Der AUFSICHTSRAT kontrolliert den Vorstand, so ist zumindest das allgemeine Verständnis. In Wahrheit ist die Arbeit der Mandatsträger viel umfangreicher. Sie beraten, prüfen, fragen nach und tragen mehr Verantwortung als früher.

Jens Schumann ist stimmlich noch ein wenig angeschlagen, es kratzt im Hals. Die Einschulung seines ältesten Sohnes am Vortag habe ihn doch mehr Stimmkraft gekostet als erwartet. „Wenn man so viele neue Menschen trifft, möchte man sich natürlich auch unterhalten“, sagt er und bestellt sich beim Treffen im Business Club deshalb erst einmal ein stilles Wasser.
Dass er bei solchen Veranstaltungen wie dem großen Tag seines kleinen Sohnes überhaupt dabei sein kann, war für ihn nicht immer selbstverständlich. Schumann hat die Tipp24 AG gegründet und das Unternehmen erfolgreich an die Börse geführt. Das hat ihm viel Erfolg gebracht, aber auch jede Menge Zeit gekostet. Denn als Vorstand waren seine Tage getaktet: Termine, Meetings, Konferenzen. Viel zu tun gab es immer. Aber das ist mittlerweile vorbei.
Heute ist Jens Schumann Aufsichtsrat. 2011 bekam er sein erstes Mandat, zwei weitere sind bisher dazugekommen. Operativ ist der ehemalige Gründer und Unternehmer dagegen nicht mehr tätig. „Aus dem Grund kann ich mir die Zeit jetzt viel flexibler einteilen“, sagt er. Statt als Vorstand selber Entscheidungen herbeizuführen, muss er sie nun kontrollieren und kritisch hinterfragen. Die Kontrolle des Vorstandes ist im Kern die Aufgabe des Aufsichtsrates. Aber das ist heutzutage längst nicht mehr alles. Durch Globalisierung und Digitalisierung haben sich auch die Anforderungen an Aufsichtsräte verändert. Die Themen sind spezieller, die Arbeiten viel umfangreicher als früher. „Der Aufsichtsrat ist längst kein Fangbecken mehr für Businessfreunde, die sich viermal im Jahr treffen und Vorstandsbeschlüsse abnicken, sondern ein wichtiges Gremium“, sagt Dr. Viktoria Kickinger. Die Unternehmerin war Marketingchefin beim österreichischen TVSender ORF, für die Österreichische Bundesbahn tätig und verantwortete 2006 den Börsengang der Österreichischen Post. Seitdem ist die 66-Jährige auch Aufsichtsrätin. Vor einem Jahr hat sie die Directors Academy gegründet, ein Onlineportal, mit dem sie Mandatsträgern hilft, sich für ihre Gremienarbeit auszubilden. Den Wandel beobachtet sie aus nächster Nähe. Doch was genau hat sich eigentlich verändert?
Diese Frage beantwortet Kickinger kulinarisch: „Früher haben Aufsichtsräte genickt und sind essen gegangen. Heute stellen sie kritische Fragen und kriegen ein paar Brötchen dazu. Und in Zukunft werden sie wohl noch kritischer fragen, während Essen gar kein Thema mehr ist“, sagt sie – „etwas flapsig formuliert“. Konkreter bedeutet das: Der Aufsichtsrat hat sich von einem reinen Kontrollgremium, das allein die Arbeit des Vorstandes überprüft, zu einer Art Beraterstab entwickelt, der Entscheidungen nicht nur beurteilt, sondern kritisch hinterfragt und eigene Ideen einbringt. So sei die Arbeit viel professioneller geworden, sagt Kickinger.
