Zugegeben: Anderswo ist vielleicht mehr Romantik. Dafür liegen die HOCHSCHULEN UND UNIVERSITÄTEN der Stadt Hamburg deutlich näher an der Wirklichkeit. Und genießen dafür höchste Anerkennung.

Was muss das für ein Aufbruch gewesen sein! Welche Zähigkeit, welcher Hunger nach Heilung, welcher Drang, eine Zukunft aufzubauen! Ende 1918, der Krieg war verloren, das Land gedemütigt, verwundet und geschwächt – da wandten sich die Professoren des Allgemeinen Vorlesungswesens in Hamburg an ihren Bürgermeister Werner von Melle: Es sei an der Zeit, eine eigene Universität zu gründen. Jetzt.
Und sie gründeten. Am 28. März 1919 fasste die erste demokratisch gewählte Bürgerschaft der Hansestadt den Entschluss; schon am 10. Mai wurde die Universität eröffnet, feierlich, mit einem Festakt in der Musikhalle, aber auch in einer gewissen Unruhe: Hatte das Land nicht Intelligenz und Lebensmut einer ganzen Generation vergeudet? Und war nicht zu befürchten, dass die Zeit den jungen Leuten noch weiter davonlief? Zugegeben, jeder Vergleich hinkt – aber Eile ist auch heute geboten. Das Klima, eine schleppende Digitalisierung, eine Pandemie, die jede Unzulänglichkeit des Systems ins Tragische vergrößert, dazu tektonische Verschiebungen in den Bündnissen der Weltpolitik, die Mobilität, die Demografie, der Konflikt zwischen den Generationen, ein bedrohter Wohlstand: Wieder mal stehen alle Zeichen auf Aufbruch.

Seminare in der Privatwohnung
Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, beschlossen die Gelehrten, Verantwortung zu übernehmen, etwas zu tun für das ausgeblutete Land, vor allem aber, den Betrogenen selbst einen Lebensweg zu eröffnen: etwas lernen, einen Beruf ergreifen, doch noch Sinn finden. Im Rathaus liefen sie offene Türen ein: Der Weg in eine bessere Zukunft für alle, da herrschte Einigkeit, begann mit Bildung. Möglicherweise wird das eine oder andere Detail nicht letztgültig geklärt gewesen sein, Lehrpläne, Finanzierung, Organisation. Aber das würde sich finden. Manches Seminar fand in einer Privatwohnung statt; man improvisierte. Und es klappte. Vielleicht haben schlimme Zeiten da ja auch ihr Gutes. Vielleicht taugen sie in der Hinsicht sogar als Vorbild.
Zum hundertsten Geburtstag hat sich die Universität ein eigenes Museum geschenkt. Im Hauptgebäude an der Edmund-Siemers-Allee, erster Stock, ein paar schön gestaltete Räume. Zu sehen ist ein Zeitstrahl seit den Tagen des Vorlesungswesens und des Kolonialinstituts, aus denen die heutige Universität hervorgegangen ist: Bücher und Plakate, Präparate aus der Medizin, die Nobelpreisurkunde des Physikers Otto Stern, auch das Transparent, sogar im Original, das seinerzeit einer ganzen Bewegung ein Motto gegeben hat, „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“. Was sich eben so zeigen lässt, wenn Forscher ihre Beobachtungen aus der Natur zu Formeln kondensiert haben, psychologische Tests entwickelt, die Systematik der Kunstgeschichte revolutioniert und vor allem: Generationen von Hörerinnen und Hörern in das wissenschaftliche Denken eingeführt haben. Was dabei aber deutlich wird: Wissenschaft, Forschung und Lehre eignen sich nur bedingt als Sammelstücke fürs Museum. Vor allem sind sie eine Form der Kommunikation.

