„Ich bin ein Menschenversteher“
Flüchtlinge und Alltagsrassismus, Globalisierung und Angst vor der Zukunft – was wird aus unserer Welt? Hamburgs früherer Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, auch mit 87 Jahren einer der wichtigsten Ratgeber der Republik, hat weise Antworten.
club!: Herr von Dohnanyi, die Debatten über Flüchtlinge sind das beherrschende Thema in Deutschland. Ist das der richtige Stellenwert oder reagieren wir als Gesellschaft zu hysterisch?
Klaus von Dohnanyi: Ich würde nicht sagen, dass es eine Hysterie ist. Es ist verständlich, dass eine so plötzliche Veränderung die Leute beunruhigt. Es stellt sich die Frage: Wer wird das alles bezahlen und wo werden die Leute wohnen? Wenn ich mich in der Stadt umsehe, dann sind wir dabei, das ganz vernünftig zu bewältigen.
Bürgermeister Olaf Scholz hat den Konflikt in Syrien mit dem Dreißigjährigen Krieg verglichen. Er sagt, es werde sehr lange dauern, bis sich etwas verändert, geschweige denn die Konflikte gelöst werden.
Das ist wahrscheinlich richtig. Henry Kissinger hat schon 2012 gesagt, dass es ohne Assad keine Lösung geben wird, und er hat darauf hingewiesen, dass es gefährlich ist, in Syrien zu intervenieren. Es war deswegen ein Problem, dass die CIA seit 2012 die Rebellen mit saudischem Geld finanziert hat, wie die New York Times schreibt. Das war ein wesentlicher Beitrag zu den Problemen, die wir heute haben. Es kommt deswegen auch darauf an, dass die USA und die Saudis beginnen, sich so an einer Lösung zu beteiligen, wie Henry Kissinger das vorgeschlagen hat.
Glauben Sie, dass sich die Amerikaner einer Schuld bewusst sind?
Ich glaube nicht, dass sie verstanden haben, dass sie einen wesentlichen Teil der Verantwortung für den heutigen Zustand in Syrien tragen.
Stattdessen immer wieder glauben, dass sie in allem die Besten sind und wissen, was richtig ist.
Ja. Leider war das bei den USA in der Nahost-Politik der Fall.
Und Europa muss das jetzt ausbaden?
Es gibt kluge Leute, die meinen, die USA sollten deswegen selbst 250 000 syrische Flüchtlinge aufnehmen. Dem stimme ich zu.
Um so ihren Beitrag zu leisten bei der Lösung von Problemen, die sie selbst zu verantworten haben?
Ja, aber das werden sie nicht tun. Sie haben einen großen Vorteil: Die Entfernung von der Küste der Türkei nach Europa beträgt an den engsten Stellen 1,5 Kilometer. Nach Amerika sind es mehr als 5000 Seemeilen. Da entwickelt man kein Gefühl für die Probleme, die dort entstehen.
Sind die Probleme nicht auch noch zugespitzt worden durch die Männer, die diese Länder anführen? Auf der einen Seite der amerikanische Präsident Barack Obama, der außenpolitisch eher zögerlich agiert, und auf der anderen Seite Russlands Wladimir Putin, der wie ein Macho-Django auftritt?
Obama war nicht zögerlich; diese Einschätzung teile ich nicht. Er hat den Irak-Krieg geerbt und den Afghanistan-Krieg. Er hat sich in der libyschen Frage engagiert und begriffen, dass man mit Militär diese Probleme nicht lösen kann. Und ich finde, auch Putin ist kein Macho-Django. Er hat sehr früh eingesehen, dass man ohne Assad keine Lösung findet. Denn wer soll dort regieren? Etwa die unterschiedlichen Rebellengruppen oder die ISIS?
Herr von Dohnanyi, wir möchten mit Ihnen auch über die Entwicklung der Stadt Hamburg als Wirtschaftsmetropole sprechen. Wie schätzen Sie die Dinge ein: Wie viel macht Bürgermeister Olaf Scholz richtig?