Das beginnt bereits bei der Besetzung. Während in der Vergangenheit weniger Wert auf die Zusammenstellung der Mandatsträger gelegt wurde, geben Unternehmen diese Aufgabe heutzutage nicht selten in die Hände von Personalberatern. Das Ziel: Es soll ein Gremium entstehen, das die komplette Bandbreite der Firma abbildet. Das heißt, wenn innerhalb des Geschäftsmodells das Thema Marketing eine große Rolle spielt, sollte auch ein Marketingexperte im Aufsichtsrat sitzen. Setzt die Firma auf Expansion, ist es hilfreich, einen erfahrenen Personaler zu berufen. „Früher waren kritische Nachfragen nicht gewünscht, heute wird der Rat so besetzt, dass kritische Nachfrage entsteht“, sagt Kickinger. Aus diesem Grund entscheidet auch nicht der Vorstand über Besetzung, sondern die Hauptversammlung, die Vorständen und Aufsichtsräten in der Regel ebenfalls kritisch gegenübersteht.
Auf der anderen Seite müssen Aufsichtsräte aber auch viel gewissenhafter arbeiten, etwa durch das Thema Haftung. Anders als früher können Mandatsträger heutzutage für Entscheidungen, die sie mittragen, auch zur Verantwortung gezogen werden. Etwa bei der Rechnungsprüfung. „Der Aufsichtsrat beschließt den Jahresabschluss – und haftet auch dafür“, sagt Kickinger. Heißt: Gibt es Ungereimtheiten, müssen auch die Räte dafür aufkommen. Darüber hinaus beruft der Aufsichtsrat den Vorstand und beschließt dessen Vergütung. Fällt diese unangemessen hoch aus, kann der Aufsichtsrat dafür ebenfalls haftbar gemacht werden. Das alles hat zur Folge, dass die Verantwortung der Aufsichtsräte gegenüber Unternehmen immer weiter wächst – und sich der Rat zwangsläufig professionalisieren muss.
Als professionell hat Jens Schumann die Arbeit von Aufsichtsräten seit jeher wahrgenommen. Doch auch er beobachtet Veränderungen. „Ich werde zum Beispiel mittlerweile viel häufiger nach der Haftung gefragt“, sagt er, „da hat sich schon etwas getan.“ Die größte Veränderung in seiner Geschichte ist jedoch der Perspektivwechsel. Schumann kennt den Aufsichtsrat aus beiden Blickwinkeln: aus der des Vorstands und aus der des Aufsichtsrats. Und das im selben Unternehmen: der Tipp24 AG, einem Lotto-Kiosk im Internet, den er 1999 selbst gegründet hat. Ende 2009 ist er als Vorstand aus dem operativen Geschäft ausgestiegen und hat das Unternehmen daraufhin verlassen. Nach zwei Jahren Pause kehrte Schumann 2011 zurück – als Aufsichtsrat seiner Firma, die heute als Zeal Network SE firmiert und europaweit tätig ist. Damals führte er die Geschäfte, jetzt kontrolliert und berät er den Vorstand.
Der Blick auf seine eigene Firma fällt dem Unternehmer nicht schwer. „Man muss die Rolle des Aufsichtsrates annehmen“, sagt er und hat auch ein Beispiel dafür: „Wenn der Vorstand eine Veränderung plant und diese nachvollziehbar hergeleitet hat, muss ich einzig und allein das bewerten. Egal, ob ich als Vorstand anders vorgegangen wäre.“ Während er die Budgets früher selber erstellt hat, ist es heute seine Aufgabe, sie kritisch zu beäugen. Aber das ist längst nicht alles. Als Aufsichtsrat berät er den Vorstand bei Personalentscheidungen und der Ausrichtung der Firma. Immer mehr stehen dabei auch strategische Themen im Fokus. „Alte Strukturen aufzubrechen und querzudenken: Das ist meine Stärke“, sagt Schumann, der neben dem Mandat bei Zeal auch in den Aufsichtsräten der Zeal-Ausgründung Lotto24 AG und des Berliner AdTech-Unternehmens Fyber NV sitzt, das im Onlinemarketing unterwegs ist.
