„Spricht das Gebäude zu dir?“

Die Eröffnung der Elbphilharmonie ist auch für KENT NAGANO ein Lebens-Ereignis. Im Interview spricht der Dirigent über die Seele von Gebäuden, Musik voll Sonne und Strand sowie die Stadt Hamburg, die für Zukunft steht, ehe sie woanders überhaupt erst erkannt wird.

club!: Herr Nagano, die Elbphilharmonie hat in Hamburg einen Riesen-Hype ausgelöst. Befindet sich Hamburg in einem musikalischen Aufbruch?
Kent Nagano: Für mich ist die Elbphilharmonie vor allem ein Statement. Ein Bekenntnis der Stadt Hamburg zu den Werten unserer Kultur und dafür, diese Werte für die Zukunft zu bewahren und zu entwickeln. Dafür brauchen wir die Künste und vor allem die Kunst der Musik. Man muss sich das einmal bewusst machen: Wir leben in einer der unsichersten Zeiten der Geschichte. Die Weltwirtschaft, die Finanzwelt, die internationalen Beziehungen – alles ist instabil und gefährdet. Und trotzdem wird hier eine solche Konzerthalle eröffnet und gefeiert! Sie ist ein Investment in unsere Kultur und die Musik.

Ihr Vater war Architekt. Haben Sie mit ihm über dieses außergewöhnliche Gebäude gesprochen?
Als mein Vater die ersten Fotos sah, war er als Architekt gefesselt von dem Entwurf. Er sagte, das wird etwas ganz Besonderes. Eine andere Frage war für ihn allerdings, ob es auch als Konzerthalle funktionieren würde.

Warum?
Das berühmte Opernhaus von Sydney mit seiner fabelhaften Architektur ist als Konzerthalle, vorsichtig ausgedrückt, nicht optimal. Die Qualität einer Konzerthalle wird über ihre Akustik entschieden.

Es heißt doch, dass die Elbphilharmonie gerade durch ihre Akustik zu den besten Konzertsälen der Welt gehören wird. Der weltberühmte Akustiker Yasuhisa Toyota …
… wir kennen uns seit dreißig Jahren!

… hat den Musikern empfohlen, wegen der besonderen Akustik in der Elbphilharmonie gedämpfter zu spielen als sie es von anderen Konzertsälen gewohnt sind. Haben Sie bereits einen Eindruck gewonnen?
Meinen ersten Eindruck hatte ich sozusagen als Publikum. Ich hörte bei einer Probe der Kollegen vom NDR-Elbphilharmonie-Orchester zu. Ich war positiv beeindruckt und bin sehr optimistisch.

Aber noch nicht ganz sicher?
Akustik ist nicht nur eine Angelegenheit des Computers. Es ist eine Kunst und darum haben wir keine hundertprozentige Kontrolle. Gäbe es sie, hätten wir überall auf der Welt nur großartige Konzerthallen. Das ist aber nicht der Fall. Die Fortschritte in Wissenschaft und Technologie auf diesem Gebiet haben nichts daran geändert, dass Akustik, zumindest teilweise, menschlich ist. Gott sei Dank!

Menschlich?
Ja, natürlich. Wir können akustische Informationen vom Computer ablesen. Aber das reicht nicht aus. Akustik ist eine Frage des Gefühls. Wie klingt die Luft? Wie ist das Echo von den Wänden? Spricht das Gebäude zu dir? Hat es eine Seele? Wenn die Wände kalt und steril sind oder wir in dem Raum ein Gefühl von Enge haben, nehmen wir Akustik anders wahr.

Nimmt das Publikum den Klang genauso wahr wie Sie und Ihre Musiker auf der Bühne?
Ich habe manches Mal erlebt, dass die Bläser für das Publikum sehr laut waren, aber wir sie auf der Bühne kaum hörten. Wenn wir eine Homogenität im Klang erreichen wollen, dürfen wir nicht nur mit unseren Ohren hören, sondern auch mit unserem Verstand und Gefühl. Was für uns korrekt klingt, muss für das Publikum nicht genauso klingen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir auf der Bühne das Publikum spüren. Musik ist Kommunikation, ein Dialog zwischen den Musikern, dem Publikum und dem Komponisten. Das ist der Grund, warum der Computer mit seinen Messergebnissen nicht die ganze Geschichte erzählt.

