Das Internet ist der härteste Konkurrent des Einzelhandels. Um mehr als 1000 Prozent ist der Onlineumsatz von 2000 bis 2012 gestiegen. Tendenz steigend. Denn um einzukaufen, muss niemand mehr das Haus verlassen.

Wer den Laden im Jugendstilviertel am Eppendorfer Weg betritt, der riecht das Leder der Taschen, Etuis und Koffer, die hier ausgeleuchtet wie Kunstwerke in den Regalen stehen. Unter den Füßen knarzt der Holzfußboden, die Decke ist mit Stuck verziert, an einem Tisch wird gewerkelt und die Kunden sehen dabei zu, wie die Handtasche in liebevoller Handarbeit entsteht. Hier, im Laden von Lederdesign Hamburg, wird Einkaufen zum Erlebnis. Aber auch in Hongkong, Honolulu oder eben in Hamburg sind die Lederwaren bequem von zu Hause aus per Mausklick im Onlineshop zu bestellen. Damit haben die beiden Geschäftsführerinnen Claudia Hellmundt und Claudia Tiedemann das umgesetzt, was der Handel in Deutschland zur Hausaufgabe hat. Er muss sich wandeln, wenn er weiter wachsen will.

Wohl nie zuvor stand der Handel so unter Druck wie derzeit. Bestimmt wird er dabei von drei wesentlichen Trends, sagt Christian Wulff, der bei der Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse- Coopers (PwC) verantwortlich für die Bewertung und die Transaktionsberatung von Handelsunternehmen ist: „Digitalisierung, Urbanisierung und der demographische Wandel sind die großen Themen, mit denen sich der Handel auseinandersetzen muss.“ Weil Deutschlands Bevölkerung schrumpfe, nehme automatisch auch die Zahl der Konsumenten ab. Schon jetzt zeigen die Zahlen des Handelsverbands Deutschland (HDE), dass der Anteil des Einzelhandels am Konsum merklich sinkt, von 32,8 Prozent im Jahr 2002 auf 28,4 Prozent 2012. Grund dafür sind Mehrausgaben für Energie, Reisen und das Auto, so der Verband.

Das muss den Händlern auf dem Land allerdings mehr Sorgen machen als jenen in der Stadt. Denn mit dem demographischen Wandel geht auch die Urbanisierung einher, immer mehr Menschen wollen in der Stadt leben. „Während kleine Dörfer in entlegenen Regionen drohen, zu handelsfreien Zonen zu werden, profitieren Orte wie Hamburg von der Bewegung“, sagt Wulff. Denn mit den Menschen komme auch die Kaufkraft in die Städte – was allerdings nicht bedeute, dass sich die Händler entspannt zurücklehnen und weitermachen könnten wie bisher. Im Gegenteil.

Die größte Herausforderung ist die Digitalisierung, die alle Branchen betrifft, vom Lebensmittelhändler bis zum Möbelkaufhaus. Um einzukaufen, muss heute niemand mehr das Haus verlassen, der einen Internetanschluss hat. Mit ein paar Klicks ist alles erledigt – und das rund um die Uhr. Das Netz kennt keinen Ladenschluss. Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen diese neuen, bequemen Möglichkeiten nutzen: Um 1000 Prozent ist der Umsatz im Onlinehandel zwischen 2000 und 2012 gestiegen, und das, obwohl erst ein Drittel aller stationären Händler online ist, heißt es vom Handelsverband. Der stationäre Einzelhandel ist im gleichen Zeitraum dagegen nur um – Achtung – 2,4 Prozent gewachsen. Für dieses Jahr prognostiziert der HDE dem E-Commerce einen Umsatz von rund 33 Milliarden Euro. Vor allem elektronische Geräte werden online gekauft, Bekleidung und Medien wie Bücher, Musik oder DVDs.

Bei Lebensmitteln und Produkten aus dem Baumarkt sind die Kunden zurückhaltender. „Bei Baubedarf denken die Menschen eher in Projekten als in einzelnen Objekten, sie wollen beispielsweise ihr Bad renovieren und dafür alles auf einmal kaufen, sofort mitnehmen und loslegen“, erklärt Clubmitglied Christian Wulff. Bei Lebensmitteln müssen die Händler dagegen verschiedene operative Hürden überwinden, damit sich der Onlineverkauf auch lohnt. „Drei Joghurts auszuliefern kostet die Händler am Ende mehr, als es ihnen einbringt“, so Wulff. Das Packen und Abholen oder Liefern muss wirtschaftlich organisiert werden – nicht einfach bei verderblicher Ware. Ein Paket mit einem Pullover kann beim Nachbarn zur Aufbewahrung abgegeben werden, bei einer Tiefkühlpizza ist das schwierig. Falsch gelieferte Produkte umzutauschen, ist ebenfalls kompliziert. Trotzdem sagt Wulff gerade dem Lebensmittelhandel im Onlinehandel für die Zukunft hohe Wachstumsraten voraus. Gerade wegen der drei großen Trends Digitalisierung, Urbanisierung und demographischer Wandel. „Die Leute werden älter und wollen nicht mehr viel und schwer tragen. Die wollen auch nicht mehr hinaus auf die grüne Wiese zu den Shoppingmalls fahren, um dort ihr Auto vollzuladen“, prognostiziert Wulff: „Frische Produkte für den täglichen Bedarf werden deshalb wohl in Zukunft weiter stationär gekauft, der unhandliche, nicht so leicht verderbliche Vorrat dagegen online.“