Er macht einen sehr guten Job. Ich bin aber auch sehr interessiert daran, dass sich der Senat stärker im Wissenschaftsbereich engagiert. Ich glaube, dass dort die Zukunft Hamburgs liegen muss. Wir haben nicht zufällig einen Rückgang im Hafen. Wenn man sich beispielsweise ein aktuelles Ranking über die zehn wichtigsten europäischen Logistik-Standorte ansieht, dann kommt Hamburg darin gar nicht mehr vor. Ich habe schon vor mehr als 30 Jahren gesagt, dass Hamburgs Zukunft auf dem Lande liegt und wir zu einem Zentrum der Wissenschaft werden müssen. Das ist leider immer noch nicht in den Köpfen der Menschen.
Aber für Hamburg ist der Hafen doch der Motor der Hansestadt.
Das ist er heute auch. Aber wir werden mit dem Hafen allein nicht mehr bestehen können. Natürlich darf man ihn auch nicht vernachlässigen, aber es werden sich in Zukunft viele Dinge verändern.
Stichwort Digitalisierung und Wirtschaft 4.0?
Manche Produkte werden gar nicht mehr transportiert werden, weil sie im 3-D-Verfahren dort produziert werden, wo man sie braucht. Zudem werden die Produkte immer leichter und können auch schneller mit dem Flugzeug transportiert werden.
Wird also der Flughafen wichtiger als der Seehafen?
Ach, ich habe vor zwei Jahren am Hamburger Flughafen eine Werbung gesehen: „Der beste Regionalflughafen Deutschlands.“ Das hat mich nicht sehr ermutigt. Wir sind einfach eine sehr dünn besiedelte Region. Das sogenannte Quellaufkommen ist niedrig. Das kann man verbessern, indem man sich auf einem Sektor stärkt, der die Stadt für noch mehr Menschen und Unternehmen attraktiv macht. Darum ist die Förderung der Wissenschaft eine so zentrale Frage.
Hat die Wissenschaft in Hamburg nicht längst internationales Format? Denken wir an Airbus, DESY, die Schifffahrtsindustrie und den Bereich Life Sciences?
Wir sind international in einigen Feldern sehr gut. Zum Beispiel in der Klimaforschung, auf dem Sektor „Recht“, in der Physik und Materialforschung. Wir waren auch mal exzellent in Mathematik, da sind wir heute nicht mehr unter den ersten zehn in Deutschland. In den Rankings sehen wir, dass uns der Süden davoneilt. Wir sind wissenschaftlich nicht mehr vergleichbar mit Standorten wie München, Karlsruhe, Heidelberg. Die sind einfach besser.
Liegt das an der Pfeffersack-Mentalität? Unternehmertum und Wohlstand scheinen an einem Standort wie München näher zur Hochtechnologie zu stehen als in Hamburg.
Als ich dort vor langer Zeit studiert habe, war München nur eine kleine Provinzstadt. Dort gab es noch keine Max-Planck-Gesellschaft, kein Siemens. Aber Bayern hat sich während der deutschen Teilung die Leckerbissen geholt. Man kann nicht bestreiten, dass die Bayern mit Abstand die beste Standort-Politik in Deutschland gemacht haben. Hamburg hatte immer eine Neigung, politisch-soziale Probleme in den Vordergrund zu stellen. In der Wissenschaft ist das falsch. Dort zählt nur Exzellenz.
In unserer Titelstory geht es um Hamburg als Gesundheitsmetropole. In Hamburg arbeiten in der Gesundheitsindustrie mehr Menschen als im Hafen. Ist das die Zukunft?
Die Gesundheitsindustrie in Deutschland ist auch größer als die Automobilindustrie. In Hamburg sogar vielleicht als der Hafen. Der Gesundheitssektor spielt heute überall eine große Rolle. Bei uns in Deutschland sind es ungefähr zwölf Prozent des Bruttosozialproduktes, in der Schweiz 14 Prozent, in den USA sogar 17.
