Studieren, pauken, büffeln – wer in Hamburg etwas lernen möchte, findet eine riesige AUSWAHL AN BILDUNGSSTÄTTEN. Und jede hat ihre eigene Philosophie. Handwerk oder Akademie? Die Verknüpfung von beidem ist auch kein Problem.

Bildung? Da muss Thomas Kerstan nachdenken. Ob er mal jemandem begegnet sei, so lautete die Frage genau, der oder die ihn durch Bildung nachhaltig beeindruckt hat? Und es dauert ein ganzes Stück Spazierweg an der Alster entlang, bis der bildungspolitische Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit, Chefredakteur des Zeit-Studienführers und Herausgeber des Magazins Zeit-Campus eine passende Antwort gefunden hat. Ist es ein Kollege aus der Redaktion, deren Leser sich gern ein bisschen sonnen in der Gewissheit, schon durch ihre Lektüre zur Bildungselite zu zählen? Ist es ein Wissenschaftler, Politiker oder Bildungsplaner, mit dessen Ideen er sich in seinem Beruf täglich auseinandersetzt?
„Doch“, sagt Kerstan vorsichtig. „Die wohl auch. Aber in erster Linie denke ich an meine Eltern.“
Sein Vater sei als Funkoffizier zur See gefahren, erläutert der studierte Informatiker, seine Mutter habe als kaufmännische Angestellte gearbeitet. Beide seien viel in der Welt unterwegs gewesen, und beide hätten ihn schon als Kind ermutigt, mit ihnen über all das zu staunen, was da zu sehen und zu erleben war, Fragen zu stellen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Auch mal ein Buch dazu aus dem Regal zu nehmen. Ganz einfach eigentlich. Und wahrscheinlich ist genau aus dieser Haltung der Kanon hervorgegangen, den Kerstan gerade entwickelt und seinen Lesern zur Diskussion vorgelegt hat – ein Kompendium aus 100 Sachbüchern und Romanen, Musikstücken, Filmen, Dramen unter dem unbescheidenen, aber auch sorgenvollen Titel „Was unsere Kinder wissen müssen“.
Dieter Lenzen ist schnell mit seiner Antwort. Richard von Weizsäcker, sagt er wie aus der Pistole geschossen. Der habe ihn beeindruckt. Und fügt gleich eine Definition von Bildung hinzu, in der mehr als 40 Jahre Erfahrung als Erziehungswissenschaftler, Philosoph und seit 2009 als Präsident der Universität Hamburg zusammenfließen: Eine gebildete Person verfügt über Handlungssouveränität – und das war bei Weizsäcker ganz sicher der Fall.
Der Arbeitsalltag seiner Kollegen als Hochschuldozenten muss freilich den Weg zu solcher Souveränität erst noch ebnen. Von Studienplatzbewerbern und Studienanfängern spricht der Bildungsmanager und Bildungspolitiker, die in acht statt früher neun Jahren auf dem Gymnasium nur eher vage Vorstellungen von Wunschfächern und Berufsperspektiven entwickelt hätten: Von Informatik zum Beispiel haben viele doch eher irrige Vorstellungen. Und dass bei der Betriebswirtschaft die Mathematik im Vordergrund steht, ist manchem auch nicht bewusst. Lenzen empfiehlt, vor der Festlegung auf ein Studienfach erst einmal das Stichwort Self-Assessment auf der Homepage der Universität aufzurufen und sich ein halbes Stündchen Zeit zu nehmen, die eigenen Vorstellungen an der Wirklichkeit zu überprüfen.
Und trotzdem: Wo mehr als die Hälfte aller Schüler die Hochschulreife erwirbt, ist die Universität fast schon logisch der nächste Schritt. Wir haben, sagt Lenzen, über alle Fächer hinweg zehnmal mehr Bewerber, als wir aufnehmen können.
Hamburg lernt. An vier staatlichen Universitäten zwischen Von-Melle-Park und HafenCity, an der privaten Bucerius Law School und der Hamburg School of Business Administration, der Polizeiakademie und der Hochschule für Musik und Theater, an Akademien für Steuerrecht und Medien, Logistik, Marketing, Sozialarbeit und Bildende Kunst. An den Gelehrtenschulen Johanneum und Christianeum, in Privatschulen und an staatlichen Grund- und Hauptschulen, in Sonderschulen und Gymnasien, altsprachlich, naturwissenschaftlich und nach den Prinzipien der Waldorf-Pädagogik. An berufsbildenden Schulen und Produktionsschulen, in Lehrbetrieben, in einem dualen System, von dem es heißt, der Rest der Welt beneide uns darum, an Volkshochschulen, an Sport- und Ballettschulen, im Fremdsprachen-Institut, in der Senioren-Universität und in Kindergärten. Zahlen? Unmöglich! Jeder lernt. Immer. Lernen ist lebenslang.
