Keine Stadt Deutschlands ist so grün wie Hamburg. Mit satten 114 Quadratmetern GRÜNFLÄCHE PRO EINWOHNER zählt sie zu den Top Ten in Europa. Und die Verantwortlichen versprechen: Hamburg soll noch grüner werden.
In der Hamburger Pflanzenwelt lebt ein echter Promi. Der Schierlings-Wasserfenchel wurde durch seine Rolle im Drama um die Elbvertiefung zur bundesweiten Berühmtheit. Das vom Aussterben bedrohte Kraut mit den winzigen weißen Blüten kommt weltweit nur an einem einzigen Ort vor: an der Unterelbe im Raum Hamburg. Es steht auf der roten Liste der bedrohten Farn- und Blütenpflanzen. Durch die Elbvertiefung, bei der rund 40 Millionen Kubikmeter Sand und Schlick aus der Tiefe geschaufelt werden, verändert sich sein Lebensraum massiv. Naturschützer waren alarmiert, als diese erneute „Fahrrinnenanpassung“ – es ist die neunte seit dem Jahr 1818 – gefordert wurde. Siebzehn Jahre lang wurde gestritten und verhandelt. Oft ging es um Ausgleichsflächen, die schwierig zu finden waren. Der Schierlings- Wasserfenchel braucht die Tide zum Leben. Die Stadt Hamburg braucht den Hafen. Dieser soll durch die Elbvertiefung wettbewerbsfähig bleiben. Denn erst durch sie können auch die größten der großen Frachtschiffe tide-unabhängig die Terminals des drittgrößten europäischen Containerhafens erreichen. Der Schierlings-Wasserfenchel ist einer von vielen seltenen und gefährdeten Arten, die es in Hamburg gibt. Dieser besondere Reichtum und die üppige Natur sind für die Hansestadt Segen und Fluch zugleich.
Hamburg ist so grün wie keine andere Großstadt in Deutschland. Laut Green City Index der holländischen Agentur Travel- Bird gehört die Elbmetropole mit 114 Quadratmetern Grünfläche pro Einwohner sogar zu den zehn grünsten Städten Europas (Rang 9). Damit liegt sie weit vor Berlin und München. Europäischer Spitzenreiter ist die isländische Hauptstadt Reykjavik mit 410 Quadratmetern Grün pro Einwohner. Tatsächlich besteht Hamburg fast zur Hälfte aus Natur (Gewässer, Wald, Parkflächen und Landwirtschaft zusammengerechnet). Vom Duvenstedter Brook über die Wedeler Marsch bis hin zur Fischbeker Heide – insgesamt 35 Naturschutzgebiete gibt es hier. Sie machen rund 9 Prozent der Hamburger Landesfläche aus. Dazu kommen fast 20 Prozent Landschaftsschutzgebiete.
Der Naturschutz hat in Hamburg eine besondere Bedeutung. Gleichzeitig soll die Stadt wachsen – sowohl wirtschaftlich als auch städtebaulich. Konflikte sind da unvermeidbar. Immer wieder geht es um die Frage: Wie lassen sich Naturschutz, Wirtschaftswachstum und moderne Stadtentwicklung miteinander vereinbaren?
Bekenntnis zur grünen Stadt
Im Jahr 2016 gab es für den Naturschutzbund NABU einen Schreckmoment. „Wir werden jedes Jahr 10 000 neue Wohnungen bauen“ verkündete der damalige Bürgermeister Olaf Scholz auf dem SPD-Parteitag in Wilhelmsburg. „Wir dachten damals: Wenn er das wirklich ernst meint, ist die Fläche der Stadt endlich und das Grün auf Dauer futsch“, erzählt Malte Siegert, Leiter Natur- und Umweltpolitik des NABU. Die Naturschützer starteten die Volksinitiative „Hamburgs Grün erhalten“, die in kurzer Zeit 23 000 Unterschriften einsammelte – weit mehr als für einen Volksentscheid nötig. Um diesen abzuwenden, ließ sich die Bürgerschaft im Jahr 2018 auf harte Verhandlungen ein. Im April 2019, nach gut einem Jahr, präsentierten die Beteiligten eine Einigung, die für Aufsehen sorgte. Es sei ein „großer Sprung für den Naturschutz“, jubelte NABU-Vorsitzender Alexander Porschke, ein „Meilenstein in der Entwicklung der Stadt“, lobte Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks, und manch ein Journalist hielt es gar für ein „kleines Wunder“ (Die Welt), dass so viele Interessen unter einen Hut gebracht wurden. Bei der Verkündung waren neben Mitgliedern der Bürgerschaft und des NABU auch der Bürgermeister Peter Tschentscher, Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt und Umweltsenator Jens Kerstan zugegen.
