Dr. Henning Voscherau war neun Jahre lang Erster Bürgermeister von Hamburg. Er ist Hanseat aus vollem Herzen. Im Interview spricht er über Tradition, die Zukunft des Hafens und die Entstehung der HafenCity.
club!: Herr Dr. Voscherau, reden wir einmal nicht über Politik.
Dr. Henning Voscherau: Ich kann aber nur über Politik und Hockey.
club!: Reden wir über Hamburger. Die ersten, die ich als kleiner Bauernjunge aus dem Westerwald kennenlernte, hießen Heidi Kabel und Henry Vahl. Die waren gewitzt, streitlustig und immer gehörte auch ein Schuss aufgesetzte Vornehmheit dazu. Das nannte man etepetete.
Voscherau: Im Plattdeutschen sagte man geel dazu, die Gelben.
club!: Ist von diesem Hamburg noch etwas übrig geblieben?
Voscherau: Ich denke ja. Die eigentliche hamburgische Ethik, diese Mischung von hemdsärmelig, von praktischer Kodderschnauze einerseits und dem Anstand, mit dem man sein Wort hält und auch mit Handschlag Geschäfte macht, das ist noch immer sehr stark vertreten. Das bleibt auch nicht nur auf Hamburg beschränkt. Viele alte Hamburger, wie mein Bruder, der seit mehr als 40 Jahren in Lima und Buenos Aires, in Sao Paulo, in Caracas und jetzt in Ludwigshafen tätig war und ist, sind in diesem Selbstverständnis Hamburger geblieben.
club!: Was macht Ihr Bruder heute beruflich?
Voscherau: Aktuell ist er Aufsichtsratsvorsitzender der BASF, für die er über viele Jahre als Im- und Exportkaufmann vor allem auch in Lateinamerika tätig war.
club!: Noch eine Frage zum alten Hamburg. Als junger Abendblatt-Reporter bin ich einmal vom Präsidenten des Uhlenhorster Hockey-Clubs, Konsul Herbert A. H. Behrens, empfangen worden, ein sehr stattlicher, geradliniger, mäzenatischer Vorsitzender des UHC. Das waren die Hamburger Kaufleute der 1970er Jahre. Es war und blieb das einzige Mal in meinem Leben, dass ich von einem livrierten Diener in Empfang genommen wurde. Gibt es dieses Hamburg noch?
Voscherau: Nein. Obwohl: Die Empfänge des jüngst verstorbenen Konsuls Professor Hermann Schnabel von der Helm AG waren auch sehr förmlich, hochgestochen und vornehm – da zählten jede Geste und die Champagner-Marke. Aber er war doch Vertreter einer vergangenen Generation.
club!: Und die feine Hamburger Gesellschaft – auch passé?
Voscherau: Oh nein, die gibt es noch. Die drängt sich nicht auf, meidet die Öffentlichkeit, taucht nicht in der Yellow Press auf, hält aber die alten Maßstäbe und Werte hoch und heiratet noch immer gerne untereinander.
club!: Hat sie denn auch noch Einfluss?
Voscherau: Ja, den hat sie noch. Aber längst sind nicht mehr alle Mitglieder der feinen Hamburger Gesellschaft reich.
club!: Wird man dann nicht aus dem Kreis verstoßen?
Voscherau: Nein, sicherlich nicht. Das sind die alten Hamburger Familien, die den Rat der Stadt beherrschten seit 1260 bis nach dem ersten Weltkrieg 1918. Es gibt in Hamburg junge Leute, zu deren Vorfahren zählen mehr als 30 Hamburger Bürgermeister. Diese führenden Hamburger Familien haben übrigens auch schon immer die Klugheit besessen, gute, fähige Zugereiste aufzunehmen.
club!: Herr Dr. Voscherau, mit viel Wissen und noch mehr Lust erzählen Sie von der Geschichte dieser Stadt, deren Erster Bürgermeister Sie von 1988 bis 1997 waren. Hat es Sie schon immer fasziniert, was Ihre Stadt groß und wohlhabend gemacht hat?
Voscherau: Mein früherer Kollege Franz Josef Strauß pflegte zu sagen: „Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wo er steht und weiß nicht, wohin er soll.“ Das ist etwas übertrieben, aber es ist auch etwas dran.
club!: Wir sitzen hier an der Elbchaussee in der vornehmen alten Plangeschen Villa des Business Club Hamburg. Gehört diese Art des Clublebens für Sie auch zu der hanseatischen Tradition?
