Oft kommen Sport und Bewegung in einer wachsenden Stadt wie HAMBURG zu kurz. Über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Relevanz einer aktiven
Bevölkerung und wie mit Sportanlagen Klimaanpassung betrieben werden kann.

Modellstadtteil für die Active City
Noch ist der erste Spatenstich nicht getan, noch sind keine Baufahrzeuge angerollt, keine Zäune und Gerüste aufgebaut. Steigt man an der S-Bahnstation Allermöhe aus der S2, erblickt man im Norden nur die Äcker und Wälder des Bergedorfer Marschlands. Etwas trostlos mutet das Gelände an, das sich von Bergedorf im Osten bis zum ehemaligen Marschhufendorf Billwerder im Norden erstreckt. Doch für dieses Gebiet gibt es große Pläne: In den nächsten Jahren wird hier Hamburgs 105. Stadtteil Oberbillwerder entstehen. Auf 118 Hektar sollen bis zu 7000 Wohnungen gebaut werden. Dazu kommen 4000 bis 5000 Arbeitsplätze, ein Bildungs- und Bewegungszentrum, zwei Grundschulen und 14 Kitas. Ein neuer Stadtteil, auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampft; eine große Chance, Stadtentwicklung und -planung modern zu denken. „Im Großen und Ganzen soll es darum gehen, in Hinblick auf ökologische sowie soziale Nachhaltigkeit und Verkehrsplanung einen ambitionierten neuen Stadtteil zu entwickeln“, beschreibt Moritz Vahldiek, Projektmanager der Internationalen Bauausstellung (IBA), die Vision für das Entwicklungsgebiet Oberbillwerder.

Die Planung des Stadtteils begann 2016 und fiel damit in denselben Zeitraum der Auszeichnung Hamburgs mit dem Premiumlabel „Global Active City“ im Jahr 2018. Seitdem gehört die Hansestadt zusammen mit Metropolen wie Buenos Aires, Liverpool und Ljubljana zu den neun Active Cities weltweit. Das Label wird Städten verliehen, die das Bewusstsein der Bevölkerung für Sport und eine gesunde Lebensweise fördern, sowie die nötigen infrastrukturellen Voraussetzungen bereitstellen.

In Hamburg passiert dies zum einen für die rund 528 000 Mitglieder der 860 Vereine und Verbände, allen voran des HSV (110 000 Mitglieder) und des FC St. Pauli (35 000 Mitglieder). Zum anderen sollen die vielen Sportbegeisterten davon profitieren, die vereinsungebunden Sport treiben oder sich in einem der über 300 Fitnessstudios abschwitzen – und auch die, die weder das eine noch das andere tun. Denn Spaziergänger oder Menschen, die auf dem Fahrrad zur Arbeit fahren sind ebenso auf die Sportinfrastruktur einer Stadt angewiesen wie Vereinssportler, Jogger und Streetballer.

„Das Element Active City wurde in die DNA des Oberbillwerder-Masterplans von 2019 mit eingeschrieben und ist dort fest verankert“, erklärt Vahldiek. Sport schon so früh in der Stadtentwicklungsplanung mitzudenken sei eine große Chance und etwas, das bei der Entwicklung von Quartieren normalerweise nicht so hoch auf der Agenda stehe, sagt der Projektmanager. Deswegen soll Oberbillwerder als Modellstadtteil für die Active City aufzeigen, wie man Sport, Bewegung und Stadt vereinen kann. Welche Chancen sich dadurch ergeben, welche ökonomische, kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung Sport im Kontext einer wachsenden Großstadt zukommt und wie man mit Hilfe von Sportanlagen Klimaanpassung betreiben kann, soll diese Spurensuche zeigen.