„Ein größeres Bekenntnis zu einer grünen Stadt kann man von politischer Seite kaum abgeben“, schwärmt auch Malte Siegert. Bemerkenswert bei der Vereinbarung ist, dass der Anteil an Landschaftsschutzgebieten von 20 Prozent erhalten, der Anteil an Naturschutzgebieten von derzeit neun auf mindestens zehn Prozent sogar erhöht werden soll. „Im Prinzip haben wir verhandelt, dass mindestens 30 Prozent der Landesfläche grün bleiben soll“, erklärt Siegert. Zudem müssen Flächen, die für den Bau in Anspruch genommen werden, eins zu eins im Hamburger Stadtgebiet wieder ausgeglichen werden. Genau hier liegt ein Knackpunkt. Denn dieser Ausgleich hatte in der Vergangenheit nicht immer angemessen stattgefunden. Nun wurde detailliert ein Mechanismus beschrieben, der greift, wenn der Senat doch eine Fläche in einem Landschaftsschutzgebiet oder im Biotopverbund bebauen will. Die Ausgleichsflächen in gleicher Größe und Qualität innerhalb des Stadtgebietes müssen verbindlich nachgewiesen werden. „Die Hauptaufgabe wird sein, dafür zu sorgen, dass die von der Bürgerschaft beschlossene Vereinbarung auch vernünftig vom Senat umgesetzt wird“, sagt Malte Siegert. Dafür braucht es vor allem zusätzliches Personal. Zehn neue Ranger will die Stadt einstellen. Insgesamt werden ab 2021 über fünf Millionen Euro zusätzlich pro Jahr investiert. „Damit verdoppelt sich fast der Naturschutzhaushalt der Hansestadt Hamburg“, sagt Siegert und schwärmt: „Es ist bemerkenswert, dass die Politik offensichtlich verstanden hat, wie wichtig es ist, diese grüne Stadt zu erhalten – im Sinne der Biodiversität, der Lebensqualität und des Stadtklimas.“
Stadtentwicklungssenatorin Stapelfeldt erklärt ihre Vorgehensweise: „Wir fahren eine Doppelstrategie mit Vorrang für die Innenentwicklung Hamburgs bei gleichzeitiger behutsamer Erschließung neuer Wohngebiete und Gewerbeflächen an den gut erschlossenen Rändern der Stadt.“ Die Bedeutung des Grüns für Hamburg ist ihr durchaus bewusst: „Zu allen großen Stadtentwicklungsprojekten gehören Grün- und Erholungsflächen als unverzichtbarer Faktor der Lebensqualität dazu.“ Und dass nicht nur Grün zu Beton wird, sondern auch umgekehrt, zeige sich am A7-Deckel. „Die Überbauung der Autobahn schafft rund 25 Hektar neuer Grünfläche einschließlich Platz für Kleingärten und bildet einen neuen Grünzug vom Volkspark bis zur Elbe“, sagt Stapelfeldt.
Die Metropolen drohen zu überhitzen
Fakt ist: Das viele Grün ist nicht nur schön, sondern essentiell, um Hamburg als lebenswerte Stadt zu erhalten. In Zeiten des Klimawandels droht allen wachsenden Weltmetropolen eine Gefahr: „Die Städte überhitzen“, sagt Malte Siegert. Korridore, Straßenbäume, Gebäudebegrünung – das alles sorgt dafür, dass die Stadt belüftet und gekühlt werden kann. Hamburg bemüht sich beständig, das Stadtklima zu verbessern. Es gibt eine Gründach-Strategie der Behörde für Umwelt und Energie, bei der möglichst viele Dächer mit Grünflächen ausgestattet werden sollen. Die Aktion „Mein Baum – meine Stadt“ will gemeinsam mit der Loki Schmidt Stiftung den Baumbestand der Stadt erhöhen – laut Online-Baumkataster gibt es momentan 223 210 Exemplare –, und im Koalitionsvertrag sind gut klingende Vorsätze wie „Straßenbäume erhalten“, „Kleingärten schützen“ und „Urban Gardening unterstützen“ fest verankert.