Während der Lebensmittelhandel in Deutschland noch nach dem Königsweg suche, seien die Händler in England sehr viel weiter. Babywindeln, Tee, Kaffee, Getränke würden längst online bestellt. Interessant ist dort auch das Konzept der Supermarktkette Tesco, das der Einkaufszentrumbetreiber ECE (Europa-Passage, Hamburger Meile) und die Unternehmensberatung Roland Berger Strategy in einer Studie zum Onlinehandel beschreiben. Kunden haben bei Tesco die Möglichkeit, ihren Einkauf von der Kiwi bis zum Korkenzieher online zusammenzustellen, danach geben sie ein Zeitfenster von zwei Stunden an, in dem sie ihr Produkt abholen möchten. Innerhalb dieser Zeit kann der Kunde dann mit dem Auto vorfahren und muss nicht einmal aussteigen, denn die Tesco- Mitarbeiter laden die bestellten Waren direkt in den Kofferraum – vom einzelnen Joghurt bis zum Familienwochenendeinkauf. ähnliche Ideen dürften sich wohl in den nächsten Jahren auch in Deutschland durchsetzen.

Doch nicht für alle Branchen bieten sich Onlineshops an. Das bestätigt auch Peer Foelster, Vorstandsmitglied der Vereinigung der am Drogen- und Chemikalien-Groß- und Außenhandel beteiligten Firmen (VDC), deren Händler beispielsweise Hersteller von pharmazeutischen Fertigarzneimitteln beliefern. „Vertrauen in die Qualität der Produkte ist bei uns entscheidend. Die Kunden wollen deshalb nicht anonym im Netz bestellen. Dazu kommen die gesetzlichen Regelungen, die allein einen Onlinevertrieb unmöglich machen“, sagt Foelster. Ein fehlerhafter Pullover könne leicht zurückgeschickt werden. Aber ein fehlerhafter Wirkstoff könne ganz andere Folgen haben. „Es gibt eben noch Branchen, wo es ohne persönlichen Kontakt zwischen Kunde und Lieferant nicht geht“, betont er.

Benjamin Klooß verzichtet aus einem anderen Grund auf einen Onlineshop. Als Geschäftsführer von Pavimenti Parkett sind Holzböden seine Kernkompetenz. Selbstverständlich bietet Pavimenti Parkett auch Vinyl- und Laminatböden an – aber „Holz muss man in der Hand gehabt haben. Das muss man sehen, denn im Netz sind die Farbabweichungen nicht so gut zu erkennen wie im Geschäft. Deshalb macht ein Onlineshop für uns wenig Sinn“, sagt Clubmitglied Klooß. Allerdings sei es nicht nur das Touch & Feel, sondern besonders die persönliche Beratung, die für einen stationären Verkauf spreche. Im Showroom von Pavimenti Parkett werden die verschiedenen Parketthölzer nicht in Lagerhallen- oder Baumarktatmosphäre präsentiert, sondern auch soll – wie bei Lederdesign Hamburg – der Einkauf zum Erlebnis werden.

Die Kunden lassen sich im Laden beraten und kaufen dann im Internet ein.

In Lounge-Atmosphäre werden die Kunden bei einem Espresso beraten. „Es ist vor allem die Beratungsleistung, die die Kunden weiter in den Fachhandel zieht“, sagt Klooß. Doch auch er bekommt die Konkurrenz durchs Netz zu spüren, auf Seiten wie holzprofi24.de und parkett-store24.com wird mit Preisen geworben, mit denen der Einzelhandel nicht immer mithalten kann. Immer wieder komme es vor, dass die Kunden sich bei Pavimenti beraten lassen, die Ware aber online kaufen. „Showrooming“ nennen Fachleute das oder auch: Beratungsdiebstahl – möglich erst durch das Netz, das Preistransparenz und Vergleichbarkeit bietet. Betroffen davon sind alle Branchen – und das immer stärker.