Hamburg ist nicht Heidelberg oder Marburg
Genau da aber gibt sich viel vom Wesen einer Stadt zu erkennen. Hamburg ist nun mal nicht das romantische Heidelberg oder Marburg mit seinen verwinkelten Gassen, nicht Berlin, Frankfurt oder Göttingen, sondern eine Hansestadt, ein Tor zur Welt, ein Hafen, dem Southampton oder Shanghai mindestens ebenso nah liegen wie die Tagesordnung einer Fachbereichsratssitzung im Turm der Philosophen. Und mag auch Gelehrsamkeit ein hohes Gut sein, irgendwann kommt die Frage: Welchen Nutzen hat das für die Gesellschaft? Was lässt sich damit anfangen? Womöglich passiert das in Hamburg früher und klarer als unter den Mauern einer malerischen Burgruine oder am Rande eines Gänselieselbrunnens.
Damit nur nicht der Eindruck falscher Zurückhaltung entsteht: Der Philosoph Ernst Cassirer und der Psychologe William Stern haben in Hamburg gelehrt, die Soziologen Helmut Schelsky und Ralf Dahrendorf, die Kunsthistoriker Erwin Panofsky und Aby Warburg, die Germanisten Agathe Lasch und Jan Philipp Reemtsma. Lauter große Namen. Olaf Scholz und Annalena Baerbock haben hier studiert, Helmut Schmidt und Wolfgang Schäuble, der Astronaut Alexander Gerst, der Philosoph Peter Sloterdijk, die Journalistin Caren Miosga. Auch diese Liste ließe sich fortsetzen ad infinitum. Der Zeichner Horst Janssen noch und der Spaßmacher Otto Waalkes. So viel Zeit muss sein.
Fast 44 000 Frauen und Männer sind an der Universität Hamburg zum Studium eingeschrieben, Verhältnis: 57 zu 43 Prozent. Heute heißen sie Studierende, im Partizip Präsens, die Referenten für Gleichstellung passen da gut auf. Die Form bildet einen Stand der Erkenntnis ab; manchmal versucht sie auch, ihm vorauszueilen. Zu den Studierenden also kommen 13 500 Mitarbeitende im wissenschaftlichen Bereich, in Verwaltung, Bibliothek, Technik und allem, was den Studienbetrieb in Bewegung hält, allein 8200 davon in der Medizinischen Fakultät und am Universitätsklinikum Eppendorf. Die Universität, keine Frage, ist die Platzherrin unter den Hochschulen der Hansestadt. Wo aber sind die 72 393 Studierenden zu finden, die laut Statista noch zur Gesamtzahl von 116 393 fehlen?
Zum Beispiel in Harburg. Zur Gründung der Technischen Universität Hamburg im Jahr 1978 – anfangs trug sie noch den Namen ihres Stadtteils südlich der Elbe, doch auch nach der Umbenennung konnte das Kürzel TUHH im Briefkopf stehen bleiben – gibt es ein hübsches, vielleicht für den hamburgischen Pragmatismus typisches Detail. Schon im Jahr zuvor nämlich setzte sich der Physiker Hans Günter Danielmeyer, später Gründungspräsident der TU, mit einer Reihe von Kollegen aus der Wissenschaft, dazu Vertretern von Wirtschaft und Politik zusammen, um die Frage zu diskutieren, die schon vor der Gründung der großen Schwester, der Universität, so viele Professoren, Finanziers und Menschen aus dem Rathaus umgetrieben hatte: Was lässt sich damit anfangen? Wie bringen wir die jungen und dann gut ausgebildeten Leute auf einen ebenso guten Weg? Und wie sorgen wir dafür, dass die Besten von ihnen dem norddeutschen Wirtschaftsraum erhalten bleiben?
Jede Ähnlichkeit mit den Gesprächen, die seinerzeit der Gründung einer Universität vorausgingen, wäre wohl Zufall. Aber ein bisschen drängt sich schon das Gemälde von Henry Geertz auf, das die Versammlung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung von 1907 zeigt, honorige Bürger der Stadt in diesem Fall, Kaufleute, Reeder, Ratsherren, denen ein Ausbau der Bildungsinstitutionen am Herzen lag. Das monumentale Gruppenbild ist im Zweiten Weltkrieg verbrannt, aber Reproduktionen erinnern noch daran, außerdem viele Straßen in der Stadt, Parks und Kaianlagen, die nach den Impulsgebern benannt wurden, Albert Ballin, Gottfried Holthusen, Ernst Friedrich Sieveking, Hermann Lenhartz. Die Stiftung übrigens ist noch heute putzmunter – und wacht darüber, dass die Wissenschaft Lösungen liefert, aber sich nicht gar zu selbstlos in den Dienst einer aktuellen Nützlichkeit stellt.
Also doch: Immanuel Kant, die Metaphysik der Sitten, Ethik als Maßstab aufgeklärten Handelns, der Würdebegriff als Bollwerk gegen zunehmenden Utilitarismus – vorgebracht und verteidigt durch die hanseatische Kaufmannschaft. Der Großkaufmann und Stifter Edmund Siemers jedenfalls ließ sein Bekenntnis zur akademischen Freiheit über dem Portal des Gebäudes in Stein meißeln, das er 1911 für das Allgemeine Vorlesungswesen an der Moorweide baute. Heute dient es als Hauptgebäude der Universität, und immer noch ist dort zu lesen: „Der Forschung, der Lehre, der Bildung“. Damit war das Wesentliche gesagt. Wer um die Besetzung von Stellen oder um Mittel für die Forschung verhandelt, kann sich getrost darauf berufen…