Dass beim Stadtklima noch Verbesserungspotenzial herrscht, zeigt sich in der Luft. Ob Stickstoffdioxid oder Feinstaub – regelmäßig werden Grenzwerte überschritten. Die Dieselfahrverbote in der Holstenstraße und der Stresemannstraße führten dazu, dass die Messwerte ein Jahr später noch schlechter waren als zuvor. Dies zeigt die Hilflosigkeit der Verantwortlichen, das Problem mit der Luftqualität im Stadtgebiet in den Griff zu bekommen. Doch anstatt modernste Messtechnik anzuwenden setzt die Behörde für Umwelt und Energie noch auf sehr traditionelle Vorgehensweisen, um die Luftqualität zu überprüfen. Andere Städte sind da schon weiter.
So installierten zum Beispiel London und Wien großflächig kleine Messsensoren im Stadtgebiet. Köln ließe die Ampelanlagen aufgrund von Luftqualitätsdaten steuern. Und Paris und Brüssel beziehen eben diese Daten in das Management des öffentlichen Nahverkehrsnetzes mit ein. In Hamburg ist der Hafen die größte Schmutzschleuder. Der Schiffsverkehr macht knapp 40 Prozent der Luftverschmutzung mit Stickoxiden aus. Im Vergleich beträgt der Anteil des Kfz-Verkehrs nur 29 Prozent. Und dennoch liegt der Fokus auf dem motorisierten Straßenverkehr und auf der Verbesserung des Öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Hier ist tatsächlich einiges in Bewegung, großes Potenzial bleibt trotzdem. Um die Bürger zu animieren, ihr Auto stehen zu lassen, soll der sogenannte Hamburg-Takt eingeführt werden. Dies garantiert, dass jeder Hamburger an jedem Ort der Stadt innerhalb von fünf Minuten ein Angebot des öffentlichen Nahverkehrs erreicht.
Die U5 kommt, wenn auch erst in etlichen Jahren. Beim Thema „autofreie Innenstadt“ ist die Stadt zögerlich. Immerhin wurde in der Innenstadt nun ein Bereich testweise für Autos gesperrt. Die Kleine Johannisstraße und ein Teil der Schauenburgerstraße nahe dem Rathaus sind bis Oktober den Großteil der Zeit Fußgängerzonen. Auch in Ottensen werden ab September einige Straßen westlich des Bahnhofs sechs Monate lang fast autofrei. Malte Siegert vom NABU ist das nicht genug. „Wir müssen uns entscheiden, was wir sein wollen. Wollen wir die autogerechte Stadt der 60er und 70er Jahre sein oder doch mal ein bisschen 21. Jahrhundert werden und gewisse Verkehrswege- und mittel unattraktiver machen?“
Die Stadt setzt auf E-Mobilität
„Wir stehen auch zu denjenigen, die Auto fahren wollen oder müssen“, sagt Bürgermeister Peter Tschentscher. Er setzt beim Thema Umweltfreundlichkeit vor allem auf E-Mobilität. Gerade wurden in der HafenCity die ersten elektrobetriebenen autonomen Kleinbusse auf die Straße gebracht. Tausende E-Roller rasen bereits über innerstädtische Fahrradwege ebenso wie unzählige Stadträder. Radschnellwege sollen ausgebaut werden. Der Busverkehr wird auf emissionsfreie Fahrzeuge umgestellt. Um die CO2-Emissionen deutlich zu reduzieren will Tschentscher noch im Laufe dieses Jahres einen Klimaschutzplan beschließen.