Und jeder neuen PISA-Studie folgen Analysen der Experten, politische Debatten und bildungsdemografische Prognosen. Jeder, der mal selbst zur Schule gegangen ist – also jeder – steuert bei zur Diskussion um Bildungsgerechtigkeit und Integration, die Reform der gymnasialen Oberstufe, den Stellenwert eines Hauptschulabschlusses, um Leistungsdruck im Kindergarten und Turboklassen für Hochbegabte, um nicht-christlichen Religionsunterricht und sprachliche Förderung für Kinder mit Migrationshintergrund. Genau besehen ist jeder ein Experte.

Bildung ist ein Gut, um das gestritten wird
Seit Plato scheint sich da nichts geändert zu haben. Wie schon im alten Griechenland neigt auch die heutige Generation der Eltern, Lehrer und Politiker dazu, ihren Nachfolgern mangelnde Tüchtigkeit vorzuwerfen und deren Unwillen zu tadeln, die Wege der Alten einzuschlagen. Es wird also noch lange um den Nutzen von Wissen versus Kompetenzen gehen, um Wegfall oder Wiedereinführung des 13. Schuljahres, um nachlassende Aufmerksamkeit und schreiende Bildungslücken, um Lehrermangel, Burn-out und die Frage nach fachlicher Eignung oder pädagogischer Überforderung von Physikern und Informatikern, Handwerksmeistern und Muttersprachlern als Quereinsteiger in den Lehrerberuf. So viel wird klar hinter all dem Eifer und der Eifersucht: Bildung ist ein Gut, um das gestritten wird, von allen und immerzu, herzhaft und ohne jedes Zeichen von Ermüdung. Na schön: fast ohne. Irgendwo soll es einen Kultusminister gegeben haben, der zum Amtsantritt gesagt hat: Kinder, mein Beitrag zum Bildungssystem soll sein, dass wir mal keine neue Schulreform anstrengen.
„Bei uns kann man Fortbildung machen“, sagt Bärbel Wenckstern dagegen knapp: vom Crashkurs Buchhaltung bis zum Betriebswirt des Handwerks. Ganz pragmatisch und mit handfestem Ziel. Daneben die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung für Kälteanlagenbauer, Zahntechniker, Friseure. Und Meistervorbereitungskurse für Konditoren und Kosmetikerinnen, Elektrotechniker, Tischler und Betonbauer, neuerdings auch wieder für Damen- und Herrenschneider. Und natürlich Schneiderinnen. Seit dem Sommer leitet die zierliche Frau den Elbcampus neben dem Harburger Bahnhof – und ehrlich gesagt: Die stolze und elegante Architektur dieses Bildungszentrums für Handwerker könnte sich auch auf würdigerem Platz sehen lassen als zwischen der Lkw-Zufahrt zum Baumarkt und den Gleisen des Stellwerks.
Bärbel Wenckstern weiß sich selbstbewusst einzuordnen. „Wir sind der Geschäftsbereich IV der Handwerkskammer Hamburg“, sagt sie also. „Aber wir haben ein völlig eigenes look and feel. Wir sind eine eigene Marke“. Rotes T-Shirt, schwarzer Hosenanzug kein Zufall. Der Fußboden im gleichen Rot, ein schwarzer Stuhl, kubische Baukörper fügen sich zu einer schneeweißen Halle mit bodentiefen Fenstern in schwarzen Profilen: Vor zehn Jahren wurde der Bau bezogen, inzwischen mehrfach ausgezeichnet; sein Architekt Jörg Friedrich hat ihn als kompromisslose Hommage an das Bauhaus in Weimar entworfen.

