Hätten Sie‘s gewusst? Hamburg ist die BEDEUTENDSTE DEUTSCHE INDUSTRIESTADT. Von hier aus gehen die Produkte von Aurubis, Beiersdorf oder Montblanc zu den Kunden in aller Welt.

Die Elbe, die Alster, der Michel, der Hafen. Hagenbeck natürlich. Die Musicals. Und die Elbphilharmonie. Begriffe, mit denen Hamburg in der Welt assoziiert wird. Selbstverständlich spielen auch der HSV und der FC St. Pauli eine wichtige Rolle als Markenbotscha…ter der Hansestadt. Aber stärkster Industriestandort Deutschlands? Dies würden die wenigsten vermuten. Und doch ist Hamburg mit 600 Industrieunternehmen (mit 20 und mehr Beschäftigten), 80 Milliarden Euro Umsatz, 120 000 Mitarbeitenden und einer Bruttowertschöpfung von 20 Milliarden Euro die bedeutendste deutsche Industrie-Stadt.

Es sind Zahlen, auf die Hamburg stolz sein kann. Nur: Wie zukunftssicher ist die Industrie in der Hansestadt angesichts der massiven Auswirkungen der Pandemie und des russsischen Angriffskriegs in der Ukraine? Der renommierte Ökonom Prof. Henning Vöpel hat sich mit dieser Frage im Auftrag des Industrieverbands Hamburg beschäftigt. Der ehemalige Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), inzwischen Direktor des Centrums für Europäische Politik (Cep), warnt in seiner Studie: „Die letzten Krisen haben schonungslos offenbart, dass Hamburg bereits von der Substanz lebt.“ Die Politik müsse handeln, um den Wohlstand der Metropolregion zu sichern. Matthias Boxberger, Vorsitzender des Industrieverbands Hamburg, kritisiert: „Hamburg bleibt hinter seinen industriepolitischen Möglichkeiten zurück. Wirtschaft und Industrie waren für die Politik lange Zeit kein Gewinnerthema. Für Wahlen orientierte man sich an Wohnungsbau oder Verkehrswende. Zu gut lief es, zu sicher schien der ewige Wohlstand.“

Mit einer Apotheke ging es 1880 los
Wie wichtig die Industrie für Hamburg ist, zeigt eine Tour durch ausgewählte Hamburger Industriestandorte. Sie muss fast zwangsläufig in Eimsbüttel beginnen. Bei Beiersdorf, Hamburgs einzigem DAX-Konzern mit einem Umsatz von 8,8 Milliarden Euro. An der Troplowitzstraße entsteht nach Plänen des Architektenbüros Hadi Teherani die neue Beiersdorf-Zentrale. Das Unternehmen investiert 250 Millionen Euro, um 3000 Büro- und Laborarbeitsplätze der Bereiche Entwicklung, Produktion und Verwaltung zusammenzuführen. Den Grundstein für den Aufstieg zu einem Konzern mit weltweit mehr als 21 000 Mitarbeitenden und Marken wie Nivea, Eucerin und Tesa legte Paul Carl Beiersdorf, der 1880 eine Apotheke im Schatten des Michels kaufte. Der Apotheker entwickelte medizinische Pflaster,das Datum der Patentschrift, der 28. März 1882, gilt zugleich als Gründungstag der Firma.

Mit dem Neubau der Zentrale steht fest, dass die Hansestadt weiter Heimat des Konzerns bleibt – selbstverständlich war dies nicht nach dem Umzug der Konzerntochter Tesa 2015 nach Norderstedt. „Das Unternehmen setzt damit ein wichtiges Zeichen, dass neben der Verwaltung auch Produktion und Entwicklung im städtischen Umfeld gut funktionieren können“, freute sich Bürgermeister Peter Tschentscher bei der Grundsteinlegung im März 2019. Und Vorstandschef Stefan De Loecker sagte: „Hier im Stadtteil liegen unsere unternehmerischen Wurzeln, die uns besonders am Herzen liegen.“

Das Thema Nachhaltigkeit rückt auch in Eimsbüttel immer weiter nach oben auf der Agenda. „Beiersdorf erfindet sich neu, blaue Dose, grüne Strategie“, schreibt das Hamburger Abendblatt. Dabei geht es um dünnere und leichtere Verpackungen mit weniger Kunststoff, umnachhaltige Palmölproduktion und dem Einsatz von erneuerbarem Plastik und umweltfreundlicheren Aerosolen. Unter der Marke Nivea gibt es mittlerweile mit Magicbar die erste zertifizierte Naturkosmetikserie bei Beiersdorf.

