Nur wer sich ständig hinterfragt, bleibt erfolgreich: Diese Theorie des Ökonomen Joseph Schumpeter ist mehr als 100 Jahre alt – und aktueller denn je. Warum kreative Zerstörung in aller Munde ist und was Unternehmen tun müssen.

Es ist ein Ort mit Vergangenheit, an den das Unternehmen Philip Morris Deutschland geladen hatte, um über die Zukunft zu sprechen. Und er war, das muss gesagt sein: äußerst passend gewählt. In der Hamburger Speicherstadt, wo heute neben Kaffee, Teppichen, Gewürzen aus aller Welt auch Tabak gelagert wird, hier, von wo aus die industrielle Zigarette vor weit mehr als 100 Jahren in ganz Deutschland immer beliebter wurde, verkündete Markus Essing ihr Ende. „Wir verfolgen die Vision einer rauchfreien Zukunft“, sagte der Deutschland-Chef des weltweit größten Herstellers von Tabakprodukten auf der Bühne im Kaispeicher B.
Philip Morris, das ist der Konzern hinter den Marken Marlboro, L&M oder Chesterfield, der Zigaretten in mehr als 180 Länder verkauft und damit 15,5 Prozent Anteil am Weltmarkt hat. In Deutschland ist der Marktanteil mit 37 Prozent mehr als doppelt so groß, 2,3 Milliarden Zigaretten verkauft der Konzern hierzulande – im Monat. Und zukünftig soll es keine einzige mehr sein. „Unser Ziel ist es, eines Tages keine Zigaretten mehr zu verkaufen“, erklärt Essing, seit Januar 2018 Vorsitzender der Geschäftsführung. Warum sagt der Tabakboss solche Sachen?
Die Antwort auf diese Frage ist gleichzeitig auch der eigentliche Grund für die Einladung in die Speicherstadt. Erstmals wollte Philip Morris auf einer Pressekonferenz Zahlen präsentieren über die Marktdurchdringung seiner neuesten Innovation: IQOS. Der kleine Tabakerhitzer ist laut Philip Morris eine weniger schädliche Alternative zur industriellen Zigarette. Denn in dem Gerät wird der Tabak nur noch erhitzt und nicht mehr verbrannt. „Da keine Verbrennung stattfindet, enthält der erzeugte Dampf im Schnitt 90 Prozent weniger Schadstoffe“, erklärt Essing. Geht es nach ihm, ist IQOS nicht nur die Alternative zur, sondern das Ende der Zigarette.
Es klingt skurril: Mehr als 100 Jahre lang hat Philip Morris weltweit Milliarden mit Zigaretten verdient. Jetzt macht sich der Konzern dieses Geschäft kaputt, indem er in eine Innovation investiert, mit der er eine Konkurrenz zum eigenen Produkt geschaffen hat. Was sich irrsinnig anhört, ist tatsächlich aber ein bekanntes Prinzip: das der kreativen Zerstörung. „Bei kreativer Zerstörung wird nicht nur Altes zerstört, sondern dieses durch Neues ersetzt“, sagt Prof. Dr. Henning Vöpel, Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts. Daher sei mit dem Prinzip auch der klassische Unternehmer verbunden, der „weiterdenkt, mit starren Strukturen bricht, sich hinterfragt und das Risiko eingeht, Altes durch Neues abzulösen; kurzum: der Innovation forciert“, sagt der promovierte Volkswirt.
Ein gewisser Joseph Schumpeter, österreichischer Ökonom, Autor und Politiker, kannte dieses Prinzip schon vor mehr als 100 Jahren. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb Schumpeter über Innovation. Jahrzehnte bevor das Thema Mainstream in fast allen Unternehmen wurde. Deshalb ist sein Name noch heute mit dem Prinzip der kreativen oder schöpferischen Zerstörung verbunden. Schumpeter war der Ansicht, ein dynamisches Durcheinander sei viel mehr Charaktereigenschaft einer gesunden Volkswirtschaft als stetiges Gleichgewicht oder Stillstand. Mit anderen Worten: Erfolg hat, wer bereit ist, sich zu verändern. Und nur, wer sich permanent auf den Prüfstand stellt, bleibt erfolgreich. Das ist der Grundgedanke der kreativen Zerstörung. „Dieses Konzept geht auf Schumpeter zurück. Und es ist spannend, dass es gerade wieder aus den Schubladen herausgekramt wird“, sagt Vöpel.
