Japanische Architekten haben es vorgemacht: Wohnen beginnt nicht erst hinter der Wohnungstür. Aber auch in Hamburg finden sich Beispiele für ein sehr modernes Verständnis von Gemeinsamkeit.

Jede Wohnung erzählt die Geschichte ihrer Zeit und ihrer Bewohner. Von Menschen, die den Schlüssel im Schloss drehten, um strahlend vor Glück ein Reich zu betreten, von dem sie lange geträumt hatten. Von Kindern, die geboren wurden, und Alten, die zurückblieben. Von heller Sonne, die durch harmonisch geschnittene Raumfluchten flutete, und von Zwischenwänden, die eingezogen werden mussten, weil dann doch so manches anders kam. Sie erzählt von Lebensfreude und Verzagtheit, von gedankenloser Verschwendung und von Knappheit, von neuem Bewusstsein und von Erfahrung, die in Vergessenheit geriet, weil niemand mehr sie zu schätzen wusste.
tt_wohnen_text2Der Stadtplaner steht am Fenster seines Büros in einem sehr modern gestalteten Hochhaus und schwärmt von einem uralten Baustoff, der in seiner Energiebilanz jede jüngere Konkurrenz um Längen schlägt, Klinker, Beton, einfach alles. Warum aber wird so wenig mit Holz gebaut? Jörn Walter zuckt mit den Schultern: „Gewohnheit“, sagt er. „Es ist ein Ausdruck unserer Kultur.“ Als Oberbaudirektor der Stadt Hamburg hat er 18 Jahre lang Ausblicke auf das Leben in einer rasant wachsenden Großstadt erörtert und in gebaute Architektur übersetzt. Jetzt gibt er den Stab weiter. Gleich vor dem Haus, auf dem Gelände der Internationalen Bauausstellung IBA in Wilhelmsburg, ragt ein fünfgeschossiger Würfel auf – der Woodcube. Vollholz, unbehandelt, sehr nobel in der Erscheinung und so gut wie CO2- neutral. „Klasse!“, meint Walter. „Ultramodern. In den USA, in Skandinavien oder Japan ist Holz als Baustoff gang und gäbe. Aber wir haben immer noch diesen Anspruch, Häuser für die Ewigkeit zu bauen.“
Oder der Projektentwickler. Der 1984 entbrannte Streit um besetzte Häuser in der Hafenstraße gab ihm den Impuls für ein ganzes Berufsleben: „Sollten wir nicht immer wieder neu darüber nachdenken“, fragt Karsten Wagner also, „wie wir in Zukunft wohnen wollen?“ Klappt seine Tasche auf und zieht eine Liste hervor, schier endlos. Lauter Quartiere, in denen er mit der Lawaetz-Stiftung Wohnraum für Gemeinschaften geplant und gebaut hat: für Junge und Alte, Migranten, Singles, Frauen, Familien mit Kindern, Menschen mit Behinderung. Oder ganz allgemein: für Menschen, die eine Bereicherung darin erkennen, diese oder jene Aufgabe im Alltag gemeinsam mit anderen zu lösen. Wagner hat sehr guten Grund, stolz zu sein. „Was wir bauen“, sagt er, „ist Nachbarschaft.“
Die ehemalige Erzieherin hat nach dreißig Jahren in ihrer eigenen WG einen untrüglichen Blick dafür, wie viel Wohngemeinschaft geht, und wo Naivität und Lebenslüge beginnen. Also stellt sie ihre Erfahrung zur Verfügung, wo andere sich die Köpfe heiß darüber reden, welche Alternative zur Drei-Zimmer-Küche-Bad-Existenz ihnen lebenswert und praktikabel erscheint. Und in Tokio geht Yasuo Moriyama von der Badewanne ins Bett über einen offenen Innenhof unter freiem Himmel, mitten in der Metropole mit ihren 37 Millionen Einwohnern, im Sommer wie im Winter, bei jedem Wetter – und genießt dabei die erhebende Gewissheit, in einem der fortschrittlichsten, zukunftsoffensten Häuser seiner Stadt, vielleicht der ganzen Welt zu leben.