Seit Februar ist Hendrik Brinksma Präsident der TUHH
Hendrik Brinksma hat sich ein Gemälde aus dem Fundus der Technischen Universität in sein Büro hängen lassen, ein swingendes Gitter aus hellen Quadraten vor dunklem Grund. Er wisse gar nicht, wer der Maler ist, sagt der neue Präsident des Hauses, es sei einfach da gewesen; er habe es nehmen dürfen. Später wird eine Mitarbeiterin den Namen des Künstlers herausfinden: Es ist Wolfgang Kluge, ein Maler aus Hamburg, der mal in einer Ausstellung der TUHH vorgestellt wurde. Der neue Besitzer freut sich, dass Kluges Komposition so gut zu ihm passt: Sie sei so mathematisch. Brinksma ist Holländer, ein freundlicher und umgänglicher Typ. Seinen Vornamen hat er, so offiziell das möglich war, durch das joviale „Ed“ ersetzt. Sein Fachgebiet ist die Informatik, Ed Brinksma ist Spezialist für embedded systems, also eingebettete Systeme zur programmierten Steuerung von Navigationshilfen oder Herzschrittmachern. Bevor er im Februar sein Büro auf dem Campus in Harburg bezog, war er Rektor der Universität Twente. Und immer noch hat er Freude daran, beide Hochschulen auf Ähnlichkeiten und Unterschiede abzuklopfen.
Der wichtigste Unterschied sei vielleicht, dass die Stadt Enschede und die dazu gehörende Universität der Region Twente einen deutlichen Vorsprung darin haben, den Forschungs- und auch den Lehrbetrieb enger mit dem Wirtschaftsleben zu verknüpfen. Es war Rettung in der Not. Die 1980er Jahre, das einstige Zentrum der holländischen Textilindustrie steckten tief in der Krise; den Ingenieuren und Computerwissenschaftlern der Universität blieb kaum anderes übrig, als sich einzumischen. Und der Transfer laufe ja nicht nur in einer Richtung, beruhigt Brinksma die Skeptiker, die um die Freiheit der Forschung fürchten, wenn Unternehmer sie auch als Dienstleister betrachten. Es gibt Rückkoppelungen, sagt er, es gibt Synergien: mehr Sichtbarkeit, deshalb mehr Ressourcen. Seit die Uni in Twente sich für die Interaktion mit der Wirtschaft geöffnet habe, sei sie in Forschung und Lehre deutlich attraktiver geworden.
Hamburg gehe es noch sehr gut, merkt der Wissenschaftler an. Doch es klingt, als erkenne er genau darin auch eine Gefahr.
Ein zweiter Unterschied liegt für Brinksma im politischen Umfeld. Diesmal Vorteil für Hamburg: Zur Zeit seiner Amtseinführung an der TUHH, so erinnert er sich, habe die Stadt einen Ersten Bürgermeister gehabt, der ihn mit einer Rede vor dem Überseeclub tief beeindruckt habe: Eine Dreiviertelstunde lang habe dieser Olaf Scholz so kundig und klug über das Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft gesprochen, wie er es in Holland nie erlebt hatte. Nun ist er gespannt darauf, was der Nachfolger Peter Tschentscher übernehmen wird. Aber Ed Brinksma ist keiner, an dem Zweifel nagen. Er glaubt an seine Mission.
„In Twente sind fast tausend Gründungen aus unserer Arbeit hervorgegangen“, sagt er: Spin-offs und Spin-outs wie booking.com, Lieferservice, Flipboard oder Lieferando. Neue Ökonomie. Arbeitsplätze. Die Enscheder Uni ist ein wichtiger Faktor für die Entscheidung von Unternehmen, sich hier anzusiedeln, heißt es auch auf der Homepage – und der Wirtschaftsraum in Hamburg, so fügt Brinksma hinzu, sei sicher zehnmal so groß. „Wir haben die Fenster geöffnet“, sagt er. Unternehmungslustig. Wir sind für euch da. Open for business.
3600 Handwerksmeister haben das Bildungsprogramm des Elbcampus seit Einweihung des Neubaus erfolgreich absolviert. Sie kommen aus freier Entscheidung; niemand zwingt sie, die Vorbereitungsseminare hier zu besuchen. Es hat sich aber bewährt, fasst die Managerin Bärbel Wenckstern knapp zusammen. Ein Meister müsse eben noch dies und jenes mehr abliefern als nur sein klassisches Meisterstück: kaufmännische Kenntnisse, die Reife zur Führung von Mitarbeitern und die Fähigkeit, sein Wissen auch an eine neue Generation von Auszubildenden weiterzugeben. Wencksterns Pool umfasst 300 Dozenten – Experten für Inkasso und Elektromobilität, für Buchführung, Arbeitsrecht, strategische Nachfolgeplanung und Onlinemarketing. Jeder sehr kompetent und sehr flexibel. „Sie müssen bedenken“, mahnt sie, „wir reden von Menschen, die sich darauf vorbereiten, einen eigenen Betrieb zu leiten.“

Durch Fortbildung auf neue Aufgaben vorbereiten
Aber auch von Menschen, die sich im laufenden Geschäft eines Tages vor ganz neuen Aufgaben sehen: das traditionsreiche Unternehmen für Fahrzeugtechnik etwa, das von 2020 an nur noch Busse mit Elektroantrieb anschaffen will – wer sorgt für die Umschulung der Kfz-Mechaniker? Und welche Anforderungen muss ein künftiger Industriemeister erfüllen? Oder die Bäckereikette, die mittlerweile so viele Filialen hat, dass eine ganze Ebene von Führungskräften weitergebildet werden soll: Wie organisiere ich einen Dienstplan? Wie kommuniziere ich mit den Kollegen? Wie vereinbare ich neue Ziele?