Warum aber ist eine jahrhundertealte Theorie so aktuell? Wie so oft lautet auch hier die Antwort: wegen der digitalen Transformation. „Wir haben durch die Digitalisierung genau diese kreativen Zerstörungsprozesse: Immer wird Altes durch Neues ersetzt“, erklärt Vöpel. Das habe es gewiss schon immer gegeben, dass sich Geschäftsmodelle wandeln, weil die Technik voranschreitet oder ein Strukturwandel stattfindet. Für gewöhnlich seien solche Prozesse aber eher langsam vonstatten gegangen, erklärt der Volkswirt. Weil aber bei der digitalen Transformation alles so schnell, so viel zerstörerischer abläuft, haben die Amerikaner den Wandel „Disruptive Innovation“ genannt – „und wir hatten noch das Prinzip Schumpeter in der Schublade“, sagt Vöpel. Eine große Herausforderung.
Wer überleben will, muss den Wandel rechtzeitig erkennen – und sich anpassen. Das ist Joseph Schumpeters 100 Jahre alte Botschaft – und das rät Volkswirt Vöpel heute. „Hätten sich die Dinosaurier bereits vor dem Meteoriteneinschlag auf veränderte Umweltbedingungen eingestellt und gelernt, sich anzupassen, wären sie nicht ausgestorben“, sagt er. Die Dinosaurier von heute sind die Konzerne – und die wollen es besser machen. Während sich die einen, wie beispielsweise Philip Morris, auf ihre Produkte stürzen, hinterfragen andere, wie etwa die Otto-Gruppe ihre Plattformen. Und immer geht es um das Geschäftsmodell. Vor mehr als 20 Jahren, sagt Otto-Aufsichtsratschef Michael Otto im Interview (Seite 24), habe er erkannt, dass er den Handel ins Internet verlagern müsse. Mit dieser Anpassung hat er vermutlich das Ende seines Kataloges eingeleitet, der im Dezember 2018 tatsächlich zum letzten Mal verschickt wird. Aber seine Firma hat er zukunftsfähig gemacht – oder anders: kreativ zerstört.
Dieses „radikale Denken“ sei aber nur ein wichtiger Schritt auf dem Weg der schöpferischen Zerstörung, sagt Vöpel: „Man muss danach auch mutig in der Umsetzung sein – und über den eigenen Tellerrand hinweg auf andere Branchen blicken.“ Nicht ohne Grund würde der Axel Springer-Verlag sich so sehr für autonomes Fahren einsetzen, nennt Vöpel ein Beispiel. Denn wer sich im Auto nicht mehr mit Fahren beschäftigen müsse, habe auf einmal Zeit für andere Dinge – beispielsweise Zeitungen oder Apps lesen. Auch Amazon oder Google erhöhen ihr Engagement in dieser Entwicklung; denn wer liest, der kann ja auch shoppen oder im Netz surfen.
Was dagegen passiert, wenn Unternehmen den Wandel verpassen, zeigt das Beispiel Sony. Anfang der 80er Jahre brachten die Japaner mit dem Walkman eine Innovation auf den Markt und dominierten das Geschäft mit dem tragbaren Kassettenrekorder fast zwei Jahrzehnte lang. Doch statt die eigene Innovation auf den Prüfstand zu stellen, unterschätzte der Konzern die Bedrohung aus dem Silicon Valley – und so meldete das Unternehmen Apple 2007: 100 Millionen iPods verkauft. Die Presse feierte das Produkt als den Walkman des 21. Jahrhunderts.
