeitnehmerin und in höherem Alter zur Existenzgründerin wird.
Ein Risiko, das jedoch immer mehr Menschen eingehen. Bereits 2014 zeichnete sich dieser Trend ab, der Anteil der Gründer im Alter von 45 bis 54 stieg deutlich an: Fast 23 Prozent der Gründer kamen aus dieser Alterskohorte, 2013 waren es lediglich 16,8 Prozent. Derweil sank der Anteil der 18- bis 24-jährigen Gründer von 17,6 Prozent auf 12,3 Prozent. Die größte Altersgruppe machen weiterhin die 25- bis 34-jährigen Gründer aus (31,4 Prozent), gefolgt von den 35- bis 44-Jährigen (24,1 Prozent). Ab 55 sinkt dann die Wahrscheinlichkeit der Existenzgründung deutlich, nur 9,2 Prozent der neuen Selbstständigen gehören zu dieser Altersgruppe. „Wer bis 45 nicht gründet, der gründet nimmermehr“, könnte die Regel also eigentlich heißen – wenn es nicht immer mehr „Ausreißer“ wie Rosenkranz geben würde.
30 Jahre lang war Julia Rosenkranz, 55, als Personalchefin und HR-Verantwortliche in verschiedenen Unternehmen tätig, unter anderem bei der Otto Group, beim Germanischen Lloyd und Aurubis. „Ab einem gewissen Zeitpunkt habe ich dann doch gewisse Ermüdungserscheinungen festgestellt“, erinnert sich Rosenkranz. Einfach so weiterzumachen bis zur Rente, sei für sie jedoch keine Alternative gewesen. Deshalb habe sie die Idee umgesetzt, mit der sie bereits vor zehn Jahren geliebäugelt, aber damals noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden hatte: die Gründung einer internationalen HR-Boutique. Zusammen mit Hinrich Bents und Markus Honkanen hat sie im Mai 2015 Bents Honkanen Rosenkranz International Executive Consultants ins Leben gerufen, spezialisiert auf Executive Search, HR Consulting und Business Coaching. „Ich hatte vorher ein Leben mit sicheren Bezügen und allem Komfort, der zu einer solchen Spitzenposition dazugehört“, erzählt Rosenkranz, „aber all das macht einen nicht glücklich, wenn man durch den Beruf keine persönliche Zufriedenheit mehr empfindet.“ Und genau diese Zufriedenheit habe sie nun durch die Selbstständigkeit wiedergewonnen, „und zwar noch deutlich mehr als zuvor“, betont Rosenkranz. „Früher war es am Ende der Vorstand, der die letzte Entscheidung getroffen hat, und bis es so weit war, mussten zahlreiche Abstimmungen erfolgen“, sagt Rosenkranz. „Und jetzt geht es ganz schnell, denn jetzt entscheiden wir unkompliziert zu dritt.“
Genau dieser Wunsch, sein eigener Chef zu sein, sei der häufigste Grund für viele Menschen, sich selbstständig zu machen, weiß Alexander Kritikos, Forschungsdirektor für Entrepreneurship am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Oft habe auch ein Angestellter eine gute Idee, stoße dabei im eigenen Unternehmen auf keine Resonanz und versuche es dann eben selbst, weil er von der Idee so überzeugt ist – wie sehr sich dieser Mut lohnen kann, beweist nicht nur die legendäre Geschichte der beiden Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page. Schon 1997 hatten sie Yahoo angeboten, die spätere Google-Suchtechnik zu erwerben, doch das US-Unternehmen lehnte ab, auch Yahoos damalige Konkurrenten Altavista und Excite waren nicht an den Algorithmen der Wissenschaftler interessiert mit der Begründung, dass der Hype der Suchmaschinen bereits vorbei sei. Brin und Page machten sich also selbstständig – und führen heute das weltweit wertvollste Unternehmen.
So hoch müssen Neu-Unternehmer ihre Ziele ja nicht gleich stecken, aber welche Faktoren begünstigen zumindest die Erfolgswahrscheinlichkeit?
„Sicher nicht die Tatsache, dass jemand nur aus Mangel an Alternativen gründet oder weil ihm jemand dazu geraten hat“, sagt Kritikos. Wer ein eigenes Unternehmen aufbauen wolle, müsse selbst voll und ganz von seiner Idee überzeugt sein – siehe Page und Brin.
Wie der KfW-Gründungsmonitor 2015 zeigt, sind mit 48 Prozent tatsächlich knapp die Hälfte der Gründer in Deutschland Chancengründer, die sich selbstständig machten, um eine explizite Geschäftsidee umzusetzen. Auf Notgründer, die zur Selbstständigkeit keine bessere Erwerbsalternative hatten, entfällt ein Anteil von 30 Prozent, jeder fünfte Gründer hatte andere als finanzielle oder persönliche Motive.
Doch eine gute Idee allein reicht nicht, betont Kritikos. Sondern der Existenzgründer müsse auch seine potenziellen Kunden, seine Lieferanten und den Markt, in dem er tätig werden wolle, gut kennen. „Und genau deshalb haben diejenigen die höchste Erfolgswahrscheinlichkeit, die in der Branche bereits zuvor in einem Angestelltenverhältnis gearbeitet haben.“ Kein Wunder also, dass inzwischen mehr Gründer aus bestehenden Arbeitsverhältnissen in die Selbstständigkeit wechseln: 2014 haben sich nach Angaben des KfW-Gründungsmonitors 55 Prozent der Gründer aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus selbstständig gemacht, das ist ein etwas höherer Anteil als im Vorjahr. Jeder vierte Gründer war zuvor erwerbsinaktiv, also weder erwerbstätig noch arbeitslos. Dieser Anteil war bei Gründern in freiberuflichen Tätigkeitsfeldern mit rund 31 Prozent deutlich höher.