Vom Start-up bis zum Weltmarktführer
Harburg also, 1977, die Debatten um Ziele und Funktion einer Technischen Universität im Wirtschaftsleben der Hansestadt. Die sich rasch abzeichnende Lösung machte die Runde, und sehr bald reisten auch neugierige Vertreter des Bundesministeriums für Forschung und Technologie aus Bonn zu den Sitzungen des gelehrten Gremiums. Die Hochschule selbst wollte sich von Anfang an bis über Diplom und Doktortitel hinaus um den Transfer kümmern, um einen intensiven Austausch mit der Praxis also, um tätige Anleitung beim Übergang ins Leben als Entwickler, Erfinder, Forscher oder Unternehmer. Hilfe bei der Finanzierung von Projekten zum Beispiel, Rat in Fragen von Patentrecht, Personalauswahl oder der Erschließung von Märkten. Später wurde eine GmbH aus der Initiative, der Universität nach wie vor eng verbunden, weil es sich in dieser Organisationsform effizienter reagieren lässt. Mit vollem Erfolg: Ein paar der Absolventen haben sich vom Start up bis in die Position von Weltmarktführern in ihrem Feld hinaufgearbeitet; die TUHH wuchs und wuchs – heute genießen 7698 Studierende dort ein Programm, das alles bietet, aber nie abhebt. Wie es eben Hamburger Art ist.
Hochschule für angewandte Wissenschaften: 75 Studiengänge in den Bereichen Design, Medien, Technik und Wirtschaft, 17 055 Studierende. Hafen City Universität: rund 2400 Studierende in den Feldern Stadtplanung, Architektur, Bauingenieurwesen. Die Akademie der Polizei, die Norddeutsche Akademie für Finanzen und Steuerrecht, die Hochschulen für Bildende Künste und für Musik und Theater. Alle in Hamburger Trägerschaft. Dazu die Universität der Bundeswehr, benannt nach dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt: 2775 Studierende in den Feldern Elektrotechnik, Maschinenbau, Wirtschaft und Sozialwissenschaften. Die Berufsakademie Hamburg, die Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie, die Hamburg Media School als öffentlich-privates Kooperationsprojekt.

