Professor Dr. Ulrich Reinhardt, 49, ist Zukunftswissenschaftler und Wissenschaftlicher Leiter der „Stiftung für Zukunftsfragen – eine Initiative von British American Tobacco“. Zudem hält er eine Professur für Empirische Zukunftsforschung am Fachbereich Wirtschaft der FH Westküste in Heide.

Krisen gab es schon immer. Alleine in meinem Leben gab es die Öl- und Energiekrise in den 1970ern, Tschernobyl in den 80er Jahren, Golfkrieg in den 90ern, den 11. September 2001, die Wirtschafts-, Euro-, Griechenland-, Finanz- und Flüchtlingskrise. Und entgegen vielen Erwartungen hat sich durch keine dieser Krisen unser Leben dauerhaft negativ entwickelt oder radikal verändert. So wird es sehr wahrscheinlich auch bei der jetzigen Coronakrise sein.
Doch was ist eine Krise? Im Altgriechischen war krisis ein neutraler Begriff für den Wendepunkt in einem Entwicklungsprozess. Somit kann jede Krise auch als Chance auf eine Verbesserung gesehen werden. Positive Veränderungen erleben wir schon jetzt in vielen Bereichen. So sind zahlreiche Arbeitnehmer in der Lage von daheim zu arbeiten. Sorgen von Arbeitgebern bezüglich Qualitäts-, Effektivitäts- oder Kontrollverlust haben sich hierbei ebenso wenig bestätigt, wie die Ängste von Gewerkschaftsvertretern, dass zu viel gearbeitet wird. Geholfen hat hierbei zweifellos die Digitalisierung. Wurde sie in der Vergangenheit oftmals mit Skepsis, Ablehnung und Ängsten betrachtet, werden jetzt ihre vielfältigen Möglichkeiten geschätzt und genutzt.
Weiterentwickeln und anders sein wird auch unser Umgang unter- und miteinander. Dabei meine ich nicht Händeschütteln und Umarmungen, gemeinsames Feiern oder dicht gedrängt neben Fremden im Kino, Theater oder Fußballstadion zu sitzen – all das wird mittelfristig und schrittweise wieder selbstverständlich sein. Nein, ich glaube, die derzeitigen Einschränkungen im sozialen Miteinander verstärken den Wunsch der Bürger nach mehr Gemeinschaft, Geborgenheit und Geselligkeit. Denn mehr als jeden Urlaub, Konzertbesuch oder Shoppingbummel vermissen die Bundesbürger das Zusammensein mit Menschen, die ihnen wichtig sind. Entsprechend sehe ich die Chance auf eine dauerhaft steigende Bedeutung der Familie, eine Renaissance der Nachbarschaft und einen stärkeren Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Nutzen wir also die Erkenntnisse und neuen Möglichkeiten, die uns diese Pandemie eröffnet und halten es einfach mit Max Frisch: „Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“.

 

FOTO: M. KUHN