„Das ist unsere Stärke“, sagt die Bildungsmanagerin also: mittelständische Unternehmen, gewerblich-technischer Bereich. Das könne der Inhaber eines Handwerksbetriebes sein, aber auch ein Personalleiter, der zwölf Mitarbeiter zu Führungskräften entwickeln lassen will. „Deren Sprache sprechen wir“, sagt Wenckstern, „da kommen wir her.“ Und erzählt noch schnell von dem Gebäude-Dienstleister, der sein ganzes Team weiterbilden lassen wollte, mehr selbständiges Handeln, mehr Initiative, mehr Effizienz. „Er kam ausdrücklich zu uns an den Elbcampus“, sagt sie. „Weil er sich von den big Playern der Unternehmensberatung, von den McKinseys dieser Welt nicht verstanden fühlte.“ Sie strahlt. „Nein, verstecken müssen wir uns nicht.“
Bildung bringt Gewinn, wenn ihr Stoff sich an den Möglichkeiten der Menschen orientiert. Und ihnen damit neue Möglichkeiten eröffnet. „Haben Sie mal darüber nachgedacht“, fragt Wenckstern, „welchen Anforderungen sich ein Elektrotechniker heute stellen muss? Mit all der digitalen Vernetzung. Oder welches detaillierte Wissen über Konstruktion in der Arbeit eines Zimmermanns steckt?“
„Die Räuber“ von Schiller haben es also nicht geschafft, in Thomas Kerstans Kanon aufgenommen zu werden. Er habe tagelang mit sich gerungen, gesteht der Autor: so viel Freiheitsgeist in einem Theaterstück, so viel Auflehnung im Kampf um Gerechtigkeit! Es ging einfach nicht. Er hätte heulen können. Aber auch Alice Schwarzer und Chuck Berry sollten ihren Platz auf der Liste finden, die Doppel-Helix und „Harry Potter“, Anne Frank und das periodische System der Elemente, die DDR und der „Zahlenteufel“ von Hans Magnus Enzensberger. Und immerhin ist Goethes „Faust“ dabei. Weil der am Ende doch noch eine Spur nachhaltiger die deutsche Kultur bis in unser Jahrhundert geprägt habe als der stürmische Schiller.
Es irrt der Mensch, so lang er strebt, entschuldigt sich Kerstan also schnell für seine Entscheidung, überhaupt für seine tollkühne Tat, einen Bildungsstandard in Form eines Kanons zu definieren – und steht doch umso fester zum Versuch, das wuchernde, wabernde, schnell aufkommende und noch schneller vergehende Wissen der Welt in hundert Beispielen zu fixieren. Er sei einfach von der Sorge übermannt worden, im Angesicht einer immer rasanteren Digitalisierung, Globalisierung und Entfremdung die Übersicht zu verlieren, gesteht der Bildungsexperte. Denn grau, teurer Freund, sei nun mal alle Theorie. Und grün des Lebens goldner Baum. Und wenn auch Vergeblichkeit die letzte Erkenntnis aller Mühe ist – man möge doch bitte über seine Vorlage reden, dazu sei sie da. Bildung sei ein lebender, lebendiger Organismus.
So kommt Murat in diese Geschichte. Über das Reden. Der „Faust“ ist dem Sohn türkischer Einwanderer so fremd wie die „Räuber“. Vor einigen Wochen aber war der 15-jährige Schüler einer Stadtteilschule im Osten der Stadt zu einer Fahrt im Riesenrad auf dem Dom eingeladen. Die Handwerkskammer hatte sich den Spaß ausgedacht: 1200 Hamburger Schüler und 42 Gondeln, in jeder wartete der Vertreter eines Handwerks oder einer Innung darauf, jungen Leuten kurz vor dem Schulabschluss eine Perspektive aufzuzeigen – als Tischler oder Dachdecker, Uhrmacher, Bestatter, Gebäudereiniger oder Systemtechniker. Findet einen Beruf, der zu euren Talenten und Fähigkeiten passt, hatte Hjalmar Stemmann, der Vizepräsident der Kammer, seine Gäste ermutigt. Im Handwerk lässt sich gutes Geld verdienen. Die Aussichten sind sensationell. Lasst uns Riesenrad fahren!