Klar ist, das Thema Sport und Bewegung ist in der Hamburger Politik angekommen. Es tut sich etwas in der Hansestadt, mit der Active City Strategie will man Sport ganzheitlich für mehr Lebensqualität in urbanen Räumen entwickeln. Zusätzlich wurde nach der gescheiterten Olympia-Bewerbung von 2015 eine Modernisierungsoffensive der Sportstätten angestoßen – durch das in Hamburg-Mitte angesiedelte Fachamt Bezirklicher Sportstättenbau. „Da hat sich ein Zug in Bewegung gesetzt, der nicht mehr aufzuhalten ist“, sagt Fachamtsleiter Torge Hauschild. Sein Amt betreut 150 Bezirkssportanlagen mit circa 215 Großspielfeldern. Vereinseigene Anlagen zählen nicht dazu, genauso wenig wie die rund 600 Schulturn- und Bezirkssporthallen, die seit 2019 von der Gebäude Management Hamburg GmbH verwaltet werden.

Pro Jahr modernisiert Hauschilds Fachamt sieben bis acht Sportplätze. Von Sanierung möchte er nicht sprechen: „Das würde ja bedeuten, dass die bestehende Infrastruktur nur überarbeitet wird, aber in sich eigentlich so bleibt, wie sie ist. Und das ist nicht das, was wir in Hamburg haben, sondern eine intensive Modernisierungsbewegung.“ Dazu gehört auch, innovativ und zukunftsgerichtet zu denken. Wie der Sportplatz an der Möllner Landstraße in Billstedt beispielsweise. Das Hein-Klink-Stadion dient dort als Notentwässerungsanlage, wenn die städtischen Entwässerungseinrichtungen den Wassermassen durch Extremregenfälle nicht mehr Herr werden können. Mehr als 500 000 Liter Niederschlag können von den unterirdischen Speicherelementen aufgenommen werden. Auch zur Energiegewinnung können Sportplätze beitragen, etwa über Photovoltaik oder Erdwärme. Als wachsende Stadt mit endlichem Platz und begrenzten Ressourcen komme es auf die „Multikodierung“ von Sportstätten an, sagt Hauschild. Neben Sport also noch eine weitere Nutzungsweise, die anderen städtischen Interessen und Notlagen gerecht wird.

Wertschöpfung durch den Sport
Die Stadt Hamburg ist bereit, u.a. für die Multikodierung viel Geld in die Hand zu nehmen: In den vergangenen zehn Jahren realisierte allein Hauschilds Fachamt über 140 Instandsetzungs-oder Neubaumaßnahmen für 115 Millionen Euro. Wie rechtfertigt man diese immensen Investitionen in ein Konsumgut? Denn genau das sei der Sport, sagt Frank Daumann, Professor für Sportökonomie an der Universität Jena. Die wirtschaftliche Bedeutung des Sports, erklärt er, „sollte man nicht unterschätzen.“ So ermittelt das sogenannte Sportsatellitenkonto seit 2008 die volkswirtschaftliche Relevanz aller sportlicher Aktivitäten. Im aktuellsten Berichtsjahr 2019 wies es einen Beitrag von 80,3 Milliarden Euro, 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), aus. Für Hamburg errechnete das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) 2020 direkte, indirekte und induzierte Effekte von rund 1,13 Milliarden Euro pro Jahr an Wertschöpfung, was gerade einmal einem Prozent des Hamburger BIPs entspricht.

Das Wirtschaftsinstitut kam allerdings zu dem Ergebnis, dass aus einem Euro, der direkt im Sport ausgegeben wird, ungefähr drei Euro an Wertschöpfung resultieren; vier, wenn man die intangiblen, also immateriellen Gesundheitsund Wohlfahrtseffekte miteinbezieht. Die Proficlubs HSV und FC St. Pauli wiesen für 2022/23 einen Umsatz von 113 und 50 Millionen Euro aus. Im Vergleich mit anderen Unternehmen sind das geringe Beträge. Dem Profisport werden aber andere Effekte zugeschrieben als nur wirtschaftlicher Gewinn. „Die gesellschaftliche Relevanz entsteht aus unserem nachhaltigen Beitrag zum Gemeinwohl“, sagt Eric Huwer, Finanzvorstand des HSV. „Unsere gelebte Vereinsidentität, das Gefühl der Verbundenheit und die Identifizierung mit Hamburg und die Wahrnehmung unserer sozialen undökologischen Verantwortung sind Ausdruck dieser gesellschaftlichen Ambition.“

