Zeiten ändern sich. Unternehmen setzen auf flexible Arbeitsplätze oder CLOUD-WORKING. Notebooks, Tablets und Smartphones sorgen dafür, dass wir zukünftig nicht mehr auf ein festes Büro angewiesen sind.
Wenn Hans Rhien morgens ins Büro kommt, muss er sich erstmal einen freien Schreibtisch suchen. Einen festen Platz hat er schon seit Jahren nicht mehr, genau so wenig wie seine Kollegen. Flexdesk heißt dieses Konzept. Rhiens Unternehmen, die IBM Deutschland GmbH hat den Flexdesk vor mehr als zehn Jahren etabliert. Jeder Mitarbeiter des Computer- und IT-Konzerns soll sich jeden Tag den Schreibtisch suchen, an dem er am besten seine jeweilige Aufgabe umsetzen kann. Projektgruppen sollen so flexibler und effizienter miteinander arbeiten können, andere große Unternehmen wie Siemens oder PriceWaterhouseCoopers setzen inzwischen auf ähnliche Modelle.
In den nächsten fünf Jahren – das ergab eine Umfrage unter deutschen Unternehmern – werden Büros ohne feste Arbeitsplätze um 40 Prozent steigen. „Ich finde dieses Konzept super, weil ich damit immer die Freiheit habe, mich mit den Kollegen zusammenzusetzen, mit denen ich gerade an einem Projekt arbeite“, sagt Hans Rhien, 47, der im Hamburger IBM-Gebäude am Berliner Tor arbeitet und in der Sparkassenfinanzgruppe das Datenbankgeschäft verantwortet. Persönliche Sachen, wie Unterlagen oder seinen Rollkoffer, mit dem er regelmäßig Kunden besucht, bewahrt er in seinem Aktenschrank auf, jeden Abend verlässt er seinen Schreibtisch so, wie er ihn am Morgen vorgefunden hat: leer.
Wir stehen am Beginn einer Revolution
Dass man feste Arbeitsplätze, bestehend aus Schreibtisch, Computer und Telefon abschafft, ist nur ein kleiner Teil der großen Veränderung, die mit dem Arbeiten im digitalen Zeitalter vor sich geht. Derzeit befinden wir uns in einer Übergangsphase, ähnlich wie zu Beginn der Industrialisierung, sagt der Arbeitswissenschaftler Ulrich Klotz: „Damals ließen neue Techniken wie Dampfmaschine, Eisenbahn oder später das Fließband allmählich das entstehen, was wir heute als Arbeit kennen: Arbeitsplatz, Arbeitszeit, Arbeitsort, Ausbildungs- und Entlohnungsformen.“ Mit der zunehmenden Verbreitung von Computern und des Internets haben sich die Arbeitsprozesse längst verschoben, doch erneut stehen wir jetzt am Beginn einer Revolution – am Übergang zur Arbeit 3.0. „Notebooks, Smartphones, Tabletcomputer und leistungsfähige Daten- und Sprachverbindungen schaffen die Voraussetzungen dafür, dass wir nicht mehr auf eine fest installierte Büroinfrastruktur angewiesen sind, um effizienter arbeiten zu können. Arbeit wird auf diese Weise flexibler“, erklärt Dieter Kempf, Präsident des IT-Branchenverbands Bitkom. Zu den wohl größten Umbrüchen gehört das Cloud-Computing, das Arbeiten in der virtuellen Daten-Wolke. Die Dokumente werden in der Cloud zentral gespeichert, lokale und globale Interaktion sind hier problemlos möglich, denn ob die Mitarbeiter in Hamburg, Helsinki oder Houston sitzen, spielt keine Rolle mehr, sie können innerhalb der Cloud gleichzeitig an Dokumenten arbeiten – so, als würden sie zusammen in einem Büro sitzen.
In den kommenden fünf Jahren werden Büroräume ohne feste Arbeitsplätze um 40 Prozent steigen.
Unter einem ökologischen Aspekt von Vorteil, noch mehr mit einem Blick auf Kosten und Effizienz: Alle Mitarbeiter sind immer auf dem aktuellsten Stand, ohne dass neue Versionen permanent per E-Mail herumgeschickt werden müssen. Dazu macht es keinen Unterschied mehr, ob ein Mitarbeiter in einer ländlichen oder städtischen Region wohnt, räumliche Grenzen gibt es in der Cloud nicht. Bereits jedes dritte Unternehmen in Deutschland nutzt nach einer Studie der Bitkom Cloud-Lösungen; insbesondere in der Informationstechnologie- und Telekommunikationsbranche sowie im Finanzsektor wird mit der Wolke gearbeitet, um IT-Strukturen und -Prozesse effizienter und damit kostengünstiger zu gestalten. Im Automobil-, Maschinen- und Anlagenbau sowie im Groß- und Einzelhandel ist das Interesse dagegen noch gering, ebenso im mittelständischen Bereich. Vor allem private Clouds, also in Eigenregie verantwortete Lösungen, werden dabei aus Gründen der Datensicherheit bevorzugt.
