Herz und Sinne weit geöffnet

Als Stadt der Musik hat Hamburg eine lange Geschichte. Hier wurde 1678 das erste Opernhaus Deutschlands eröffnet. Mit der prachtvollen Elbphilharmonie beginnt nun eine neue Epoche.

Die Geschichte der Musik in Hamburg beginnt an einem Sonnabend im Herbst 2016. Auf einer Studiobühne der Kampnagelfabrik sitzt die junge Syrerin Ghaitha al Shaar mit dreien ihrer Landsleute. Sie selbst spielt Oud, die klassische arabische Laute, die Männer: ein weiteres Zupfinstrument, es heißt Sas, eine Geige, eine flache Trommel. Unsicherheit ist ihnen anzumerken. Sie sind Flüchtlinge, in Deutschland vorerst untergekommen, aber fremd. Wird das Publikum ihre Musik verstehen? Der Beifall scheint sie ermuntern zu wollen. Genau dafür sind viele Leute hierhergekommen.
Eine Reise aus ihrer syrischen Heimat bis nach Deutschland hatte ein Begleiter zuvor angekündigt, auf Englisch, eine fremde Sprache, fremdes Publikum. Aber der Fluchtweg, nacherzählt in Musik – das ist eine schöne Geste des Entgegenkommens. Manche Zuschauer scheinen gerührt. Die weiteren Ansagen machen die Musiker selbst in ihrer Muttersprache. Die Namen Türkei und Bulgarien sind noch zu ahnen, dann scheint der weite Weg zu enden. Auch in den Stücken ist keine Annäherung an die ungarische Grenze, an Österreich, Bayern oder gar den Norden zu spüren. Die da spielen, sind Könner; das steht nach wenigen Takten fest. Und sie steigern noch ihr Tempo, ihre Virtuosität, die Dichte ihres Vortrags. Aber Kultur braucht jemanden, der sie erklärt. Sonst bleibt sie verschlossen. Als die Musiker sich nach einer Stunde verbeugen, verabschiedet sie ein artiger, etwas ratloser Applaus. Wenn das Wesen von Musik eine freundliche Einladung ist – wer hier darf sich aufgefordert fühlen? Und zu was?
Die Geschichte der Musik in Hamburg beginnt an einem Mittwochabend in der Laeiszhalle. Eine Stunde vor dem Konzert, so ist es Sitte hier, bietet der Dirigent eine Einführung in das Programm, erläutert die Stücke, bringt sie in einen historischen oder künstlerischen Zusammenhang, begründet ihre Auswahl. Das Symphonieorchester des Norddeutschen Rundfunks wird Werke von Mozart, Richard Strauß und dem polnischen Komponisten Karol Szymanowski spielen. Der Saal ist schon jetzt halb voll, mindestens. Thomas Hengelbrock, der Chef des Orchesters, lässt sich für diesen Teil des Abends entschuldigen – schade, die lockere, charmante Art seiner Einführungen hat hier viele Bewunderer. Aber ein freundlicher Kollege springt ein. Auch sein Vortrag gerät launig. Ist es nun bemerkenswert, dass so viele junge Besucher gekommen sind, um sich die Genealogie der Komponisten und ihrer Werke erläutern zu lassen? Der Mann auf der Bühne hat Hörbeispiele aus den Symphonien ausgesucht, ein Mitarbeiter des Hauses spielt sie auf einem Laptop an; die Parallelen sind verblüffend. Oder sind es die vielen älteren Zuhörer, die hier auffallen? Als wäre Mozart nicht auch für sie ein Gigant der Musikgeschichte, einer, den zu verstehen man erst lernen muss. Und mal ehrlich: Wer kannte Szymanowski?
Nach einer Dreiviertelstunde bittet der Vertreter des Dirigenten die Zuhörer, ihre Plätze und den Saal noch einmal für ein paar Minuten zu verlassen. Das ist ungewöhnlich. Das Orchester habe sich in den vergangenen Tagen im neuen, großen Konzertsaal der Elbphilharmonie getroffen, begründet er seine Bitte. Nun müssten sich die Musiker erst wieder auf die vertraute Akustik der Laeiszhalle einspielen.