Was bedeutet das für die Elbphilharmonie als Konzertsaal?
Wir können über die Akustik jetzt noch nicht hundertprozentig sicher sein. Das ist unmöglich. Mit einer Konzerthalle verhält es sich wie mit einer neuen Stradivari für einen Geiger. Man braucht eine Weile, um sich an das wunderbare Instrument zu gewöhnen, das eigene Spiel und das Instrument einander über die Feinabstimmung anzupassen, bis es perfekt ist. Das ist auch bei einer Konzerthalle so. In Montreal hat es drei Jahre gedauert, bei der berühmten Berliner Philharmonie ebenfalls mehrere Jahre, bis die Akustik bei einhundert Prozent war.

Was erwarten Sie bei der Elbphilharmonie?
Nach allem, was ich bisher gehört habe, bin ich sehr optimistisch. Es sieht ganz danach aus, dass wir eine wunderbare Konzerthalle haben werden.

Glauben Sie, dass Sie mit ihr auch ein Publikum anlocken können, das sich bisher noch nicht für klassische Musik interessierte?
Etwas Neues hat immer seine Chance. So oft wir in der Laeiszhalle auch Beethovens Eroica gehört haben mögen, in der Elbphilharmonie wird sie in einem ganz neuen Kontext erscheinen.

Sie sind hier für das Opern- und das Orchesterrepertoire zuständig. Ist es in der Herangehensweise an die Musik ein Unterschied, ob Sie ein Konzert oder eine Oper proben?
Eigentlich nicht. Beides entspringt ja derselben Tradition. Historisch gesehen entstand die sinfonische Form aus der Form der Oper und ihrer Ouvertüre.

Mozart ist immer Mozart, einerlei ob es sich um Figaros Hochzeit oder um die Jupiter-Sinfonie handelt?
Aber ja! Die Oper ist Theater und Drama, aber wer würde behaupten wollen, dass in den Opern von Mozart oder Verdi die großen Momente des Orchesters eine untergeordnete Bedeutung hätten? Und andererseits: Wer könnte bei einer Sinfonie von Beethoven oder Mahler sagen, dass in dieser Musik kein Theater, kein Drama liegt?

Hat die Oper es nicht leichter, die Menschen für sich zu gewinnen als Orchestermusik, weil sie immer eine Geschichte erzählt, die die Menschen verstehen …
… (lachend) das kommt ganz auf die Oper an.

… während ein Konzert etwas Abstraktes ist, dessen Geschichte auch im Wechsel der Harmonien und ihrer Kommunikation innerhalb des Stücks besteht, das große Publikum aber kaum etwas über Harmonielehre weiß.
Sinfonie oder Oper – der entscheidende Punkt ist, wie es gespielt, wie es vorgetragen wird. In Berlin sind die Konzerte des Deutschen Symphonie-Orchesters und der Berliner Philharmoniker immer ausverkauft. Und es kommen junge Leute in die Konzerte, viele begeisterte junge Leute. Worauf es ankommt, ist Qualität, Spitzenqualität. Wer keine Kompromisse in der Qualität des Spiels und der Programme macht, der wird sein Publikum auf die Dauer immer gewinnen.

In Ihrem Buch „Erwarten Sie Wunder” – sprachen Sie über Ihre Befürchtung, dass klassische Musik ihre Bedeutung für ein breites Publikum verlieren könnte.
Das Buch behandelt hier ein speziell amerikanisches Problem. In Amerika wird jungen Leuten erzählt, klassische Musik ist nur für die Eliten. Im Übrigen hat sie keine Bedeutung. Tatsächlich weiß die Mehrheit der 20-Jährigen und noch Jüngeren dort noch nicht einmal, wer Mozart oder Beethoven waren. Für sie ist Beethoven ein Hund. Nach dem Hollywoodfilm.

Für Sie war es zum Glück anders.
Meine Mutter war Pianistin. Von ihr bekam ich meinen ersten Klavierunterricht mit vier Jahren.