Jede Wohnung erzählt eine Geschichte. Das Haus in der Isestraße etwa. Bestes, großbürgerliches Eppendorf aus der Gründerzeit, als der Wohlstand über Hamburg geradezu hereinbrach. Vier Etagen plus Mansarde für den Hausmeister, fünfeinhalb Zimmer in jeder Wohnung, nicht gerechnet die Abseiten und Kammern, die riesige, blau und weiß gekachelte Küche und das Mädchenzimmer. So die ganze Straße, so das ganze Stadtviertel. Die Räume groß und repräsentativ, vier Meter hoch, verbunden durch großzügige Flügeltüren, der Flur zu den hinteren Räumen so lang, dass Kinder mit dem Roller herangesaust kommen, wenn es an der Tür klingelt. So baut heute niemand mehr. Die Piste ist gut zwanzig Meter lang. Was das kostet! Allein die Heizung…
Der alte Mann lebt allein hier, die Wände bedeckt mit Schichten von Erinnerung, Urlaubsbilder auf vergilbter Tapete, Fotos von Kindern und Enkeln, Regale mit Büchern und Aktenordnern, eine Schrankwand voll geschliffener Gläser. Vor drei Jahren ist seine Frau gestorben. Das Essen wird jeden Tag gebracht, und immer mal wieder schaut auch die Stieftochter vorbei. Sie ist Ärztin, das ist ein Segen. Aber die Wohnung hat der Mann seit Monaten nicht verlassen. Die Treppen, drei Etagen, ein Klappstuhl auf halber Höhe. Er ist jetzt weit über neunzig. Und was soll er auch da draußen, so ganz allein?
Die Wohngemeinschaft am Neuen Pferdemarkt: Viel Platz ist nicht, aber im Sommer geht das gemeinsame Leben auf der Straße weiter. Dann ist der ganze Kiez eine einzige WG. Die Gründerzeitvilla in Fuhlsbüttel, in der jedes, aber auch wirklich jedes Zimmer zur Einzelzelle für Einzelmieter ausgebaut wurde. Küchenblock, Duschkabine, alles andere lässt sich mit Rigips und kleinstkarierter Auslegung der Bauordnung zurechtzimmern. Ist es Ironie, dass die Haftanstalt keine hundert Meter entfernt liegt? Das Apartmenthaus in Othmarschen: Früher stand zwischen hohen Bäumen eine Jugendstil-Villa auf dem Grundstück, ein Denkmal eigentlich. Aber acht schnieke herausgeputzte Wohnungen mit Penthouse auf dem Dach sind das eindeutig bessere Geschäft.
Wohngeschichten. Zwei Zimmer über der Kneipe am Hansaplatz. Heute hockt sich keiner mehr in die Nische vor der Haustür, um dort seine Notdurft zu verrichten. Die Nachbarn haben gelernt, dass jeder einzelne hier zuständig ist für Sauberkeit und Zusammenhalt. Dass Sicherheit durch Gemeinschaft entsteht. Und dass Wohnen nicht erst hinter der Wohnungstür beginnt. Oder der Neubau in der HafenCity, in dem es endlich möglich ist, der Arbeit zu Hause am Bildschirm nachzugehen und doch nicht von aller Welt abgeschnitten zu sein. Ganz einfach, weil sich schon zur Planung Menschen zusammengefunden hatten, die bereit waren, ihre Bedürfnisse aufeinander abzustimmen. Und ist es nicht so, dass immer mehr Menschen den Arbeitsplatz in die eigene Wohnung verlegen?
Von Moriyama-san war die Rede. Der Japaner ist 65 und lebt allein. Das ist in seiner Heimatstadt Tokio nicht anders als in Hamburg: Mehr als 50 Prozent der Haushalte sind Single-Haushalte. Der Mann also könnte, rein demografisch, als typisches Beispiel für eine Zukunft gelten, die überall in den hoch entwickelten Industrieländern längst begonnen hat. Könnte – wenn er nicht vor einigen Jahren als Bauherr gemeinsam mit dem Architekten Ryue Nishizawa dieses Haus entwickelt hätte, in dem er für sich lebt und doch Mieter hat, Mitbewohner. Menschen, die alleine leben, und solche, die zusammengehören. Menschen, die sich hier zu Hause fühlen, und solche, die nur vorübergehend bleiben. Und die alle zusammen so etwas sind wie ein Modell für das Leben in der Zukunft. Eine Wohngemeinschaft im Fluss.
tt_wohnen_text1Moriyama House ist die maßgeschneiderte Umgebung für Biografien, deren Kreise einander überschneiden, sich aber auch wieder lösen. Das Gefäß für eine Lebensform, in der jeder für sich sein kann oder mit anderen, aber keiner allein sein muss. Konkret: eine Gruppe von kleinen und kleinsten Baukörpern, weiße Kuben mit großen Fenstern, zum Teil aufeinander gestellt und scheinbar wahllos verteilt über ein Grundstück, das Platz für ein paar Bäumchen und Gras hat und doch genauso knapp bemessen ist wie die Grundstücke der ganz normalen Einzelhäuser in der Nachbarschaft. In Tokio heißt das: sehr knapp. Trotzdem stehen jeden Tag Neugierige an der Straße und fragen sich, welche Vision vom Leben in der Zukunft die Architektur mit diesem Bau zur Diskussion stellt. Wie öffentlich hier das Private ist. Und ob sie jetzt einfach mal hineingehen und einen Blick zwischen die Badekabine und den Wohnraum werfen dürfen, auf dessen Dach gerade ein Mann im Morgenmantel die Zeitung liest. Einen Zaun gibt es nicht.