Auch IBM-Mann Hans Rhien arbeitet täglich in der Cloud – und hat bisher nur positive Erfahrungen gemacht. „Wenn jemand in der Gruppe beispielsweise wegen Krankheit oder Urlaub ausfällt, wird das Projekt trotzdem vorangetrieben, weil die benötigten Dokumente nicht bei einer einzelnen Person, sondern eben an einem zentralen Ort gespeichert sind“, sagt er. Auch privat nutzt er längst selbst Cloud-Services: Muss sein Sohn in Braunschweig beispielsweise ein wichtiges Dokument unterzeichnen, stellt er es in die virtuelle Wolke. „Für mich ist das ein unkomplizierteres Verfahren als per E-Mail zu kommunizieren.“ Seine Kunden aus dem Bankensektor sind dagegen noch zurückhaltend, eben weil es um hochsensible Kundendaten geht. „Jedes Unternehmen muss deshalb für sich überlegen: Wie viel Cloud will ich sein?“, sagt Hans Rhien und prophezeit: „Ganz ohne Cloud wird bald allerdings kein Unternehmen mehr auskommen und erfolgreich sein Business machen können.“
Der Computerriese IBM will mit Hilfe von Crowd Sourcing mehrere tausend Arbeitsplätze abbauen.
Doch es sind nicht allein Sicherheitsgründe, die Cloud-Skeptiker in ihren Bedenken bestärken. Vielmehr ist es die Sorge um völlig neue Arbeitsstrukturen, die entstehen – und bei der am Ende die Mitarbeiter auf der Strecke bleiben könnten. Denn wenn Menschen von überall auf die Wolke zugreifen müssen – warum sollte ein Unternehmen sich dann überhaupt noch festangestellte Mitarbeiter leisten? Wenn sie wie ein Produktionsmittel weltweit nach Bedarf angeheuert und gefeuert werden können? Es kommt quasi zu einer Verflüssigung der Arbeitsstrukturen, „Liquid“ heißt passenderweise auch IBMs neues Organisationsprogramm. Mehrere tausend Arbeitsplätze will der Computerriese abbauen, indem er auf so genanntes Crowdsourcing zurückgreift. Projekte werden dabei in kleine Arbeitspakete zerlegt und übers Netz weltweit ausgeschrieben, jeder kann sich dann auf diese Projekte bewerben. Schon jetzt gibt es auf Plattformen wie twago.de (mehr als 225 000 Nutzer) und freelancer.com (mehr als zehn Millionen Nutzer) zahlreiche IT-Spezialisten, die ihre Dienste anbieten, teilweise für fünf US-Dollar – sie sind damit die Wanderarbeiter des 21. Jahrhunderts. Nur dass sie nicht von Stadt zu Stadt ziehen, sondern von Wolke zu Wolke. Für die Unternehmen ist die Entwicklung unter Kostengesichtspunkten attraktiv, dazu sourcen sie ihr Risiko aus. Und genau das kritisieren Gewerkschaften wie Verdi. Das unternehmerische Risiko werde „maximal“ auf Individuen verlagert, heißt es im „Berliner Cloudworking-Crowdsourcing-Papier“, das Verdi 2013 veröffentlichte. Von der „massenhaften Vernichtung guter, sicherer und hochqualifizierter Arbeitsplätze“ ist da die Rede wie von einem „Preisdumping bisher unbekannten Ausmaßes“.
Große Konkurrenz in der „Talent Cloud“
Keine Frage: Wenn Arbeiter aus den Niederlanden in der „Talent Cloud“ plötzlich mit Kollegen aus Nigeria konkurrieren, dürften sich automatisch Verschiebungen im Lohnniveau ergeben. Problematisch ist insbesondere das Bewertungssystem der Freelancer. Wie in sozialen Netzwerken müssen sie „likes“ sammeln für ihre erbrachten Leistungen, ihre Stärken, Schwächen und Qualifikationen. Läuft ein Projekt weniger gut, droht schnell ein Downgrade, was weniger Chancen auf einen neuen Auftrag zur Folge haben dürfte. Arbeitsforscher Klotz bezeichnet die Entwicklung als zwiespältig und spricht von den „Fesseln neuer Freiheiten“: ein „Höchstmaß an Eigenverantwortung und Selbstorganisation kombiniert mit minimalen Absicherungen und Planbarkeiten“.
Aber nicht allein Cloud-Computing und Crowdsourcing werden zum revolutionären Faktor, auf dem die „schöne neue Arbeitswelt“ gründet. Während sich mit diesen Technologien bisher nur ein eingegrenzter Kreis von Unternehmen beschäftigt, ist die Nutzung von Notebooks, Smartphones und Tablet-Computern längst Standard geworden. Arbeit ist mobil. Für Beschäftigte entstehen Freiräume, private und berufliche Aufgaben können besser aufeinander abgestimmt, miteinander verbunden werden. Doch genau dadurch wächst der Druck, für seinen Arbeitgeber permanent verfügbar sein zu müssen, nicht mehr trennen zu können zwischen Arbeit und Freizeit.