Bis zu 15 Millionen Euro Förderung
Und dann die Privaten. Hamburger Fern-Hochschule: 10 587 Studierende. Die FOM Hochschule für Oekonomie und Management, berufsbegleitend und 2012 als erste private Hochschule in Deutschland systemakkreditiert, also anerkannt durch die internationale Hochschul-Agentur FIBAA: 4077 Studierende. Die Nordakademie, die Hamburg School of Business Administration, die Hochschule Fresenius: Wirtschaftspsychologie, Betriebswirtschaftslehre, Tourismus und Event Management im Masterstudiengang, vier Semester, 795 Euro Studiengebühr pro Monat. Oder die Medical School Hamburg: ein Medizinstudium bis zur staatlichen Approbation, Abiturnote unwesentlich, denn ein Eignungstest ersetzt den Numerus Clausus, 1500 Euro im Monat, 3500 Studierende. 26 Hochschulen insgesamt. Zu viele, um jede einzeln aufzuzählen.
Vielleicht noch die Bucerius Law School, begründet durch die Stiftung des Publizisten, Rechtsanwalts und Verlegers Gerd Bucerius und seiner Frau Ebelin, diskursfreudig, international vernetzt – und längst etabliert als eine der ersten Adressen für angehende Juristen in Deutschland. Oder die Kühne Logistics University mit Sitz in der HafenCity. Man stelle sich vor: ein internationales Unternehmen, das die Ausbildung des Nachwuchses in Logistik und Management, nicht nur des eigenen, kurzerhand selbst organisiert, maßgeschneidert, staatlich anerkannt und sogar mit Chance auf einen ganz reellen Doktortitel. Hamburg gilt als Stifterhauptstadt Deutschlands, aber es lässt sich auch anders sagen: Wo sonst gibt es so zielstrebiges und so erfolgreiches Engagement in der akademischen Bildung?
Die klassischen Institutionen haben also quicklebendige Konkurrenz. Aber sie sind auch eine! „Die Universität Hamburg wird massiv unterschätzt“, stellte deren Präsident Dieter Lenzen fest, als er zum Entsetzen vieler Berliner die Freie Universität dort verließ, um die Potenziale in der Hansestadt zu aktivieren. „In fünf Jahren“, so versprach er damals, 2010, „wird sich das geändert haben. Dann kann sie in vollem Selbstbewusstsein ihre großen Stärken zeigen.“
Neun Jahre darauf und gerade rechtzeitig zum Geburtstag wurde der erfolgreiche Wandel sogar offiziell bestätigt. Seither fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft vier Forschungsfelder aus der Klimaforschung, den Nanowissenschaften, der Astrophysik und der Manuskriptforschung als Exzellenzcluster; die Universität als Ganzes wurde vom Wissenschaftsrat aufgenommen in den kleinen, aber sehr feinen Kreis der Exzellenzuniversitäten. Studierende und Lehrende freuen sich über den nun erstklassigen Ruf ihrer Hochschule, über verbesserte Möglichkeiten zu Arbeit und internationalem Austausch – und Hamburger Kaufmannsgeist darf voller Zufriedenheit im Rechnungsbuch notieren: Ein Exzellenzcluster wird über einen Zeitraum von sieben Jahren mit bis zu zehn Millionen Euro pro Jahr gefördert, eine Exzellenzuniversität mit jährlich bis zu 15 Millionen. Der normale Etat läuft natürlich weiter.
Was die Anhänger des HSV wahrscheinlich nicht mal mehr zu träumen wagen, aber in der Wissenschaft spielt Hamburg von nun an in der Champions League!

Martin Tschechne ist Journalist und Autor. Er promovierte als Psychologe in Hamburg mit dem Thema Hochbegabte und veröffentlichte unter anderem die Biografie des Psychologen William Stern, der den Intelligenzquotienten IQ erfunden und maßgeblich zur Gründung der Universität beigetragen hat.

 

Text: Von Martin Tschechne FOTOS: ISTOCKPHOTO.COM/DOBLE-D