Während Apple mit kreativer Zerstörungskraft herausgefunden hat, dass nicht die Hardware der Schlüssel zum Erfolg ist, sondern die geschickte Verbindung mit nützlicher Software wie Apps oder Spielen, hatte Sony bei seinen digitalen Musikplayern immer weiter versucht, die Hardware zu verbessern. Ein großer Fehler, sagt Trendforscher Nils Müller und sieht in diesem Denken eine Gefahr – nicht nur mit Blick auf Produkte, sondern auch auf Strukturen. „In den vergangenen 50 Jahren haben sich Firmen immer effizienter gemacht. Sie haben gelernt, was sie machen, perfekt zu machen“, sagt der Gründer der Zukunftsagentur Trendone: „Aber das Bestehende immer besser zu machen und nichts am Modell grundsätzlich zu ändern, ist genau das Gegenteil von kreativer Zerstörung.“ Daher, so glaubt er, seien gerade große Unternehmen viel zu selten bereit für diese disruptive Innovation, die kreative Zerstörung. Wie kann sich das ändern?
Die Antwort findet Müller in China. Dort, wo Innovationen so erfolgreich sind wie nirgendwo anders auf der Welt. Von den 66 neuen Unicorns – also Start-ups mit einem Wert von mindestens einer Milliarde US-Dollar – stammen allein 22 aus China. „Die Regierung dort fördert es total, innovativ zu sein“, sagt Müller. Mit einem Fünf-Jahres-Plan will die Volksrepublik das Unternehmertum stärken. In staatlich geschützten und finanzierten Gründerzentren wie Dream Town in Hangzhou werden digitale Innovationen und neuartige Geschäftsmodelle gefördert. Gründer bekommen in modernsten Einrichtungen unter anderem Büroräume und Beratungen angeboten und werden administrativ unterstützt. Und das völlig kostenlos. „Das Top-down funktioniert also super“, sagt Müller – und das Button-up? Ebenfalls. „1,4 Milliarden Menschen wollen unbedingt weiterkommen.“ Ein Drittel davon habe es bereits in die Mittelklasse geschafft.
Und in Deutschland? Hier ist das Gegenteil der Fall. „Wir sind nicht Top-Down, hier ist die Regierung orientierungslos“, sagt der Trendforscher – „und Button-up sind wir auch nicht: Immer weniger Menschen wollen selbstständig sein.“ Tatsächlich sank 2017 die Zahl der Existenzgründer unerwartet deutlich um 17 Prozent auf ein Rekordtief von 557 000. „Alles hängt in der mittleren ‚Lame’-Schicht im mittleren Management fest“, sagt Müller. Dort, wo stets am Bestehenden festgehalten wird, weil die Abstimmungsstrukturen so träge sind. Genau auf dieser Ebene müsse der Hebel angesetzt werden. „Es braucht eine starke Führung von oben in Richtung Innovation – und unten eine Freiheit, kreative Zerstörung zuzulassen“, erklärt Müller. Und die „Lame“-Schicht in der Mitte? „Die kann ausradiert werden.“
Radikal denken, mutig umsetzen.
Den Erfolg von IQOS, dem Tabakerhitzer von Philip Morris, erklärt Müller mit genau diesen Ansätzen. „Nicht auf Produktebene denken, sondern eine Ebene höher“, sagt er. „Was geben wir den Menschen eigentlich?“ Volkswagen baue keine Autos, sondern mache Mobilität; Bosch verkaufe keine Bohrmaschinen mehr, sondern helfe Menschen, Dinge zu befestigen. Und Philip Morris biete den Menschen keine Zigarette, sondern gesünderen Genuss. „Auf dieser Ebene entsteht kreative Zerstörung“, sagt der Trendforscher.
Und wie kommen Unternehmen dorthin? Für Müller gibt es vier Faktoren: Weitblick – nicht zwei, drei, sondern zehn, zwanzig Jahre vorausschauen. Kreativität – Denken fördern auf allen Schichten. Kultur – jeder im Unternehmen wird zum Entrepreneur. Und Agilität – die Projekte einfach machen.

 

 

Text: Alexander Siebert Illustration: Stephan Kuhlmann