Wie schätzen Sie die Qualität der Wissenschaft in Medizin und Life Sciences ein. Gehört Hamburg zur oberen Liga?
Das kann ich nicht beurteilen. Wir haben mit Philips und einigen anderen Unternehmen auch eine gute Medizintechnik. Es gibt aber andere Hinweise: Zum Beispiel, wie viele Humboldt-Stipendiaten dieses Sektors nach München wollen und wie viele nach Hamburg. Und wie werden die Drittmittel von der deutschen Forschungsgemeinschaft verteilt?
Wir ahnen es schon: Auch da liegt Hamburg nicht vorn.
Leider kann man Hamburg wissenschaftlich nicht mehr mit München vergleichen. Und deshalb bin ich der Meinung, dass wir einen ganz grundsätzlichen, mentalen und politischen Kurswechsel brauchen und erkennen müssen, dass es kein anderes Feld gibt, das so wichtig für die Zukunft Hamburgs ist wie der Ausbau der Universitäten und anderer wissenschaftlichen Kapazitäten in der Region.
Welche Themen müssen darüber hinaus angepackt werden?
Da gibt es viele Dinge. Der Ausbau der Infrastruktur ist wichtig. Die Frage der Sicherung der Ausbaggerung der Elbe ist wichtig. Auch auf dem Kultursektor haben wir einen erheblichen Nachholbedarf, wenn man das mit dem Süden Deutschlands vergleicht. Denn diese weichen Faktoren werden eine immer wichtigere Rolle spielen, um gute Leute hierher zu bekommen und sie gewinnen exzellente Köpfe für Universitäten und Museen, wenn jeweils schon andere exzellente Leute da sind.
Gibt es eine Chance, verlorenen Boden gutzumachen?
Ja klar. Jeden Tag könnten wir es packen, indem wir eine Strategie für eine Wissenschafts- und Kulturmetropole aufbauen, die allerdings sowohl personell als auch inhaltlich richtig besetzt sein muss.
Wird die Elbphilharmonie solch ein Magnet sein, um kulturelle Topleute zu ziehen?
Auch hier haben wir ein Problem des Quellaufkommens, der Zahl von Menschen. Städte wie New York, London oder Paris haben ganz andere Potenziale. In Hamburg und der Region gibt es nur eine kleinere Zahl von Menschen, die in Konzerte gehen. Und zum Anschauen ist die Elbphilharmonie auch nur eine gewisse Zeit etwas Besonderes. Irgendwann gewöhnt man sich daran – so wie an die Wolkenkratzer in New York. Es ist wirklich ein großes Problem für Hamburg, dass wir im Norden so dünn besiedelt sind.
Herr von Dohnanyi, derzeit wächst in Deutschland ein beängstigendes Potenzial Rechtspopulismus bis hin zum Rassismus. Bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorge?
Man sollte das auf zwei Ebenen betrachten. Die eine ist, dass es Rechtspopulismus heute überall in der Welt gibt. Der Grund dafür ist wohl, dass im Prozess der Globalisierung mehr Menschen fürchten, auf die Verliererseite zu geraten. Und es ist diese „Verliererseite“, die dann protestiert und sich hinter entsprechende „Führer“ und deren Parolen schart. In Amerika ist das so mit Herrn Trump, in den Niederlanden mit Herrn Wilders, in Frankreich mit Frau Le Pen. Diese Entwicklung haben Sie auch in Osteuropa. Am Ende glauben die Menschen irrtümlich, dass sie in kleinen Räumen mehr Sicherheit finden. Deswegen gibt es einen wachsenden – ich würde das gar nicht mal Rassismus nennen, sondern eher Provinzialismus.
Und was ist die andere?