Als Sie begannen, Ihr Leben der Musik zu widmen, wollten Sie da schon gleich Dirigent werden?
Ich habe Komposition studiert, um vielleicht eines Tages ein Komponist zu sein. Doch meine berufliche Entwicklung verlief anders. Als ich anfangs neben Soziologie auch noch Jura studierte, dachte ich daran, möglicherweise Botschafter zu werden. Und tatsächlich bin ich das ja auch geworden. Durch die Musik. Musik ist der größte Botschafter von allen.

Welche Rolle spielte Ihr erster Lehrer, Professor Korisheli, für Ihre musikalische Entwicklung?
Oh, ich verdanke ihm so viel! Beinahe jeden Tag war ich mit ihm zusammen, nicht nur wenn ich bei ihm Klavierunterricht hatte, auch an den Wochenenden in der Kirche unserer kleinen Gemeinde, im Knabenchor, im Orchester, die er beide dirigierte. Durch ihn ging uns Kindern auf, dass die Welt viel, viel größer ist als unser kleines Morro Bay. Wenn wir mit ihm musizierten, war es immer, als gingen wir auf eine große Reise. Dann waren wir fern von unserem kleinen Küstenort in Kalifornien.

Und dann mussten Sie wieder zurück zu den Czerny-Etüden.
Es war nicht immer nur angenehm. Klavier üben hieß, kein Football, nicht ans Meer gehen, schwimmen, surfen … Als Kind fühlte ich mich deshalb manchmal schon ein bisschen ausgeschlossen vom Leben der anderen.

Wie kamen Sie damit zurecht?
Ich erinnere mich an einen Tag, als ich vielleicht neun Jahre alt war. Vom Flügel in Professor Korishelis Studio konnte ich durch ein großes Fenster auf den Strand und das Meer sehen. Ich spielte eine Mozart-Sonate (summt das erste Leitthema). Er sagte, bitte mache durch dein Spiel, dass ich die Berge und Wälder sehe, du spielst C-Dur – und nun ins Moll und wir haben Schatten, eine andere Temperatur … Ich spielte und draußen sah ich den Strand, die Sonne, Surfer, Bikinis – und auf einmal hatte ich die Tonart gewechselt, statt Moll jetzt ein A-Dur voller Sonne und Strand. Es war, als befände ich mich in zwei verschiedenen Welten.

Und was sagte dazu der Professor?
Er wollte vor allem, dass wir etwas begriffen: Wenn du lernst, klassische Musik zu spielen und zu verstehen, erlernst du gleichzeitig die Fähigkeit, dich zu konzentrieren und in Abstraktionen zu denken. Wir sollten nicht in der oberflächlichen Welt der Popkultur leben, sondern die wirkliche Welt entdecken. Ich glaube, das war in seinen Augen das Wertvollste, das er uns mitgeben konnte.

Haben Sie jemals Popmusik gehört?
Meine Mutter hatte es verboten. Und das bedeutet (lacht): Ja! Aber nie auf Schallplatte oder im Radio.

Beim Eröffnungsfestival der Elbphilharmonie geben Sie Jörg Widmanns „Arche“, eine Welturaufführung. Wie kam es dazu?
Eine Konzerthalle wie die Elbphilharmonie zu eröffnen ist etwas, das man vielleicht nur ein einziges Mal in seinem Leben erlebt. Die Laeiszhalle wurde vor einhundert Jahren eröffnet. Jörg Widmann und ich waren der Meinung, dass die Eröffnung mit der Geburt eines Stückes gefeiert werden sollte, einem Stück, das zum 21. Jahrhundert gehört. Wir wollen etwas Neues zum Leben bringen – wie die Konzerthalle.

Können Sie uns schon etwas dazu verraten?
In der „Arche“ steckt die Idee, die Kultur weiterzutragen, in turbulenten, instabilen Zeiten. Es ist ein Stück mit mehreren Ebenen, die Texte stammen aus vielen unterschiedlichen Quellen. Es gibt einen Kinder- und einen Erwachsenenchor, verschiedene Generationen spielen eine Rolle, es gibt Solisten, Sprecher, Drama – also viele verschiedene Ebenen und das alles verbunden mit Musik und Gesellschaft. Niemand hat das je zuvor gehört – und wer dann nicht in Hamburg ist, der verpasst etwas.