Mit Quantentechnik ganz vorn dabei
Zur nächsten Station der Tour durch ausgewählte Hamburger Industriestandorte sind lediglich ein paar Schritte zu gehen. Das technologische Unternehmen NXP Semiconductors residiert ebenfalls an der Troplowitzstraße. NXP? Vielen Hamburgern dürfte der Name kaum etwas sagen. Dabei gehört die frühere Philips-Halbleitertochter zu den weltweit führenden Unternehmen, die sich mit Chips-Technologie beschäftigen. Lars Reger, Technik-Vorstand bei NXP sagt: „Ohne unsere Lösungen würde ein Airbus nicht fliegen, ein BMW sich nicht öffnen lassen und der Reisepass oder Mobile Payment nicht funktionieren.“

Nun geht NXP einen neuen Weg. In Kooperation mit mit anderen Unternehmen sowie der Technischen Universität Hamburg (TUHH in Harburg) entwickelt das Halbleiterunternehmen für den Auftraggeber Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) Quantencomputer mit extrem hohen Rechengeschwindigkeiten, die etwa im Bereich der Cybersicherheit zum Einsatz kommen. „Quantencomputer ermöglichen Lösungen für komplexe Herausforderungen, die die Menschheit schon seit langer Zeit beschäftigen. Gemeinsam mit dem DLR und weiteren Partnern werden unsere Expertinnen und Experten bei dieser Innovation an vorderster Front mitwirken und ihr ganzes Fachwissen einbringen, um unsere Welt intelligenter und sicherer zu machen“, sagt Reger.

Das Hightech-Unternehmen NXP gehört auch zu den Initiatoren der 2022 gegründeten Initiative „Quantum Innovation Capital Hamburg“ (QUIC). Ihr Ziel ist es, die weltweit führenden Potenziale der Hamburger Wissenschaft und Wirtschaft im Bereich der Quantencomputertechnik zu bündeln, zu vernetzen und zu fördern. „Damit stellen wir sicher, dass Hamburg beim Wettstreit um die Technologieführerschaft ganz vorne mitspielt“, sagt Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank.

Erfogsstory dank Helmut Schmidt
Sechs Kilometer nordöstlich führt unsere Industrie-Route zu einem derart weitläufigen Gelände, dass Frank Bayer, Personalchef bei Lu…thansa Technik, seine Gäste lieber mit dem Auto abholen lässt. Vier Kilometer NATO-Draht umspannen das Areal in Fuhlsbüttel, auf dem Flugzeuge gewartet werden. Bayer steht vor einer Mammutaufgabe. In Zeiten des Fachkräftemangels soll er allein in Hamburg 1500 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen – weltweit sogar 4000. Denn das Geschägt brummt. 2022 stieg der Umsatz um 39 Prozent auf 5,6 Milliarden Euro und bescherte dem Konzern ein Rekordergebnis von 511 Millionen Euro (plus 41 Prozent).

Dabei kämpfte das Unternehmen vor drei Jahren, wie Bayer sagt, „ums Überleben“. Corona hatte die Luftfahrtbranche in die größte Krise ihrer Geschichte geschickt, Bayer musste 300 Mitarbeitenden, die noch in der Probezeit waren, kündigen. Und nun die 180-Grad-Wende: In diesem Jahr will Lu…thansa Technik fast 400 Quereinsteiger im Bereich Triebwerküberholung qualifizieren.

Dass der Konzern mit derzeit mehr als 9000 Beschäftigten zu einem der größten Arbeitgeber in Hamburg aufsteigen würde, hätte im August 1952 niemand erwartet, als ein junger Referent der Behörde für Wirtschaft und Arbeit grünes Licht für „die technische Basis einer deutschen Luftverkehrsgesellschaft“ gab. Sein Name: Helmut Schmidt, später einer der bedeutendsten Staatsmänner in der Geschichte der Republik. Im März 1955 bot die erste Doppelhalle Platz für drei viermotorige Propellermaschinen. Knapp sieben Dekaden später zählt Lufthansa Technik zu den weltweit führenden Anbietern für flugzeugzeugtechnische Dienstleistungen.

Weltweit anerkannte Metall-Expertise
Die nächste Station auf der Reise durch ausgewählte Hamburger Industriestandorte führt uns auf die andere Seite der Elbe: zum Kupferproduzenten und Kupferwiederverwerter Aurubis. Bis April 2009 firmierte der Metall-Konzern unter dem Namen Norddeutsche Affinerie AG. Weltweit beschäftigt das Unternehmen mehr als 7000 Mitarbeitende.