Voscherau: Sicher, es gibt in Hamburg diese gewisse englische Clubtradition. Parallel dazu haben die Hamburger Kaufmannssöhne ja im 19. Jahrhundert auch Sportclubs gegründet und die modernen, feinen englischen Sportarten wie Rudern, Hockey, Tennis und Golf auf den Kontinent geholt.
club!: Nach dem Blick auf die Ethik, die Maßstäbe und Traditionen dieser Stadt – wo steht Hamburg im Jahre 2012?
Voscherau: Wirklich reich geworden ist Hamburg seit etwa 1880, als es gemeinsam mit Bremen das Monopol als Außenhandelsvertreter für ganz Deutschland besaß. Noch als ich in den 1980er Jahren in Hongkong war, wurde VW in Asien von einer Hamburger Im- und Exportfirma vertreten. Das ist längst vorbei. Die großen Firmen haben ihren weltweiten Vertrieb in eigene Regie genommen. Diese Entwicklung brachte eine dramatische Veränderung für unsere Stadt. Zum anderen ist Hamburg im globalen Maßstab keine Weltstadt mehr.
club!: Aber Größe muss ja nicht auch Stärke sein.
Voscherau: Richtig. Größe automatisch als Stärke darzustellen, das ist ja auch die verhängnisvolle Verwechslung in Brüssel. Wer mithalten will, muss stark und schnell sein. Und Hamburg ist erfolgreich, weil es schnell ist und weil es kreativ ist.
club!: Wie und wo zeigt sich die Kreativität dieser Stadt?
Voscherau: Bei den so zahlreich vertretenen Medien, den Werbeagenturen, durchaus auch in der Kunst. Aber auch die Hamburger Kaufmannschaft hat im Rahmen ihres weltweiten Netzwerks die Hand am Puls der internationalen Veränderungen. Die zeigen sich äußerst innovativ. Wenn man bedenkt, dass 85 Prozent der Weltcontainerflotte von Hamburg aus gemanagt und gemakelt werden, das ist doch ungeheuer.
club!: Welche Rolle spielt der Hafen darüber hinaus?
Voscherau: Der Präses der Handelskammer, Herr Melzer, hat gerade bei einer Festrede herausgehoben: „Ein wichtiger Wachstumstreiber bleibt unser Hafen, dessen Umschlag wieder kräftig ansteigt. Künftig wird der Hafen auch als Produktionsstandort für Industrieunternehmen eine noch größere Rolle spielen.“
club!: Zur Zukunft des Hafens gehört auch die notwendige Elbvertiefung. Darüber aber gibt es seit Jahren mit Niedersachsen und Schleswig-Holstein keine Einigung. Kann sich die Region, kann sich Deutschland überhaupt diese Zersplitterung im globalen Wettstreit noch länger leisten?
Voscherau: Darüber habe ich schon so manche Vorträge gehalten. Würde man die gesamte norddeutsche Küstenpower mit Hamburg als Hauptstadt vereinen, wäre das für alle von großem Vorteil. Davon bin ich überzeugt. Andererseits, wenn nur Hamburg und Schleswig-Holstein fusionierten, erhielte das neue Bundesland aus dem Finanzausgleich mehr als eine Milliarde Euro weniger jährlich. Schon das rechnet sich nicht. Sicher, am Reißbrett können Sie aus den 16 nur acht Bundesländer machen. Darüber kann man Bücher schreiben, aber in der praktischen Politik spielt diese Neuordnung überhaupt keine Rolle. Alleine schon wegen unserer Finanzverfassung ist das ein totes Thema, leider, leider.
club!: Stärke durch Zusammenschluss, das ist aber auch in der aktuellen Diskussion um die Zukunft Europas das schlagkräftigste Argument.
Voscherau: Das erzählen uns die Verantwortlichen alle, nur ich glaube das nicht. Ich denke dabei immer wieder an den ungeheuren Erfolg der Stadtrepublik Singapur. Hat sie den trotz Chinas oder gerade wegen Chinas, trotz Indiens oder wegen Indiens?
club!: Tatsache aber ist auch, dass sich bei uns immer mehr Menschen vor einer Zukunft fürchten, in der Deutschland und Europa von asiatischen Ländern aus den Weltmärkten verdrängt werden.