Später spielen Sie Stücke bekannter Meister. Bach, Messiaen, Bruckner. Steckt dahinter ein Programm?
Messiaen, den ich als meinen Mentor bezeichnen möchte, war am Anfang äußerst umstritten. Avantgarde. Heute gehören seine Stücke ganz selbstverständlich zum Repertoire. Das Gleiche lässt sich von Bach sagen. Andere Komponisten waren zu seiner Zeit berühmter als er. Bruckner war zu seinen Lebzeiten so unpopulär, dass er Schwierigkeiten hatte, eines seiner Stück überhaupt aufführen zu können. Heute sind alle drei unumstrittene große Meister. Und noch eines verbindet sie: Ihre besondere Bindung an Religion, die sich in ihrer Musik auch ausdrückt.

Sie haben gesagt, klassische Musik sei ein Universum, das sich ausdehnt, wenn man sich hineinbegibt. Betreten die Besucher mit der Elbphilharmonie also auch ein neues Universum?
Die meisten Menschen stimmen darin überein, dass klassische Musik gut ist für die Gesundheit. Sie stimuliert die Vorstellungskraft, die Kreativität, sie fördert ganz generell gesellschaftliches Bewusstsein. Klassische Musik macht den Geist frei. Sie lässt uns nicht passiv sein im Sinne: Nun unterhalte mich mal, sondern bringt uns dazu, mitzuerleben, teilzunehmen. Gerade deshalb, glaube ich, ist sie so wichtig für unser Leben.

Gab es einen Hauptgrund für Sie, nach Hamburg zu kommen?
Es gab sogar zwei und dazu noch einen dritten, der vielleicht noch wichtiger war. Der erste war das Gespräch mit der Kultursenatorin Kisseler, die mir die Idee nahebrachte und mich bat, mit dem Orchester zu sprechen. Ich hatte dabei den Eindruck, dass das Orchester sehr engagiert und ambitioniert war. Diese Musiker wollten wirklich etwas Besonderes. Der andere Grund war, dass gleichzeitig Georges Delnon als Intendant von Basel nach Hamburg kommen würde. Diese Kombination fand ich sehr interessant. Er denkt sehr musikalisch und ich war sicher, dass unsere Partnerschaft funktionieren würde. Die Partnerschaft muss funktionieren, sonst kann ich nicht arbeiten und nichts erreichen.

Sie sagten, es gab noch einen dritten Grund?
Richtig, die Stadt Hamburg. Hamburg hatte für mich immer eine große Faszination, weil es eine Hafenstadt ist. Wie San Francisco, woher ich komme. In Hafenstädten herrscht eine weltoffene Haltung, dort weht ein Entdeckergeist für das Neue, noch Unbekannte.

Aber die Musik…
Hamburg ist eine Stadt mit großer Musikgeschichte. Hier wurde 1678 das erste bürgerliche Opernhaus Deutschlands eröffnet, also eines, das von der Bürgerschaft Hamburgs getragen und finanziert wurde. Telemann hat in Hamburg gearbeitet, Bach war hier, Schütz. Hier sind neue Ideen von Orgelmusik und Komposition entstanden. Musikgeschichte! Brahms ist in Hamburg geboren worden, Mendelssohn ebenfalls, und seine Familie hat hier gelebt. Man darf nicht vergessen, wie bedeutend Hamburg in der Musikgeschichte ist. Aber da war noch etwas: Die Elbphilharmonie ist in meinen Augen ein Schritt in die Zukunft. Hamburg steht für mich für Zukunft, ehe diese Zukunft woanders bemerkt wird. Gustav Mahler war hier Dirigent und Operndirektor, als er noch nicht bekannt war. Hamburg wusste, dass er berühmt werden würde. Und schließlich, auch die Beatles begannen in Hamburg – ehe sie weltberühmt wurden. Darum geht es: Die Zukunft zu fühlen. Und ich bin stolz, daran teilzuhaben.

 

Interview: Uwe Prieser, Achim Schneider Foto: Ivo von Renner