Unabhängig jedoch davon, aus welcher vorherigen Situation sich jemand selbstständig mache, müsse sich jeder Existenzgründer mit drei zentralen Fragen beschäftigen, rät Kritikos: „Welches Produkt will ich verkaufen, welchen Nutzen stiftet es bei seinen potentiellen Kunden? Gibt es überhaupt Käufer dafür? Und woher kommt das Geld für die Unternehmensgründung?“
Auch Julia Rosenkranz hat sich diese Fragen gestellt. Aufgrund ihrer langjährigen Berufserfahrung kann sie sehr gut einschätzen, was Kunden brauchen und wie die aktuelle Marktsituation ist. Ihre Expertise habe auch dabei geholfen, einen überzeugenden Businessplan zu verfassen – ein absolutes Muss für all diejenigen, die ihr eigenes Unternehmen gründen wollen. „Es ist unverzichtbar, dass man diesen Plan dann auch mit Dritten diskutiert, um ihn auf mögliche Schwachstellen abzuklopfen“, betont Rosenkranz. Sie und ihre Partner haben sich dazu unter anderem von der Handelskammer Hamburg beraten lassen. Den größten Respekt aber habe sie gehabt vor einer Aufgabe, mit der sie sich zuvor nicht beschäftigen musste: der Kundenakquisition. „Das kannte ich gar nicht, weil ich ja zuvor immer nur interne Kunden hatte, aus dem Unternehmen, in dem ich angestellt war“, erzählt Julia Rosenkranz. Angesichts der Sieben-zu-eins-Regel, dass auf sieben Ansprachen also ein interessierter Kunde komme, sieht sie die Akquisition als besondere Herausforderung – profitiert dabei aber von ihrem guten Netzwerk.
Nicht alle Existenzgründer haben so viel Glück, doch wer einmal mit einer Unternehmensgründung gescheitert sei, wage selten einen zweiten Versuch, erklärt DIW-Forschungsdirektor Kritikos. „Auch weil bei Banken hierzulande leider die sehr deutsche Sichtweise vorherrscht: Wer einmal scheitert, der schafft es nie.“ Kritikos würde sich deshalb wünschen, dass zur Entwicklung eines gründerfreundlicheren Klimas die typisch amerikanische Haltung mehr Einzug hält, nämlich: „Traue keinem, der noch nicht gescheitert ist.“
Vielleicht liegt es auch daran, dass die Zahl der gewerblichen Gründungen in den vergangenen fünf Jahren insgesamt rückläufig ist, wie eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums mitteilte. Ein Grund für das sich abschwächende Gründungsgeschehen liegt ihren Angaben zufolge weiter in der anhaltend guten Beschäftigungssituation mit mehr als 43 Millionen Erwerbstätigen und der hohen Fachkräftenachfrage. „Der hohe Beschäftigungsgrad sowie die starke Nachfrage nach Fachkräften wirken sich dämpfend auf die Gründungsaktivitäten aus“, erklärt die Sprecherin. „Rückläufig sind vor allem die Kleinst-/Sologründungen, die aus der Not heraus entstehen.“
Im Gegenzug nehme jedoch die Qualität und Nachhaltigkeit der Existenzgründungen weiter zu. Es gebe mehr chancenorientierte Gründungen, die aus eigenen Ideen und der Umsetzung von kreativen, innovativen Geschäftskonzepten resultieren.
Positiv entwickeln würden sich auch die Gründungen in den freien Berufen, 2014 habe es hier rund 81 000 Gründungen gegeben. „Hinter dieser Entwicklung steht vor allem die hohe Nachfrage nach hochspezialisierten und individualisierten Dienstleistungen, wie zum Beispiel unternehmensnahe Dienstleistungen oder Dienstleistungen in sozialen, kreativen oder ingenieurwissenschaftlichen Bereichen“, teilt die Sprecherin mit. „Das zeigt: Das Gründungsgeschehen unterliegt einem strukturellen Wandel.“
Aber auch bei den innovativen Gründungen gebe es positive Entwicklungen. Beispielsweise sei die Berliner Start-up-Szene inzwischen international sichtbar und könne sich mit anderen großen Metropolen messen lassen – beziehungsweise habe sie diese inzwischen sogar überholt. Auch in anderen Zentren wie Hamburg, München und im Rhein-Main-Neckar-Raum gebe es eine hohe Gründungsaktivität. „Dies liegt vor allem an günstigen Standortfaktoren, wie zum Beispiel Attraktivität für junge, gut ausgebildete Menschen, gute Forschungs- und Hochschullandschaft und hohe wirtschaftliche Dynamik“, so die Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums.
Rosenkranz gehört aber nicht nur aufgrund ihres Alters zu einer Kohorte, die bisher eher selten den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hat, aber zunehmend auf dem Vormarsch ist: Frauen. 43 Prozent der Existenzgründungen wurden 2014 von ihnen umgesetzt, der Spitzenwert des Jahres 2013 wurde damit wieder erreicht. Das Klischee von der risikoscheuen Frau wird auch von Julia Rosenkranz nicht bestätigt. Zwar habe sie auch einen Plan B gehabt, falls es mit der Existenzgründung nicht klappt. „Aber Scheitern war und ist für mich und meine Partner nie eine Option“, betont sie. „Und nach rund einem Jahr stellen wir fest, dass wir das alles sogar noch besser hinbekommen als wir es geplant haben. Eine richtig gute Entscheidung also.“ Sogar das mit dem Kaffee klappt.

 

Text: Sonja Àlvarez Illustration: Raphaela Schröder