So schnell geht es mit dem Wandel. Aber schon der neue Name des öffentlich-rechtlichen Klangkörpers verweist auf das künftige Domizil; er lautet jetzt offiziell: NDR Elbphilharmonie Orchester. Große Veränderungen kündigen sich an. Hengelbrock verbeugt sich unter dankbarem Applaus. Aber ein Hauch von Abschied ist auch zu spüren. War es nun das vorletzte oder das vorvorletzte Konzert im vertrauten Barock der in ihrer Gestalt eher schlichten Halle? Demnächst also drüben in dieser neuen, phantastischen, pulsierenden Herzkammer der Elbphilharmonie. Der japanische Klangarchitekt Yasuhisa Toyota soll ja Wunder vollbracht haben. Jeder hier will schon irgendwo irgendetwas davon gehört haben. Die Wellen der Wandpaneele, am Computer berechnet, zehntausend Schall schluckende, brechende, reflektierende Tafeln, und keine soll der anderen gleichen. Die Stimmung ist: freudig erregte Erwartung.
titelthema_text1Die Geschichte der Musik in Hamburg beginnt an einem Freitagnachmittag im Bunker an der Feldstraße. Riccardo Minasi muss nun doch den Pullover ausziehen. Im Resonanzraum probt das Kammerorchester, das dem Saal seinen Namen gegeben hat: das Ensemble Resonanz. Heute Abend wird es hier seine jüngste CD mit vier Symphonien und sechs Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach vorstellen. Der beinahe ebenso große Sohn des großen Johann Sebastian Bach gehört zum musikalischen Selbstbewusstsein, zum Stolz der Stadt, seit er hier 1768 Nachfolger des ebenfalls großen Georg Philipp Telemann wurde und bis zu seinem Tod zwanzig Jahre lang das Musikleben prägte. Seine Hamburger Sonaten und die sechs Hamburger Symphonien gehören zum Tafelsilber. Begraben liegt er in St. Michaelis. Wo auch sonst?
Der italienische Dirigent und Geigen-Solist muss doppelte Arbeit leisten. Da wird ihm natürlich warm. Gut zwanzig Musikerinnen und Musiker sitzen im Halbkreis um ihn herum, die meisten spielen Streichinstrumente, in der Mitte ein Cembalo, hinten Horn, Oboe, Flöte. „Wir sind ein reines Streicherensemble“, wird David-Maria Gramse in einer Pause erläutern. Er spielt im Orchester die zweite Violine. „Wenn wir für eines unserer Projekte andere Musiker brauchen, Bläser etwa, dann rufen wir sie einfach hinzu. Wir haben so viele Freunde.“
Das Ensemble ist demokratisch organisiert; seine Mitglieder sind selbständige Unternehmer, Gesellschafter einer gemeinnützigen GmbH. Rund siebzig Konzerte geben sie im Jahr, die Hälfte ihres Etats müssen sie selber einspielen. Auch der Dirigent ist nur zu Gast. Minasi genießt Weltruhm als Kenner und Interpret barocker Musik in historischer Aufführungspraxis. Er ist ein Virtuose, ein Forscher und Gelehrter – und vielleicht gerade deshalb auch offen für Neues, für Experimente in Klang und Dynamik. Da liegen er selbst und das Ensemble ganz nah beieinander. Wer in der Musikgeschichte weit genug zurückgeht, der ist es gewohnt, alles zu hinterfragen.
Die Atmosphäre ist locker. Die Musiker tragen Jeans und Turnschuhe, sie plaudern miteinander, lachen, blättern in den Noten. Minasi, nun im T-Shirt, ruft Zahlen in die Runde. Vierundvierzig, siebenundsechzig: Es sind die Nummern der Takte, in denen die Kollegen bitte noch einmal einsetzen mögen. Das ist faszinierend zu beobachten. Zack, sind sie da, mitten in einer temperamentvoll drängenden Kadenz, absolut präzise und sicher eingespielt seit 1994. Der Solist spielt und dirigiert, greift mit den Händen in die Luft, als könnte er die Schwingungen dort modellieren, er lockt, dämpft und kommentiert, dieselbe Sequenz gleich noch einmal oder from the beginning. Wenn Konzentration und Spielfreude einen Raum ausfüllen können: Hier ist es zu erleben. Mein Gott, muss es toll sein, in so einer Gemeinschaft aufzugehen!