Dabei geht es natürlich nicht nur um Fußball. Hamburg, die einzige europäische Großstadt jahrelang ohne Erstligafußball, hatte im Juli 2018 in anderen Sportarten 67 Erstligisten; zwanzig davon sind olympische Disziplinen. „Im Stadion kommen alle Menschen zusammen, egal mit welchem religiösen Hintergrund, welchem Status, egal ob jung oder alt“, sagt HSV-Vorstand Eric Huwer und beschreibt auf den Punkt die gesellschaftliche und kulturelle Komponente des Spitzensports: „Das Stadion ist der größte gemeinsame Nenner einer Gesellschaft.“

Etwa eine halbe Millionen Menschen besuchten vergangene Saison das Millerntor-Stadion in St. Pauli, bei den Heimspielen des HSV waren es gut 900 000 Menschen. Dem Volksparkstadion kommt dieses Jahr zudem eine weitere Bedeutung zu: Vier Spiele der in Deutschland stattfindenden Fußball-Europameisterschaft werden dort ausgetragen. Auch sonst finden in Hamburg jährlich Dutzende internationale Sportgroßereignisse statt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Ausdauersport, zuletzt gastierte sogar die Rugby-EM in der Hansestadt. Ein weiterer Versuch, die olympischen Spiele nach Hamburg zu holen, wurde 2023 vom Senat beschlossen. Der Bürgerentscheid dazu soll 2025 stattfinden. Davon erhofft sich die Stadt Einnahmen durch angereiste Besucher und – vor allem – sich überregional als das präsentieren zu können, was sie sein möchte: eine sportaffine und dynamische Stadt.

Allerdings zeigen Studien, dass die Nutzen von Sportgroßereignissen meist über- und die dabei entstehenden Kosten meist unterschätzt werden. „Wenn man Geld in Sportgroßereignisse steckt, ist das vor allem ein Konsumnutzen“, sagt Sportökonom Daumann. „Das ist wie, wenn ich mir ein Eis kaufe. Für eine Weile schmeckt es gut, dann ist es aufgegessen. Was bleibt, sind die unnötigen Kalorien.“ Für die Zeit des Events gebe es Preissteigerungen in der Hotel-oder Gastronomiebranche. Ist es vorbei, bleiben die Preise auf hohem Niveau. Auch die – wenn überhaupt – positiven touristischen oder regionalwirtschaftlichen Auswirkungen seien aufgrund von Verdrängungseffekten meist nur von kurzer Dauer.

Bewegungsverhalten der Hamburger
Doch wer erinnertsich nicht an das Fußball-Sommermärchen von 2006; wo er oder sie war, als Fabio Grosso die Herzen der deutschen Fans brach und in der 119. Minute für Italien den Führungstreffer im Halbfinale erzielte? „Bei Sportgroßereignissen gibt es natürlich sehr viele weiche Faktoren, die nicht in monetären Größen ausgedrückt werden können“, sagt Daumann. „Zum einen Reputationseffekte, die das Ansehen einer Region erhöhen können, zum anderen sorgen solche Events zu einer stärkeren Identifikation mit der Heimatregion.“ Nils Schumacher, Sportwissenschaftler und Leiter des Science and Transfer Centers Active City an der Universität Hamburg, sieht darüber hinaus eine Chance für die Bewegungsförderung. „Großereignisse und auch Profivereine können durch die Vorbildfunktion von Athleten dazu beitragen,dass sich Menschen und vor allem Kinder mehr bewegen“, sagt er.

