Umdenken erwünscht: Führungskräfte legen deutlich mehr Wert darauf, dass ihre Firma eine gesunde Unternehmenskultur hat. Denn sie wissen: Die DNA einer Firma entscheidet über Erfolg, Loyalität und Kreativität.

Vielen Mitarbeitern dürfte das „Hos“ inzwischen leicht über die Lippen gehen. „Hos“, so will Hans Otto Schrader, Vorstandsvorsitzender der Otto Group, von seinen 53 000 Angestellten neuerdings genannt werden. Das Duz-Angebot soll „eine Art verbaler Startschuss für unser Projekt Kulturwandel 4.0 sein“, erklärte Schrader Ende Februar. Es soll stellvertretend stehen für die neue Führungskultur, die der Handelskonzern etablieren will. Dieser Du-Ansatz mag vielleicht radikal wirken in einem Land, in dem sich Herr Müller-Lüdenscheid und Dr. Klöber auch noch in der Badewanne siezen – doch ist er eine logische Reaktion auf eine Arbeitswelt, die immer internationaler und durch die Digitalisierung immer vernetzter wird.
Wie die Otto Group beschäftigen sich immer mehr Firmen damit, wie ihre Unternehmenskultur 4.0 aussehen soll. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Hays ist diese Frage das Topthema im Bereich Human Resources: 41 Prozent der mehr als 500 befragten Entscheider aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gaben im „HR-Report 2015/2016“ an, dass die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur für sie die wichtigste Herausforderung ist, noch vor der Mitarbeiterbindung (38 Prozent) und der Förderung der Beschäftigungsfähigkeit (34 Prozent).
Die Frage, ob die Führungskräfte nun geduzt oder gesiezt werden, ist bei der Weiterentwicklung der Führungskultur allerdings nur eine kleine Komponente. Die große Herausforderung ist vielmehr, dass eine intakte Unternehmenskultur keine messbare Größe ist – gleichzeitig aber als Voraussetzung für profitables Wachstum gilt.
„Die Kultur eines Unternehmens ist weder in Hochglanzprospekten zu finden, noch wächst sie von heute auf morgen. Sie ist etwas, was man nicht greifen, aber spüren kann“, erklärte Headhunterin Linda Becker, Geschäftsführende Gesellschafterin bei der Beratungsfirma LAB & Company in einem Interview. Sie definiert Unternehmenskultur als „die DNA einer Firma, ihre Werte, Ziele und das, was Identifikation und Loyalität schafft“. Sei die Unternehmenskultur positiv, so fördere sie die Kreativität der Mitarbeiter und ihre Freude an der Arbeit. „Sie gibt Raum, um Innovationskultur entstehen zu lassen, die wichtig für das Wachstum ist“, betont Becker. „Sie bestimmt, wie Führungskräfte ihre Mitarbeiter loben und diese anerkennen.“
Fehle hingegen eine positive Kultur, so könne dies zu hohen Krankheitsständen und einer hohen Fluktuation führen. Dann fühlten sich Mitarbeiter nicht wohl, sie trauten sich nicht, ihre Meinung zu äußern. „Die Folge sind ideenlose, festgefahrene Führungskräfte und Teams, die schwer gute Ergebnisse erzielen können“, warnt Becker.
Die Krux: Weiche Themen wie Unternehmenskultur lassen sich nicht per Knopfdruck bedienen. „Sie benötigen Zeit und nachhaltig agierende Führungskräfte, die sie in ihrem Alltag leben“, erklären Jutta Rumpf und Klaus Breitschopf im Hays-Report. Bekanntlich seien Werte nur so gut, wie sie gelebt würden, „hier gehen Manager als Vorbild oder als negatives Beispiel voran.“
Das Duz-Angebot soll bei Otto deshalb nicht nur bewirken, dass Mitarbeiter und Führungskräfte gefühlt näher zusammenzurücken. Otto will grundsätzlich weg von alten Führungsstrukturen. „Der Chef gibt die Ziele vor, dann wird kontrolliert – und am Ende folgt Belohnung oder Sanktionierung. Dieses Denken gehört bei der Otto Group der Vergangenheit an“, sagte Vorstandschef Schrader. „Der Chef der Zukunft muss mehr Coach als Vorgesetzter sein.“ Auch Air-Berlin-Chef Stefan Pichler führte das „Du“ ein, als er im Februar 2015 bei der Fluggesellschaft antrat. „Die Mitarbeiter sind schließlich unser Kapital“, begründete er das Aufbrechen der alten Strukturen. „Die wissen, wo es hakt und was wir wie verbessern könnten.“ Die neue Offenheit sollte ihnen die Möglichkeit geben, das auch dem Vorstand mitzuteilen.