„Deutschlandweit wird Showrooming in den kommenden Jahren höchstwahrscheinlich weiter an Bedeutung gewinnen“, heißt es in der Studie von ECE und Roland Berger. Doch Hersteller und Händler könnten dies bewusst zum eigenen Vorteil einsetzen und den Verbrauchern bei ihrem Informationsbedürfnis – auch vor einem Onlinekauf – entgegenkommen, in dem sie auf der stationären Fläche direkt vor dem Kanalwechsel „abgefangen“ werden. Selbst wenn der Kunde nur zur Vorbereitung eines Onlinekaufs ins Geschäft komme, stünden die Chancen nicht schlecht, ihn vor Ort zum Kaufabschluss zu bewegen. „Kauflust entsteht aber nur, wenn der Händler die richtige verführerische und überzeugende Atmosphäre schafft.“ Mit gekonnter Produktinszenierung und Beratungskompetenz könne gepunktet werden. „Aber Vorsicht: Ein reines Erhöhen der Anzahl der Verkaufsmitarbeiter ist damit nicht gemeint. Die Beratungskompetenz ist nicht eine Funktion der Anzahl der Personen, sondern vor allem ihrer Qualität, Authentizität und Glaubwürdigkeit sowie ihrer Motivation“, unterstreicht die Studie.

Das setzt auch Klooß bei Pavimenti um: „Bei uns bekommen die Kunden das komplette Paket. Von der Beratung über das Material bis hin zur Verlegung, auch die Koordination mit den Architekten und Handwerkern nehmen wir ihnen ab.“ Unverzichtbar sei allerdings die Präsenz im Netz, durch die viele Kunden überhaupt erst auf das Unternehmen aufmerksam aber werden. Um bei den Suchmaschinen auf den vorderen Plätzen zu landen, investiert Pavimenti auch in Search Engine Optimization (SEO), Suchmaschinenoptimierung. Der Sportwarenhändler Sportscheck arbeitet derweil gezielt an einer Verschmelzung von stationärem und Onlinehandel. Gerade ist in München der neue Flagship Store eröffnet worden, das größte Sportkaufhaus in einer europäischen Innenstadt auf über 10 000 Quadratmetern. Auch hier soll das Shoppingerlebnis inszeniert werden. „Auf dem Laufband kann der Kunde seine Schuhe ausprobieren, in der Golfabteilung seinen Schwung analysieren lassen und beim Sportscheck-Coaching seinen individuellen Trainingsplan erarbeiten“, erklärt Stefan Herzog, Sprecher der Geschäftsführung.

Gleichzeitig ist die Filiale mit Flachbildschirmen ausgestattet, auf denen der Kunde seine Ware online nach Hause bestellen kann. „Falls eine Ware in der Filiale zum Beispiel einmal nicht verfügbar ist, wird sie dem Kunden über den Internetshop nach Hause geliefert. Dafür haben die Verkäufer ein iPad zur Hand, das neben der Möglichkeit der Warenbestellung auch zur umfangreichen Beratung und Information des Kunden genutzt wird“, sagt Herzog. Auch in anderen Filialen wie beispielsweise Hamburg könnte das Konzept bald umgesetzt werden. Sportscheck setzt damit den Trend des „Multichanneling“ um, der Verbindung von stationärem und Onlinehandel. Darauf setzen auch andere Firmen wie der Modehersteller Zara. Kunden können die aktuelle Kollektion auch im Netz bestellen, kostenlos ist allerdings nur der Versand in eine Filiale der eigenen Wahl.

„Click & Collect“ heißt das geschickte Prinzip, bei dem der Kunde womöglich nicht nur die bestellte Ware abholt, sondern auch noch einen Blick auf andere Stücke wirft und womöglich kauft. Immer wichtiger für den Onlineeinkauf werden die mobilen Geräte. „Das Smartphone wird sukzessive zur zentralen Schnittstelle zwischen Nachfrage und Angebot, das Cross-Channeling, also die Integration unterschiedlicher Verkaufskanäle, wird daher von Kunden als Standard-Serviceleistung erwartet“, prognostiziert Michael Kuhlmann von der Handelskammer Hamburg.

Doch nicht nur von den Händlern, sondern auch von der Stadt erwartet er Engagement. „Angesichts des Onlinehandels muss niemand mehr zwingend ein stationäres Einzelhandelsgeschäft aufsuchen. Die Kunden müssen kommen wollen. Dies sollten sich auch die für die Stadtgestaltung Zuständigen vor Augen führen. Kunden können für sie unattraktive Standorte mit einem Klick kompensieren“, so Kuhlmann. In Hamburg hätten sich bereits die sogenannten Business Improvement Districts (BIDs) bewährt, bei der sich gewerbliche Mieter und die öffentliche Verwaltung zusammenschließen, um Einkaufsstraßen attraktiver zu gestalten. Claudia Hellmundt von Lederdesign Hamburg wird weiter auf beides setzen: auf den Verkauf stationär wie online. Nur eines funktioniert eben noch nicht – dass die Website beim öffnen so gut nach Leder riecht wie der Laden selbst.

 

Text: Sonja Álvarez      Illustration: Jasmin Nesch

Sonja Álvarez ist Redakteurin und schreibt für den Berliner Tagesspiegel. Bei der Recherche für den Artikel durfte sie viele Shoppingseiten durchstöbern – Schuhe hat sie jedoch noch nie online gekauft.