Wer das Haus verstehen will, dem sollte auch auffallen, dass der Architekt einem Besucher gern bis zum Bahnhof entgegenkommt. Dieser Nishizawa-san gehört gewiss zu den einflussreichsten Baumeistern der Welt. Er wurde ausgezeichnet mit dem Pritzker-Preis, der als eine Art Nobelpreis seiner Zunft gilt, und baut mit seiner Partnerin Kazuyo Sejima unter dem Namen SANAA – Sejima And Nishizawa And Associates – Museen, Geschäftszentren oder Universitäten in New York, London, am Genfer See oder auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen. Warum sich so einer mit einem Wohnhaus auf einem Einzelgrundstück abgibt? Weil auch in der Dosierung von Gemeinschaft eine Herausforderung liegt, in der Balance von Offenheit und Diskretion. Übrigens auch in der Ästhetik, die sich aus der Aufgabe ergibt.
Wenn Nishizawa-san seine Besucher also an der Kamata-Station im Süden von Tokio abholt, dann ist das nicht nur eine freundliche Geste. Er illustriert damit seine Idee von einem Bauen, das die Umgebung einbezieht, die Straße, den Stadtteil, die Nachbarn – und ebenso den ständigen Wandel. Hier also, vor den spiegelnden Fassaden der Kinos und Kaufhäuser beginnt für den Planer schon der Wohnraum. Er setzt sich fort in den Nebenstraßen, führt zu Handwerksbetrieben und kleinen Geschäften und fast übergangslos hinein in dieses Ensemble aus zehn strahlend weißen Würfeln, die eng beieinander stehen und doch Abstand halten. Und die damit so etwas sind wie ein kleines Dorf. Die Dorflinde wäre hier der Mandarinenbaum.
Natürlich spielt die Kultur eine Rolle. „Ihr Europäer genießt euch als Individuen“, sagt der Architekt. „Wir Japaner denken viel mehr als Gemeinschaft.“ Und verweist auf die große und stolze Stadt Rom, die auf dem Schutt ihrer eigenen Ruinen höher und höher emporgehoben wurde, in jedem Jahrhundert um einen weiteren Meter. Für die Ewigkeit gebaut und doch nur die Grundlage für immer neue Träume von Allmacht und Unsterblichkeit – was für ein starkes Bild! „Für Architekten ist Europa ein Königreich“, lobt Nishizawa, aber sein Spott ist nicht zu überhören: „Sie bauen etwas und es bleibt.“
Als ob darin der Sinn von Architektur läge! Im Bleiben! Als ob die Menschen dem Werk eines königlichen Baumeisters zu dienen hätten, und nicht die Bauten denen, die sie bewohnen und nutzen! In Quartieren wie der HafenCity, der neuen Mitte von Altona oder im Pergolenviertel in Barmbek tun sich Bauherren oder Mieter zu Gemeinschaften zusammen, um etwa ihre Kinder miteinander aufwachsen zu lassen. Sie planen Carsharing, gemeinschaftlich genutzte Freizeiträume, Gärten und Besucherapartments oder koordinierte Dienstleistungen: Putzen, Wäsche, Kindergarten. Sie wollen ökologisch wirtschaften, ältere Mitbewohner betreuen, Sprachunterricht geben, gemeinsam die Fahrräder in Schuss bringen und ein Lastenfahrrad für alle kaufen oder auch nur einmal die Woche miteinander zu Abend essen.
„Bleibt bloß auf dem Teppich!“, mahnt Angela Hansen dann. Die Stadt Hamburg hilft bei der Planung, vermittelt ein Grundstück, fördert, berät und unterstützt – aber erst muss die Leiterin der Agentur für Baugemeinschaften in der Stadtentwicklungsbehörde überzeugt werden. Natürlich gibt es einen Katalog präzise formulierter Kriterien, abzurufen im Internet, aber drei Jahrzehnte in einer Eppendorfer Wohngemeinschaft haben ihren Blick für das Realistische – und auch das Reelle – geschärft: „Wenn eine Gruppe von Antragstellern sich gar zu viel Gemeinsamkeit vornimmt“, sagt Hansen, „dann hole ich sie auf den Boden der Tatsachen zurück.“ Es sei schon toll, fügt sie hinzu, wenn die Gemeinschaft sich auf einen Raum einigt, in dem sich ein Gespräch ergeben kann. Ein überdachter Sitzplatz vor dem Haus, ein kleines Foyer oder einfach eine Bank neben den Briefkästen. Zur Not erinnert sie daran, dass irgendjemand den zusätzlichen Platz ja auch bezahlen muss.