„Recht auf Unerreichbarkeit“ für Mitarbeiter
Fast jeder zweite Beschäftigte arbeitet nach einer Bitkom-Studie zumindest hin und wieder zu Hause; ergänzt mit den Zahlen der Unternehmer, von denen sich lediglich 29 Prozent keine Erreichbarkeit ihrer Beschäftigten vor oder nach Dienstschluss wünschen, zeigt dies, welche Ansprüche aus der gestiegenen Mobilität abgeleitet werden. Doch immer mehr Konzerne ziehen die Bremse. Gerade erst hat BMW angekündigt, auf diese Herausforderungen zu reagieren. Wer von zu Hause oder unterwegs sein Smartphone oder Notebook dienstlich nutzt, kann diese sogenannte Mobilarbeit künftig auf seinem Arbeitszeitskonto eintragen. Mitarbeitern wird dazu ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ eingeräumt in Zeiträumen, die mit den jeweiligen Vorgesetzten ausgemacht werden. Ähnliches hat Autobauer VW etabliert. Der Betriebsrat setzte durch, dass auf den Blackberry-Geräten der Mitarbeiter 30 Minuten nach Feierabend keine E-Mails mehr empfangen werden können. Auch bei der Telekom, bei Eon und Puma werden Mitarbeiter dazu aufgefordert, in der Freizeit und im Urlaub ihre Geräte – und damit selbst – abzuschalten. Noch gibt es keine gesetzliche Regelung für ein E-Mail-Verbot nach Dienstschluss und eine solche dürfte auch kaum zu kontrollieren sein. Am Ende ist es deshalb der Mitarbeiter selbst, der sich kontrollieren muss.
Patrick Postel weiß allerdings, wie schwer das ist. Der Geschäftsführer der Hamburger IT-Firma Silpion trickst sich deshalb selber aus. Als er Anfang des Jahres in den Urlaub gefahren ist, bekam seine Sekretärin das Passwort für sein E-Mail-Konto und änderte es. Reiner Selbstschutz für Postel, 39, damit er während des Urlaubs nicht einmal doch kurz in den Posteingang schaut – und mit den Gedanken plötzlich wieder voll bei der Arbeit ist. Seine 125 Mitarbeiter fordert Postel ebenfalls dazu auf, in der Freizeit abzuschalten. Ohnehin ist er sehr darauf bedacht, in seinem Unternehmen eine „Wohlfühlatmosphäre“ zu schaffen: Kicker, Dart, Massagen, all das dürfen seine Kollegen in Anspruch nehmen. „Der Unternehmenswert steckt in den Köpfen der Mitarbeiter. Wenn sie sich wohl fühlen, stimmen auch ihre Leistungen“, erklärt Postel.
Silpion ist darauf spezialisiert, passende IT-Lösungen für Unternehmen zu finden, zu implementieren und anschließend zu betreuen. Enterprise 2.0 ist für Postel dabei der neue Trend – gemeint ist selbstverständlich nicht das berühmte Raumschiff, sondern Firmen. „30 Prozent der täglichen Arbeitszeit gehen mit E-Mail- schreiben und Konferenzen drauf. Wertvolle Zeit, bei der gespart werden kann, wenn auf zentrale Lösung gesetzt wird“, ist Postel überzeugt. Enterprise 2.0 ist dabei an soziale Netzwerke angelehnt. Wie auf der Facebook-Pinnwand könnten Mitarbeiter in einem Activity-Stream die Entwicklungen im Unternehmen verfolgen und seien so stets auf dem aktuellen Stand. Auch neue Mitarbeiter würden viel schneller eingearbeitet, indem sie sich über den Stream selbst über Historie und Ablauf von Prozessen informieren. „Solche Neuausrichtungen der Kommunikations- oder Kollaborations-Tools funktionieren in einem Unternehmen allerdings nur, wenn alle Mitarbeiter miteingebunden werden und alle das Gefühl haben, dass es ihr gemeinsames Projekt ist“, betont Postel.
Durch die Arbeit mit Tablet, Notebook und Smartphone haben Mitarbeiter private und berufliche Freiräume.
So fortschrittlich der Unternehmer denkt, so konservativ ist er allerdings, wenn es um die Arbeitsplätze geht. Jeden Tag an einem neuen Schreibtisch sitzen zu müssen, wie es bei IBM Hans Rhien und zahlreiche andere Mitarbeiter tun, will er seinen Kollegen nicht zumuten. „Ein Schreibtisch sollte nicht ein nackter, seelenloser Platz sein. Irgendetwas Persönliches neben dem Computer stehen zu haben, um sich ein bisschen zu Hause zu fühlen, tut gut“, ist Postel überzeugt. Er selbst hat auf seinem Schreibtisch etwas stehen, auf das er nicht verzichten möchte: das Bild seiner Lebensgefährtin.
Text: Sonja Álvarez Illustration: Jasmin Nesch
Sonja Álvarez schreibt für den Tagesspiegel in Berlin und das Handelsblatt in Düsseldorf – dank moderner Kommunikationstechnik ist der Standort der Redaktion aber kaum von Bedeutung.