Denn die Bedeutung des Sports zeigt sich in seinen anderen Funktionen, selbst wenn er keinen allzu bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellt. Das große Argument ist und bleibt dabei die Förderung von Gesundheit. „Die Datenlage zur präventiven physiologischen, aber auch psychischen, also positiven Wirkung von Sport ist erschlagend“, sagt Schumacher. Sport und Bewegung reduziere das Risiko, an diversen Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu leiden und helfe auch dabei, psychische Erkrankungen wie Depressionen vorzubeugen. Das man darüber zu wenig wisse, sei aber nicht das Problem. „Das Problem ist, dass wir es trotz des Wissens um diese Daten und den Effekt von Bewegung in der Prävention solcher Erkrankungen in den vergangenen Dekaden nicht geschafft haben, die Menschen mehr in Bewegung zu bringen“, moniert Schumacher, Autor des ersten Hamburger Bewegungsberichts.Die 2022 veröffentlichte Untersuchung stellt eine Evaluation des Bewegungsverhaltens der Hamburger Einwohner dar und soll der Stadt bei der Entwicklung von Strategien helfen. „Die Ergebnisse waren zwar positiv, aber noch nicht zufriedenstellend. Es gibt noch sehr vie zu tun“, kommentiert Schumacher. Demnach folgen 60 Prozent der Erwachsenen in Hamburg (Bundesweit: 46 Prozent) in ihrer Freizeitgestaltung den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation, bewegen sich also wöchentlich mindestens 150 Minuten lang moderat oder 75 Minuten intensiv.

„Bei Bewegungsförderung geht es grundsätzlich um die Förderung von Lebensqualität“, sagt Nils Schumacher. Beispielsweise durch körperlich aktiv zu bewältigende und einladende Transportwege. Darüber hinaus kann eine gute Sportinfrastruktur die Attraktivität einer Stadt als Wirtschaftsstandort erhöhen und potenzielle Arbeitnehmer locken. Das sei ein entscheidender Standortfaktor, sagt auch Eric Huwer vom HSV. „Wir spüren das zunehmend bei der Mitarbeitergewinnung. Neben Gehalt, Rahmenbedingungen und Arbeitszeiten wird deutlich mehr Wert auf sportliche Interaktion gelegt.“

Standard höher schrauben
Zurück in Oberbillwerder. Dort ist ein Aktivitätspark geplant, der den Schulund Vereinssport mit zwei Groß- und mehreren Kleinsportanlagen versorgen soll. Für den Freizeitsport wird es den sogenannten Grünen Loop geben, eine ringförmige Parkanlage, die den neuen autoarmen Stadtteil im Inneren zusammenbindet, ganz nach Schumachers Idee der körperlich aktiv zu bewältigenden Transportwege. Ziel des Modellstadtteils ist es zudem, die Bewohner zu motivieren, einen aktiven und bewegten Alltag zu führen – was auch soziale Nachhaltigkeit befördern soll.

„Sport hat eine ganz wichtige soziale Komponente“, sagt Moritz Vahldiek von der IBA. „Er kann ein schönes Mittel sein, um die Nachbarschaft zusammenzubringen und ungemein zur Quartiersbildung beitragen.“ Die für Oberbillwerder entworfenen Lösungen sollen deshalb Inspiration und Vorbild sein. Man wolle in Oberbillwerder keine „Insel der Glückseligkeit“ bauen, wo Bewegung ausnahmsweise eine große Rolle spiele, sondern den Standard in Hamburg höherschrauben, indem modellhafte Lösungen entwickelt werden. Noch ist viel zu tun, doch durch Ansätze, wie die Active-City-Strategie, die Modernisierungsoffensive von Hauschilds Fachamt oder eine erneute Olympia-Bewerbung, scheint Hamburg auf dem besten Weg in Richtung einer aktiven Sportstadt zu sein.

TEXT: Jonas Braun   FOTOS: WITTERS SPORTFOTOGRAFIE, ALAMY STOCKFOTO/MORITZ MÜLLER, VAHLDIEK