Später erzählt der zweite Violinist von den Ausflügen des Ensembles. Nach Wilhelmsburg, auf die Veddel, zu gemeinsamen Auftritten mit der türkischstämmigen Sas- und Oud-Spielerin Derya Yildirim oder den Jazz-Musikern der Sinti-Familie Weiß. Sie geben Kinderkonzerte, spielen das amerikanische Streichquartett von Antonín Dvorák in der Ballinstadt, weil von dort die Auswanderer nach Amerika abgereist sind. Sie kontrastieren ihre Bratschen und Celli mit elektronischen Sounds, geben neue Kompositionen in Auftrag und ergänzen ihre musikalischen Vorstöße in unbekannte Welten, indem sie einen Sternenforscher oder einen Soziologen um Erläuterungen zu Gegenwart und Ewigkeit bitten. Im Dezember geht es nach Japan, Tokio und Nagoya, nächstes Jahr nach Südostasien. Ab Januar sind sie offiziell das zweite Residenzorchester der Elbphilharmonie, aber der Saal im Bunker mit seinen beweglichen Wänden und den konzentrischen Kreisen seiner Beleuchtung bleibt ihre Heimat. „Wir machen viele verrückte Sachen“, sagt Gramse, „aber es muss immer gut klingen.“
Nein, die Geschichte der Musik in Hamburg beginnt natürlich mit Telemann und Bach, Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler, die alle hier gelebt und gearbeitet haben. Sie nennt den in ganz Europa gerühmten Orgelbauer Arp Schnitger und „Steinway’s Pianofortefabrik“, die 1880 in der Schanzenstraße mit dem Bau ihrer berühmten Konzertflügel begann. Sie erzählt vom ersten bürgerlichen Opernhaus in Deutschland, es stand am Gänsemarkt, in dem der gerade 19 Jahre alte Georg Friedrich Händel seine erste Oper, „Almira“, uraufführen ließ, beruft sich stolz auf Komponisten wie Paul Dessau, György Ligeti und Alfred Schnittke und erinnert an legendäre Orchesterleiter wie Günther Wand, Christoph von Dohnányi oder Ingo Metzmacher. Der Musikkritiker Joachim Mischke hat ein wundervolles, sehr launiges und sehr dickes Buch darüber geschrieben.
Es ist die Geschichte einer Kultur, die nicht von Fürstenhöfen aus dirigiert, sondern aus bürgerlichem Engagement begründet und gefördert wurde. Mal großzügig, mal vielleicht weniger, aber immer war da ein Freiraum, der den Künsten Luft zum Atmen ließ. Was daraus entstand, hat einen ganz besonderen, einen demokratischen Charakter. Zu danken ist ihm, dass die Schwellen niedrig sind, die Verbindungen fein verästelt, Herzen und Sinne weit geöffnet. Gleich drei große, großartige Klangkörper teilen sich die Aufgabe, die Neugier ihres Publikums zu wecken und zu belohnen – neben dem Residenzorchester der Elbphilharmonie die Hamburger Symphoniker unter dem Orchesterchef Jeffrey Tate und an der Oper das Philharmonische Staatsorchester mit seinem neuen Dirigenten Kent Nagano, der in Boston und Berlin, München und Manchester, Lyon und Los Angeles die großen Orchester der Welt dirigiert hat, bevor er nach Hamburg kam. Weil der Aufbruch jetzt nämlich hier stattfindet.
Und dann all die vielen guten, sehr guten und hervorragenden Ensembles, die von Hamburg aus in die ganze Welt abstrahlen – sie sind Produkte und Ausdruck dieser demokratischen Gesinnung auch in der Kultur: die Camerata, die Klassik Philharmonie, das Bachorchester, das Harvestehuder Sinfonieorchester, ungezählte Chöre, Kammermusik-Ensembles, Klaviertrios und Streichquartette. Die Geschichte der Musik in Hamburg? Vielleicht beginnt sie an einem Freitag Ende November. Im Rolf- Liebermann-Studio des NDR präsentiert der Harfen-Virtuose Xavier de Maistre junge Harfenisten, seine eigenen Schüler von der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg und Solisten der Akademien aus Hannover, Lübeck und Rostock. Die Stimmung auch hier: gespannte, freudige Erwartung. Das hat sich in sechzig Jahren kaum geändert. Seit 1957 bietet das „Podium der Jungen“ einmal im Monat begabten Musikern diese Chance, und für viele – Martha Argerich, Christoph Eschenbach, Thomas Quasthoff – war es so etwas wie die Startrampe zu einer Weltkarriere.