Mit Naturschutz, Nachhaltigkeit und neuen Wegen in der Landwirtschaft beschäftigen sich auch viele Hamburger Unternehmen. Zahlreiche grüne Start-ups gibt es in der Hansestadt. Zum Beispiel die grüne Logistikinnovation „Port Feeder Barge“. Mit dem im Wasser liegenden Terminal sollen Container im Hafen effizienter und klimafreundlicher transportiert und verladen werden können. Oder das Unternehmen „DZ-4“, Deutschlands erster dezentraler Stromversorger, der Solaranlagen an Eigenheimbesitzer verpachtet. Innovativ ist auch die Idee von „Farmers Cut“, bei dem Salat in einem geschlossenen Raum unter Laborbedingungen nahe den Deichtorhallen angebaut wird. Oder der Luftreiniger von Airy, einem Pflanzentopf, der die Wurzeln belüftet und und bis zu 40 Kubikmeter Raumluft in 24 Stunden reinigt – ohne Strom. Hinzu kommt ein Trend, der dafür sorgt, dass Hamburg noch grüner wird: Immer mehr Landwirtschaft verlagert sich in die City. Selbst dort, wo sich die grünste Großstadt Deutschlands anfühlt wie eine Wüste, sprießen kleine Blättchen, schmale Stengel und duftende Kräuterzweige in die Höhe. Endstation U4: Elbbrücken. Bei über 30 Grad im Schatten brennt die Sonne auf die Bauwüste neben dem modernen Glasbau der U-Bahn-Station. Hier ist der Bauboom der Hafencity noch nicht angekommen. Einen kurzen Fußweg entfernt, an staubigen Sandflächen vorbei gegenüber der Flüchtlingsunterkunft hat „Stadtgemüse“, ein Projekt der „Was tun!“-Stifung, sein Zuhause.
Landwirtschaft in der Großstadt
In einem kleinen Holzhaus steht Oscar Jessen in der Küche und schaut aus dem Fenster auf die 32 hölzernen Hochbeete, die er 2018 zusammen mit Freunden aus Europaletten zusammengezimmert hat. „Heute könnten wir Salat ernten“, sagt er und schenkt selbstgemachte Holunderlimonade ein. Dann geht er raus und kommt wenig später mit einem Bündel Radieschen wieder. Das Projekt Stadtgemüse vereint Landwirtschaft, Stadtbegrünung und soziales Engagement in einem. Der offene Gemüsegarten ist ein generationenübergreifendes Projekt, das die nachbarschaftliche Gemeinschaft fördern sowie den Austausch zwischen Geflüchteten und Einheimischen stärken will.
Oliver Jessen studiert Umweltwissenschaften und hat vor einigen Jahren während eines Schweden-Aufenthaltes erstmalig erlebt, wie die Lebensmittelversorgung in die Stadt verlagert wurde. Als er zurück in Deutschland war, „hatte ich Lust, etwas Eigenes aufzubauen.“ 2018 ging es los. Mit der Unterstützung des Business Club Hamburg, der eine Charity Aktion mit Spendenaufruf veranstaltete und damit wertvolle finanzielle Mittel bereitstellte, baute er die ersten Hochbeete, pflanzte Gemüse, Salate und Kräuter und hat inzwischen eine „lustige Truppe“ aus Flüchtlingen und Einheimischen zusammengebracht, die gemeinsam gärtnern, gießen, ernten und kochen.
Ähnliche Gemeinschaftsgärten wie Stadtgemüse gibt es viele in Hamburg. Auf der Seite www.anstiftung.de sind alleine 32 dieser Landwirtschaftsprojekte verzeichnet. Einige sind interkulturell, andere schlicht nachbarschaftlich verbindend. Alle bringen ein Stück Landwirtschaft in die Großstadt. Und auch die Bienen kommen zurück. Die Stadt-Imkerei boomt weltweit, auch in Hamburg. Und so summt es auf Dachterrassen, in Kleingärten und auf Blumenwiesen immer mehr. Das Hamburger Start-up „BEEsharing“ hat ein kostenloses Online-Netzwerk entwickelt, mit dem Bauern und (Stadt-)Imker Kontakt zueinander aufnehmen können. Die Bienen treffen hier auf viele andere Tiere. Vor zwei Jahren staunten Forscher nicht schlecht, als sie entdeckten, dass die Artenvielfalt in Hamburg sogar größer ist als angenommen. Besonders enorm war der Tierreichtum auf der unter Naturschutz stehenden Elbinsel Neßsand (366 Tierarten). Auf dem Energieberg in Georgswerder, der ehemaligen Skandaldeponie, die inzwischen von der Natur zurückerobert wurde, entdeckten Forscher erstmals das Zittergras, auf Neuwerk krabbelte der seltene Rüsselkäfer.
Und der prominente und bedrohte Schierlings-Wasserfenchel? Der muss umziehen. Nach den 17-jährigen Streitigkeiten um die Elbvertiefung rückten dieses Jahr tatsächlich die Bagger an. Das berühmte Kraut soll nun auf der Billwerder Insel leben, wo für mehrere Millionen Euro extra zwei neue Wasserbecken angelegt werden.