Wie gut die Aurubis-Geschäfte laufen, zeigte die Jahreshauptversammlung im Februar 2023. Dort kündigte der Vorstandsvorsitzende Roland Harings Investionen in Höhe 1,1 Milliarden Euro an, um das Kerngeschäft zu sichern und zu stärken sowie die führende Position in den Bereichen Recycling und Nachhaltigkeit auszubauen: „Wir verfügen über eine äußerst solide finanzielle Aufstellung. Aus dieser Position der Stärke werden wir weiter in nachhaltiges Wachstum investieren.“

Nachhaltigkeit steht für Aurubis ganz oben auf der Agenda. Um deutlich vor 2050 klimaneutral zu produzieren, erweitert das Unternehmen mit einem Investment von rund 20 Millionen Euro seinen Solarpark am Standort Pirdop (Bulgarien). Große Hoffnungen verknüpft der Konzern mit dem durch die E-Mobilität stark wachsendem Geschäfttsfelddes Batterie-Recyclings. 60 Testreihen auf einer Pilotanlage am Hamburger Standort verliefen bisher erfolgreich. „Uns ist es gelungen, mehr als 95 Prozent der in den Altbatterien enthaltenen wertvollen Metalle zurückzugewinnen – darunter auch Lithium. Dieser hervorragende Wert stellt unsere exzellente metallurgische Expertise beim Recycling von komplexen, hochwertigen Materialien unter Beweis“, sagt Harings.

Geglückte Staffelübergabe
Im Vergleich zu dem Industrie-Giganten im Süden Hamburgs wirkt das Backsteingebäude an der Weidestraße bescheiden. Und doch weist die Fielmann Gruppe in Barmbek-Süd zwei entscheidende Parallelen zu Lufthansa- Technik auf: Zum einen den Aufstieg aus kleinen Verhältnissen: Günther Fielmann formte aus seinem Augenoptiker-Geschäft in Cuxhaven dank einer genialen Idee („Brille zum Nulltarif“) einen Riesen der augenoptischen Industrie mit mehr als 900 Niederlassungen in 16 europäischen Ländern. Und zum anderen die Corona-Krise als tiefen Einschnitt: Im März 2020 stellte Fielmann von einem Tag auf den anderen den regulären Verkauf ein.

„Wir wussten einfach nicht, wie gefährlich das Virus ist. Daher haben wir Kunden und Kollegen geschützt. Und erst wieder regulär geöffnet, als wir ein wissenschaftliches Gutachten und genügend Hygieneartikel wie Masken hatten. Entsprechend groß war die Delle im Umsatz“, sagt Marc Fielmann (33). Der Junior, 50 Jahre jünger als der Firmengründer, hatte erst wenige Monate zuvor den alleinigen Vorstandsvorsitz übernommen. Die Krise habe seine Akzeptanz im Unternehmen gestärkt, sagt Fielmann Junior im Rückblick: „Mehrere langjährige Führungskräfte haben mich angerufen und gesagt: ‘Sie sind ja schon ganz okay. Aber es hätte viele Jahre gedauert, bis wir Sie genauso respektiert hätten wie Ihren Vater. Seit der Krise wissen wir: Sie können diesen Job.‘“

Und so taugt Fielmann als Paradebeispiel für den perfekten Generationswechsel in einem großen Familienunternehmen: „Unsere Vater-Sohn-Beziehung hat sich dadurch ausgezeichnet, dass er sehr viel lange Leine gelassen hat. Mein Vater ist ja ein sehr durchsetzungsstarker Charakter. Ich weiß nicht, wie gut es gelaufen wäre, wenn der Altersunterschied nur 25 Jahre betragen hätte.“ So aber habe sich „die Symbiose aus Erfahrung und Pioniergeist für das Unternehmen ausgezahlt.“ Marc Fielmann spielt damit vor allem auf die digitalen Innovationen an, etwa bei den Online-Angeboten für Kontaktlinsen. Da sei die Konkurrenz viel besser gewesen: „Wir drohten aus dem Markt zu verschwinden.“ Das Unternehmen setzte eine Task-Force ein. Mit Erfolg: „Inzwischen verkaufen wir jede zweite Kontaktlinse online.“

Mit stilvoller Tradition in die Zukunft
Die Fassade zeigt die Silhouette des Mont-Blanc-Massivs, die Form des Gebäudes erinnert an die schwarze Schachtel, die jedes der kostbaren Schreibgeräte umhüllt. Willkommen bei der fünften und letzten Station der Industrie-Tour. Ausgerechnet in einem Gewerbegebiet in Lurup liegt das Montblanc-Haus, das wie wohl kein anderes Gebäude der Stadt Industrie und Luxus vereint.