Wird die Elbphilharmonie nun also so etwas wie ein neuer Weltraumbahnhof der Kultur? Die Erwartungen sind gewaltig. Fast zehn Jahre brauchte es, den Entwurf der Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron zu vollenden, die Kosten haben sich dabei verzehnfacht auf 789 Millionen Euro. Es soll an einem der Fleete in der Nähe einen Mann gegeben haben, der das Privileg genoss, von seinem Büro direkt auf das wachsende Wahrzeichen der Stadt blicken zu können – und dennoch seine Vorhänge geschlossen hielt. Er könne nicht mit ansehen, klagte er, wie dort drüben das Geld vernichtet werde. Ob er sich inzwischen trösten lässt? Das berühmte Opernhaus von Sydney hat vom Baubeginn 1959 bis zu seiner Eröffnung 14 Jahre gebraucht; die Baukosten multiplizierten sich dabei um den Faktor 14, und 100 Millionen australischer Dollar waren damals eine gewaltige Summe. Fragt heute jemand danach, wenn vier Millionen Menschen pro Jahr das von der Unesco als Weltkulturerbe gefeierte Bauwerk in ehrfürchtigem Staunen betreten?
Für Christoph Lieben-Seutter, den Generalintendanten der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle, ist das mit dem Weltraumbahnhof kein schlechtes Bild. Vielleicht passt aber besser titelthema_text2das vom Fahrstuhl oder noch besser das von der Rolltreppe, die das Publikum ganz real vom Eingang auf der Rückseite des ehemaligen Kaispeichers in einem atemberaubend langen Schwung vor ein Panoramafenster befördert, von dem der Blick über Kräne und Containerschiffe in den Sonnenuntergang geht. Erst mal niederknien. „Fast überall vom Wasser umgeben“, schwärmt der Musikmanager. „Auf der einen Seite der Hafen, auf der anderen die Bürgerstadt: symbolischer und kraftvoller geht es kaum.“
Auch für die Musiker steckt viel Realität in der Metapher vom unaufhaltsamen Aufstieg. Die Qualitäten des Hauses und die der Musik bedingen einander wechselseitig, beinahe wie ein Perpetuum mobile, beinahe, als ließen sich die Gesetze der Physik außer Kraft setzen. „Die Akustik der Elbphilharmonie ist unglaublich transparent“, beginnt Lieben-Seutter zu erläutern. „Auch die Musiker hören sehr viel genauer, was um sie herum vorgeht.“
Schon deshalb werden die Orchester des Hauses einen Sprung nach vorn machen, da gibt es gar keinen Ausweg. Und die klangliche Qualität eines Saals, in dem keiner der 2100 Zuhörer weiter als dreißig Meter vom Dirigenten entfernt sitzt, wird zu einer Attraktion für die besten Musiker der Welt. Das Programmbuch für die erste Spielzeit, falls sich jemand an so etwas erinnern kann, ist so dick wie das Telefonbuch von, sagen wir, Bremen. Als Gäste werden erwartet: die Wiener und die Berliner Philharmoniker, Riccardo Muti mit dem Chicago Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Ingo Metzmacher und Christoph von Dohnányi, Cecilia Bartoli und Jonas Kaufmann, Anja Harteros, Diana Damrau und Bryn Terfel, Anne-Sophie Mutter, Baiba Skride und Gidon Kremer, die Pianisten Lang Lang, Mitsuko Uchida und Murray Perahia, der indische Sarangi-Virtuose Dhruba Ghosh, der Cellist Yo-Yo Ma, der Komponist und Klarinettist Jörg Widmann und für Genießer edler Jazz-Musik Brad Mehldau, Branford Marsalis und Chick Corea. Na?
Die Geschichte der Musik in Hamburg beginnt an einem Mittwoch im September auf der Bühne im großen Saal der Elbphilharmonie. Die Organistin Iveta Apkalna bereitet sich vor. In ein paar Tagen wird sie die von Philipp Klais aus Bonn gebaute Orgel des neuen Konzerthauses mit ihren 4765 Pfeifen einer kleinen Auswahl von Musikkritikern vorstellen. Sie spielt einen Ton, lässt ihn sich ausbreiten bis unter den Deckentrichter des Saals, zieht alle Register. Dann atmet sie aus. „So einen Klang habe ich noch nicht erlebt“, sagt die aus Lettland stammende Titularorganistin der Elbphilharmonie. „Er kommt von überall. Diese Orgel umarmt das Publikum.“

 

Text: Dr. Martin Tschechne