In Deutschland gibt es im Osten noch ein besonderes Problem. Der Westen hat sehr viel für die Wiedervereinigung getan, auch finanziell, aber wir konnten ja nicht wiedergutmachen, dass Menschen beispielsweise eine falsche oder gar keine wettbewerbsfähige Ausbildung hatten. Oder dass Unternehmen verkleinert werden mussten. Das trifft die Sachsen besonders, weil sie es zu DDR-Zeiten gewohnt waren, stets an der Spitze zu stehen. Und nun reagiert der Osten. Es sind auch viele ältere Leute, die meinen: Ihr habt uns damals nicht richtig behandelt. Manche verloren mit 45 Jahren ihre Arbeit. Heute sind sie gerade mal 70 und hatten viele Jahre ihres Lebens keinen Job. Das macht die Leute zornig.
Sind die Proteste also nur Ausdruck der Unzufriedenheit?
Die Menschen haben das Gefühl, sie werden bedroht. Die Globalisierung ist für sie eine Bedrohung und sie haben Angst davor. Viele haben das Gefühl, die Welt wird gefährlicher. Sie suchen dann nach einfachen Antworten.
Welche Antwort können Sie diesen Menschen geben?
Meine Antwort ist, mit den Leuten offen zu reden. Ich halte es für falsch, mit der AfD nicht zu diskutieren. Man muss diese Menschen stellen und ihnen klar machen, was sie in mancher Beziehung für einen Unsinn reden. Das gehört zur demokratischen Auseinandersetzung.
Ist denn die Angst vor der Globalisierung berechtigt?
Zum Teil ja. Die Globalisierung wird sehr viel verändern. Wenn man der internationalen wissenschaftlichen Erkenntnis folgt – was nach meiner Meinung eine der zentralen Aufgaben der Politik ist – dann muss man sehen, dass es sehr gefährliche Entwicklungen geben kann.
Mangelt es der Gesellschaft an moralischer Exzellenz?
Zivilcourage ist ein wichtiger Punkt. Deswegen bewundere ich Frau Merkel, weil sie das macht, was sie für richtig hält; was ich übrigens auch für richtig halte. Wie soll man denn eine Obergrenze für Flüchtlinge kontrollieren, die Herr Seehofer will? Die einzigen festen Mauern, die es in unserer Zeit auf der Welt gegeben hat, gab es in Israel und an der innerdeutschen Grenze. Dort gab es zwei Stacheldrahtebenen, Hunde, Scharfschützen, Selbstschussanlagen. Anders konnte man die Menschen nicht stoppen. Und wie man weiß, stiegen sie dann sogar trotz Lebensgefahr über Zäune. So ein Szenario will doch niemand.
Glauben Sie noch an eine europäische Lösung?
Ich bin fest davon überzeugt, dass es am Ende eine europäische Lösung geben muss – und wird. Die einzige Form, um die Europäer zur Besinnung zu bringen, ist ihnen zu zeigen, was passiert, wenn man in der EU Grenzen aufbaut. Aber für eine Lösung braucht man viel Geld. Für den Schutz der EU-Außengrenzen, für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei, und so weiter.
Sie haben eine große Lebenserfahrung, haben als Manager in der Industrie gearbeitet und in der Politik. Was ist Ihr Fazit zum Thema Mensch nach so vielen Jahrzehnten in der Verantwortung?
Der Mensch hat sich in überschaubarer Zeit nicht geändert. Wenn Julius Cäsar jetzt hier säße und unsere Sprache sprechen könnte, dann könnten wir uns klug mit ihm unterhalten. Und der ist vor rund 2000 Jahren gestorben. Es ist sinnlos zu glauben, dass es andere Menschen geben kann. Man muss die Menschen, so wie sie sind, akzeptieren, freundlich und freundschaftlich mit ihnen umgehen. Man muss Bedingungen schaffen, unter denen sie sich sicher fühlen und zufrieden sein können. Ich bin insofern ein Menschenversteher.