Doch wie kann ein Unternehmen feststellen, ob ein Mitarbeiter überhaupt zu der Kultur eines Unternehmens passt? Das wollte Joachim Diercks, Geschäftsführer der Hamburger HR-Beratungsfirma Cyquest, herausfinden. Seit 2014 hat er einen Test zur Messung von Unternehmenskultur erarbeitet. „Unser Ziel war es dabei, ein Verfahren zu entwickeln, das in der Lage ist, unternehmenskulturelle Wesensmerkmale zu quantifizieren, dabei wissenschaftlichen Kriterien genügt und gleichzeitig Spaß macht“, erklärt er. Seit Ende 2015 liegt nun eine Version des „Kulturmatchers“ vor, die vom bayerischen Energieanbieter Lechwerke getestet wurde – zunächst, um die eigene Unternehmenskultur besser zu definieren.
Bei der Befragung der 63 Mitarbeiter habe der „Kulturmatcher“ ein erstaunlich homogenes Bild wiedergegeben, sowohl innerhalb der Unternehmensbereiche als auch zwischen den Unternehmensbereichen, berichtet Diercks. Die für die Lechwerke gefundenen Werte zeigten dabei durchaus Profilabweichungen zu den Profilen anderer Unternehmen, bei denen gegenwärtig ebenfalls Pilotmessungen laufen würden. Das könne als Hinweis darauf gewertet werden, dass der „Kulturmatcher“ tatsächlich Unternehmenskultur und nicht etwa allgemeingültige kollektive Werte messe, erläutert Diercks.
Basierend auf diesen Werten bieten die Lechwerke den „Kulturmatcher“ nun auch auf ihrer Karriere-Website an. Bewerber sollten damit herausfinden, in was für einer Unternehmenskultur sie sich wohlfühlen und über den automatisierten – und anonymen – Abgleich ihres Profils mit dem der Lechwerke erfahren, wie viel Übereinstimmung sie mit der Unternehmenskultur der Lechwerke aufweisen. Rund 80 Fragen sind dafür zu beantworten, was in etwa 15 Minuten zu schaffen ist.
Gefragt wird beispielsweise, ob jemand eher teamorientiert oder eigenständig arbeitet, eher Wert auf Work-Life-Balance oder Karriere legt, ein wettbewerbs- oder karriereorientiertes Umfeld bevorzugt. Viele Bewerber würden sich in ihren Unterlagen auf den Test beziehen und beispielsweise darauf hinweisen, wenn sie eine 80-prozentige Übereinstimmung erreichten, sagt Diercks. Was aber, wenn ein interessierter Bewerber nur zu 20 Prozent mit den Werten der Lechwerke übereinstimmt? „Selbstverständlich darf er dann trotzdem seine Bewerbung einschicken, das Unternehmen erhält keinen Einblick in das Ergebnis. Der Test soll ja nur zur ersten Orientierung dienen“, betont Diercks. Und vor allem auch Anlass dazu sein, dass sich Bewerber mit der Kultur des Unternehmens überhaupt auseinandersetzten.
Headhunterin Becker betont besonders die Rolle der Führungskräfte im Blick auf die Führungskultur. Bereits beim Einstellungsprozess müsse Wert darauf gelegt werden, ob ein Bewerber „neben dem fachlichen Know-how auch persönlich zur Unternehmenskultur passt und in diesem Gefüge erfolgreich sein kann“.
Wie aber lernen neue Mitarbeiter die Kultur eines Unternehmens? „Durch Zuhören, wie kommuniziert, und Zusehen, wie agiert wird.“ Führungskräften würde sie raten, sich gezielt Antworten auf Fragen wie „Was macht uns genau aus?“ oder „Wo schlägt das Herz des Unternehmens?“ abzuholen. Allerdings könnten die Antworten zwischen Abteilungen und Bereichen variieren. Deshalb solle eine Führungskraft über alle Ebenen und Ressorts nachfragen, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Und gegebenenfalls hinterfragen, ob das Unternehmen das auch alles wirklich lebe. Denn nur „durch konsequentes Tun“ werde eine Kultur zur gelebten Praxis. Becker: „So einfach das klingt, so schwer ist es manchmal, dies wirklich umzusetzen.“ Trotz des Alltagsstress’ dürfe man sich bei der Umsetzung nicht aufhalten lassen, sondern müsse dranbleiben.
Dass dies bei immer mehr Unternehmen Priorität habe, stellt auch Joachim Diercks von Cyquest fest. Unternehmen wie Signal Iduna, die Telekom, Ernst & Young und Lidl würden den „Kulturmatcher“ künftig ebenfalls auf ihren Karriere-Websites integrieren wollen. Viele Firmen würden daran arbeiten, verkrustete Strukturen aufzubrechen. „Wer dagegen weiter auf einer ‚Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht-Kultur‘ beharren will, wird heute nicht mehr weit kommen“, sagt Diercks.
Doch dürften nicht zu hohe Erwartungen an den Veränderungsprozess gelegt werden. „Es dauert oft Jahre, bis sich eine Unternehmenskultur modernisiert hat“, sagt er. Deshalb sei es wichtig, Schritt für Schritt vorzugehen, beispielsweise wie Otto mit dem Duz-Angebot. Zumindest diesen Schritt muss Cyquest nicht mehr machen. Seit der Gründung des Unternehmens vor 17 Jahren duzen sich hier alle Mitarbeiter, vom Praktikanten bis zum Chef.

 

Text: Sonja Àlvarez Illustration: Raphaela Schröder