Greves Garten in Bergedorf, StattSchule in Altona, autofreies Wohnen in der Saarlandstraße, die Brennerei in St. Georg, CasaNueva in Niendorf: Ein Fünftel ihrer zum Bau freigegebenen Grundstücke hält die Stadt solchen Projekten vor. Die Quote wurde nicht immer erreicht, aber der politische Wille ist formuliert. „Wir haben auch eigenes Interesse an der Förderung“, räumt Jörn Walter ein. „Baugemeinschaften bringen Stabilität in die Quartiere.“ Dank der direkten Vergabe nämlich ist der Baugrund günstiger als auf dem Markt der Träger, die mit ihren Immobilien Gewinn machen wollen. Gut für die Bauherren und Mieter, die eine durchmischte Gemeinschaft vorfinden und überdies ein Stück näher an die begehrten, zentral gelegenen Stadtteile rücken können, ins Grüne oder ans Wasser. Und gut für die Stadt. Ein Anwohner, der sich in seiner Umgebung wohl fühlt und engagiert, zertrümmert keine Mülltonnen und schmiert keine Treppenhäuser voll. Achtet auch darauf, dass andere es nicht tun.
Und wenn doch mal einer seinen Arbeitsplatz wechselt? Oder die Familienverhältnisse sich ändern? „Nicht ganz einfach“, meint Walter. Scheidung ist möglich. Sollte aber von Anfang an gut in den Kontrakten verankert sein. Die Behörde berät. Stößt das schöne Modell vom gemeinsamen Leben hier an seine Grenzen? Gibt es überhaupt noch das Haus, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird? In dem einer Kind ist, aufwächst, selber Kinder in die Welt setzt, alt wird und Platz macht für die Jungen, die genau den gleichen Lebensweg am selben Ort einschlagen wollen? Schon vor Jahren stieß die Politikerin Renate Künast auf ihren Reisen durch das Land auf befremdliche Spuren des Wandels: Überall, in Mecklenburg wie in Rheinland, kam sie durch Dörfer, die es einfach nicht mehr gab. Fest gemauert, aber verlassen.
Im japanischen Lifestyle-Kaufhaus Muji gibt es Häuser von der Stange zu kaufen. Wie eine neue Jacke. Entworfen hat sie ein anderer berühmter Architekt, Kengo Kuma, der auch das Stadion für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio baut. Die Häuser sind in zwei Tagen hingestellt, und wenn Kinder zur Welt kommen oder das Elternhaus verlassen, wenn eine Partnerschaft zu Ende geht, die Karriere einen Ortswechsel nötig macht und also wieder eine neue Lebensphase beginnt – dann lässt sich das alles auch wieder abbauen. Und landet umweltneutral auf dem Recycling-Hof.
Das widerspricht natürlich dem Gedanken, sich durch eigene vier Wände und ein Dach über dem Kopf vor Wind, Wetter, unerwünschter Nachstellung und galoppierenden Immobilienpreisen zu schützen. Nur – wie realistisch ist die Idee überhaupt, sich dem Wandel der Zeiten entziehen zu können? Und kann darin ein ernst gemeintes Ziel liegen? Das wäre schon ein beinahe philosophisches Problem.
Vielleicht stecken in den Vorbildern und Konzepten aus Japan trotzdem ein paar sehr praktische Hinweise für Bauherren und Baugemeinschaften auch bei uns. In einer Welt, die durch Digitalisierung und demografischen Wandel, durch globale Vernetzung und ebenso globale Verantwortung immer enger zusammenrückt, liegen die Baupläne für ein respektvolles Mit- und Nebeneinander ja längst auf dem Tisch. Ryue Nishizawa in Tokio hat darüber nachgedacht. „Ihr im Westen habt eine Kultur der Substantive“, fasst er zusammen, „wir in Japan eine der Verben.“
Das Bauwerk wäre ein Substantiv. Darin leben – ein Verb.

 

Text: Dr. Martin Tschechne
Dr. Martin Tschechne ist Journalist und Psychologe in Hamburg. Seit er die Biografie zu William Stern schrieb, dem Erfinder des IQ, interessiert den Absolventen der Henri-Nannen-Schule alles, was mit Intelligenz zu tun hat – vor allem die Planung einer lebenswerten Zukunft.