Diese neue, beratende Funktion des Aufsichtsrates macht sich auch Jörg Strömmer zunutze. Und das, obwohl er ein Kontrollgremium eigentlich gar nicht vorweisen muss. Strömmer ist Geschäftsführer der emutec Group. Als GmbH mit weniger als 500 Mitarbeitern braucht er rein rechtlich keinen Aufsichtsrat. Trotzdem hat er gleich zwei Beiräte integriert: Seit 2012 gibt es einen wissenschaftlichen und seit 2015 einen Beirat für Personalentwicklung und -findung. „Der Grund dafür war jeweils derselbe“, sagt Strömmer, „Wachstum.“
Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Stefan Winter hat Jörg Strömmer vor 16 Jahren ein kleines Ingenieurbüro gegründet: Die Emutec GmbH, die Energiekonzepte entwickelt, etwa für Büro- und Wohngebäude oder Produktionshallen. Heute ist die Unternehmensgruppe auf insgesamt drei Firmen und rund 160 Mitarbeiter gewachsen. „Wenn ein Unternehmen so rasant wächst, kann man als Geschäftsführer gar nicht mehr alles im Blick behalten“, sagt Strömmer, der, damals noch selbst aktiver Planer, Themen wie technische Entwicklungen oder neue Gesetze mehr und mehr aus den Augen verlor. Also hat er sich professionelle Hilfe geholt und mit Prof. Dr. Thomas Juch und Prof. Dr. Michael Röther 2012 einen wissenschaftlichen Beirat einberufen, der jede Menge Know-how ins Unternehmen bringt. „Der Beirat ist wie eine Schnittstelle zwischen uns und der Wissenschaft“, sagt Strömmer. Viermal im Jahr treffen sich Beirat und Geschäftsführung. Sie beraten über neue Projekte, tauschen sich über technische Neuheiten aus oder wägen operative Entscheidungen ab. „Darüber hinaus profitieren wir von den guten Kontakten in die Wissenschaft“, sagt Strömmer und meint damit die Verbindung über Prof. Dr. Juch an die Hochschule Bremerhaven oder den Kontakt zur Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, an der Prof. Dr. Röther lehrt. Diese Kontakte bringen nicht nur zusätzliches Wissen, sondern mit den Studenten auch künftige neue Mitarbeiter. „Wir setzen gezielt darauf, junge Leute zu holen, die wir mit dem Unternehmen weiterentwickeln“, sagt Strömmer.
Denn auch an ihm zieht der Fachkräftemangel nicht spurlos vorbei. „Es wird immer schwerer, gute Ingenieure zu finden“, sagt der Unternehmer und hat sich auch dafür Hilfe geholt. Seit 2015 kümmern sich Marianne Gluth von Goessel, Meike Siemen und Dr. Silvia Funk, allesamt erfahrene Personal- und Organisationsentwickler, um das Finden und Integrieren von neuen Mitarbeitern. Für Strömmer selbst war es zunächst wichtig, sich auf die Anforderungen der neuen Generation Fachkräfte einzustellen. „Als mich der erste junge Vater hier auf Elternzeit angesprochen hat, bin ich zusammengezuckt. Bei uns gab es das früher gar nicht“, sagt der 56-Jährige. Mittlerweile hat die Geschäftsführung gemeinsam mit dem Beirat nicht nur neue Arbeitszeitmodelle für Eltern erarbeitet oder das Homeoffice eingeführt, die Firma bezuschusst nun beispielsweise auch Freizeitangebote oder Notfallbetreuung für Kinder, um den jungen Fachkräften Argumente zu liefern. Die Ideen dazu kamen unter anderem aus dem Beirat.
Über seine Arbeitszeiten braucht sich Jens Schumann keine Gedanken mehr zu machen. „Ob ich die Präsentation für die nächste Aufsichtsratssitzung morgens um acht oder nachts um vier vorbereite, ist egal“, sagt er darüber, dass er sich seine Arbeitszeit nun besser einteilen kann. Dass er irgendwann noch einmal operativ arbeitet, kann der ehemalige Vorstand nicht sagen. Sicher ist nur: Zeit für zwei Einschulungen wird er in den nächsten Jahren noch brauchen.

 

Text: Alexander Siebert Illustration: Stephan Kuhlmann