Natürlich hatte er die Sorgen seiner Kollegen aus dem Handwerk im Ohr: Gegenüber der rasanten Akademisierung gerate die klassische Berufsausbildung ins Hintertreffen, Lehrstellen blieben unbesetzt. Der Fachkräftemangel sei keine düstere Vision der Demografen mehr – er habe längst ihre Betriebe erreicht. Und weil ein gutes Geschäft nur das ist, bei dem beide Seiten ihre Freude haben, kam Stemmann auf die Idee mit dem Riesenrad. Murat machte die Runde dreimal, in drei verschiedenen Gondeln. „Heizungs- und Klimatechnik klingt cool“, sagte er anschließend. „Vielleicht bewerbe ich mich mal um ein Praktikum.“

Auf 10 000 Studierende soll die TU Hamburg wachsen
Bärbel Wenckstern erzählt von Qualifizierungskursen für Flüchtlinge, die meisten aus Syrien und Afghanistan. Einer der Absolventen sei gerade gestern zu Besuch auf dem Elbcampus gewesen. Begonnen habe er mit einem Diplom aus seinem Heimatland und Deutschkenntnissen auf dem Niveau des Sprachkurses B 2 – heute arbeite er als technischer Zeichner in einem Betrieb für Kälteanlagen und habe eine CAD-Schulung in computergestütztem Konstruieren aufgenommen. Berufsziel: Ingenieur, hier oder dort. So beginnen Erfolgsgeschichten.
Na schön, der HSV ist abgestiegen. Ed Brinksma lacht. Dem FC Twente Enschede ist es nicht besser ergangen. Aber sich davon entmutigen lassen? Auf 10 000 Studierende soll die TU Hamburg in der nächsten Ausbaustufe wachsen. Mit der Uni in Twente ist er als deren Rektor den gleichen Schritt gegangen, von acht- auf zehntausend. „Das ist eine gute Größe“, sagt der neue Präsident. Groß genug, um ernst genommen zu werden, aber klein genug, um kurze Wege gehen zu können. Auch zwischen den Fachbereichen. Wenn alles klappt, wenn die Stadt sich etwas entschiedener für Innovation öffnet und auch die Personalabteilung endlich vom Aktenordner auf digitale Systeme umsteigt – dann könne eine kleine, aber feine TUHH vielleicht schon bald neben Berlin, München, Aachen oder Braunschweig bei der Elite der TU 9 mitspielen. In der Bundesliga.
„Viele meiner Kollegen zweifeln an der Studierfähigkeit ihrer Hörer“, berichtet der Uni-Präsident Dieter Lenzen. Das Ziel der Allgemeinbildung an den Gymnasien wurde ersetzt durch Spezialisierung; jetzt tun sich viele Studienanfänger schwer, ein Buch oder auch nur einen Aufsatz zu lesen, der mehr als zehn Seiten hat. Und dies noch: Aus der Abiturnote lasse sich sehr klar auf den Studienerfolg schließen – über den Erfolg im Beruf aber sage sie so gut wie gar nichts aus.
„Wer in unserer Kultur sein Abitur macht und den „Faust“ nicht gelesen hat“, sagt Thomas Kerstan, „der sollte sich was schämen!“ Also doch klassisches Bildungsbürgertum? Nicht ganz. Bildung definiere eine gemeinsame Grundlage, erläutert der Bildungsspezialist, eine Sprache auch der Mythen und Werte. Aber ein Kanon, der nicht auch neue Medien und digitale Technik zur Kenntnis nehme, der nicht ein Grundwissen in Physik und Chemie einfordere, ein Verständnis für ökologische Zusammenhänge und ein gesundes Verhältnis zur Mathematik – der sei einfach nichts für unsere Zeit.

 

Text: Martin Tschechne FOTOS: TUHH, UHH/STEINHAUSER, NACHT DES WISSENS/MARKUS SCHOLZ,  UNIVERSITÄT HAMBURG, NACHT DES WISSENS/MARKUS SCHOLZ

Dr. Martin Tschechne ist Journalist und Psychologe in Hamburg. Seit er die Biografie zu William Stern schrieb, dem Erfinder des IQ, interessiert den Absolventen der Henri-Nannen-Schule alles, was mit Intelligenz zu tun hat – vor allem die Planung einer lebenswerten Zukunft.