Voscherau: Ob wir eine Lösung finden, wenn wir von einem Weltbild der Rivalität und der Interessenkonflikte ausgehen, sagen wir zwischen den 400 Millionen Europäern und den 1,5 Milliarden Chinesen? Wenn man rivalisiert, wird man auch als Rivale behandelt. Aber muss das so sein? Warum suchen wir in Zukunft nicht stärker nach Gemeinsamkeiten?
club!: Ein entscheidendes Stück Hamburger Zukunft haben Sie als Bürgermeister auf die Startrampe geschoben. Wie gehen Sie heute durch die neue HafenCity?
Voscherau: Ich gehe mit einer großen Befriedigung durch diese Großbaustelle. Ich bin froh, dass man in 100 Jahren, mutmaßlich, einmal sagen wird: „Das war der Bürgermeister Voscherau.“
club!: War es schwierig, diese für die Stadt so fantastische und in der ganzen Welt beachtete und gelobte Vision auf den Weg zu bringen?
Voscherau: Sehr schwierig, weil ich ja alle Regeln umgehen musste. Wenn Sie ein so riesiges Gebiet, ich glaube 110 Hektar, das voll privatwirtschaftlich genutzt ist, komplett in eine öffentliche Verfügbarkeit zurückholen wollen, ohne Fantasiepreise bezahlen zu müssen, die ja das Projekt zur Todgeburt gemacht hätten, dann können Sie die Regeln nicht einhalten.
club!: Wie haben Sie die umgangen?
Voscherau: Durch absolute Geheimhaltung. Es gab nur zwei Menschen, die unter vier Augen und hundertprozentig vertrauensvoll dabei kooperiert haben. Das waren der Bürgermeister und der Vorstandsvorsitzende der Hamburger Hafen- und Lagerhaus Aktiengesellschaft, Peter Dietrich. Mit dem habe ich das alles ausgeheckt.
Und der hat fungiert unter der falschen Flagge „Erweiterung unserer Umschlagkapazitäten als Hafenunternehmen“. Er hat das ganze Gelände zusammengeholt und auch auf dem Kreditmarkt finanziert. Dadurch wiederum brauchte ich keine Bewilligung des Parlamentes.
club!: Wie stand es in jener Zeit um die Nachtruhe des Mannes an der Spitze dieser Stadt?
Voscherau: Nicht zum Besten. Natürlich bekommt man kalte Füße als politisch Verantwortlicher. Denn ganz am Ende kommt ja die Stunde der Wahrheit. Ganz am Ende brauchen Sie einen Senatsbeschluss und ganz am Ende brauchen Sie auch einen Parlamentsbeschluss.
club!: Wenn ich das zufriedene Lächeln in Ihren Mundwinkeln richtig deute, haben Sie auch diese Stunde der Wahrheit nicht dem Zufall überlassen.
Voscherau: Das Ganze habe ich vier, fünf Monate vor einer Bürgerschaftswahl gebündelt und verschnürt. Denn ein halbes Jahr vor einer Wahl ist der Spitzenkandidat sehr mächtig. In dieser Zeit wagt keiner, ihm in den Rücken zu fallen. Jedenfalls keiner von den eigenen Leuten. Diese Macht hält an bis zum Wahlsonntag um 18 Uhr – dann ist sie weg.
club!: Wann haben Sie den Hamburgern die Ideen und Pläne für die neue Hafencity offengelegt?
Voscherau: Kurz vor der Wahl. Mit einem zukunftsweisenden, nach vorne stürmenden Konzept, vorgetragen am Hafengeburtstag 1997. Das war an einem Montag. Die Hamburger Presse war am Dienstag voll davon und berichtete überschwänglich und begeistert. Am Mittwoch gab es in der Bürgerschaft kein einziges Widerwort. Es wurde einmal nichts zerredet. Gott, war ich froh. Und bin es heute immer noch.
Henning Voscherau, 71, wurde in Hamburg als Sohn eines Schauspielers und einer Apothekerin geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft. 1966 trat er der SPD bei und wurde acht Jahre später in die Hamburger Bürgerschaft gewählt. 1988 übernahm er das Amt des Ersten Bürgermeisters der Stadt Hamburg. Neun Jahre war Henning Voscherau Chef im Rathaus. Weil seine angestrebte Koalition mit der STATT-Partei nicht zustande kam, stellte Voscherau 1997 sein Amt zur Verfügung, zog sich aus der Politik zurück und arbeitete bis zum Ende des vergangenen Jahres als Rechtsanwalt und Notar.
Text: Norbert Scheid
Fotos: Nicola Rübenberg