Jeder Besucher schreibt zunächst stilecht mit einem Montblanc-Füller seinen Namen auf die Eintrittskarte. „Inspire Writing“, das ist die Botschaft des Unternehmens auf 3600 Quadratmetern: „Die Besucher sollen ihre Smartphones und Computer einmal vergessen und sich wieder ins Gedächtnis rufen, wozu ihre Finger sonst noch in der Lage sind. Um ihre Kreativität zu entdecken und sich durch das Schreiben mit der Hand auszudrücken.“

30 Millionen Euro investierte das Unternehmen in den Neubau, der direkt an die Manufaktur andockt, wo die Schreibgeräte in Handarbeit gefertigt werden. „Hamburg ist die Stadt, in der Montblanc im Jahr 1906 gegründet wurde. Es war naheliegend, das Montblanc Haus in der Nähe der Zentrale zu errichten“, sagt Firmenchef Nicolas Baretzki. In einem Raum dokumentiert das Museum die Arbeitsschritte, um eine Feder herzustellen – vom Goldband bis zum Schreibtest mit unsichtbarer Tinte. Die Mitarbeitenden spüren über ihr Gehör, ob eine Feder kratzt oder spritzt. Das kleinste Objekt der Ausstellung – die Iridiumkugel an der Spitze der Goldfeder – ist gerade 1,2 mm groß. Zu sehen sind auch 30 Original-Handschriften, etwa von Albert Einstein, Ernest Hemingway, Rainer Maria Rilke und Karl Lagerfeld. Eine Handschrift des Philosophen Voltaire aus dem 18. Jahrhundert ist das älteste Ausstellungsstück – allerdings keine kritische Schrift über den Absolutismus, sondern eine schnöde Quittung.

Forschung und Entwicklung massiv erhöhen
Sechs Unternehmen, sechs Erfolgsgeschichten. Die andere Seite der Medaille zeigt die Vöpel-Studie: Hamburg habe sich zu lange auf den Hafen verlassen, das Nord-Süd-Gefälle in Deutschland werde immer größer. Und Konkurrenten wie Brandenburg und Sachsen-Anhalt würden dank Ansiedlungen von Unternehmen wie Tesla und Intel aufholen. André Trepoll, Geschäftsführer des Industrieverbands Hamburg, hat einen besonders geschärften Blick auf die Lage. Der Geschäftsführer sagt: „Die Industrie ist mit ihren Arbeitsplätzen und ihrer Wertschöpfung die Basis unseres Wohlstands. Wir müssen alles dafür tun, damit dies auch so bleibt.“

Aktuell sorgt sich Trepoll vor allem um die hohen Energiepreise: „Unsere Mitglieder zahlen zum Teil ein Vielfaches im Vergleich zu Unternehmen in den USA.“ Die Politik müsse gegensteuern, etwa über bezahlbaren Industriestrom: „Sonst laufen wir Gefahr, dass Unternehmen mit energieintensiver Produktion Deutschland verlassen.“ Das koste Arbeitsplätze. Zudem sei auch in Sachen COµ-Ausstoß niemanden gedient, wenn künftig verstärkt in Ländern mit geringeren Umweltauflagen produziert würde.“ Er fordert auch mehr Investitionen in die Infrastruktur: „Wir sind die größte Stadt in Europa ohne einen geschlossenen Autobahnring.“ Umso wichtiger seien die A26 Ost, der Lückenschluss A20/A26 sowie eine neue Köhlbrandquerung.

Doch neben den Investitionen gehe es auch ums Image. „Leider gerät das Wort Industrie zunehmend in einen negativen Kontext, etwa bei Begriffen wie Fleisch- oder Finanzindustrie“, sagt Trepoll. Die Unternehmen hätten öffentlich zu defensiv agiert, gesellschaftlich seien die Anstrengungen der Branche, etwa den CO2-Ausstoß zu reduzieren, kaum ein Thema. Der Industrieverband will dies mit dem neuen Format „Industriedialog“ ändern. Regelmäßig soll es künftig Veranstaltungen in Kooperation mit der Behörde für Wirtscha…t und Innovation geben.

Henning Vöpel plädiert für ein Sofortprogramm. Hamburg müsse die Ausgaben für Forschung und Entwicklung massiv erhöhen, Industrie¥ächen ausweiten, für mehr erneuerbare und bezahlbare Energie sorgen, die digitale Infrastruktur ausbauen und Kompetenzzentren entwickeln, etwa für digitale Logistik. All dies müsse Hamburg jetzt anpacken: „Wer wartet, bis die Zukunftsvision in schönsten Farben strahlt und die letzte Ungewissheit gewichen ist, hat die Zukunft bereits verpasst.“

ZAHLEN UND FAKTEN ZUR INDUSTRIE IN HAMBURG
Zahl der Unternehmen mit 20 oder mehr Beschäftigten: 600
Gesamtzahl der Beschäftigten in diesen Unternehmen: 120 000
Umsatz dieser Unternehmen: 80 Mrd. €
Anteil des Auslandsumsatzes: 31 %

TEXT: Peter Wenig   FOTOS: BEIERSDORF AG, NXP