Nach der Vendée Globe Regatta rund um den Glob hätte Hamburgs Profisegler Boris Herrmann allen Grund, sich Urlaub zu gönnen. Stattdessen plant der 39-Jährige die nächsten Etappen seiner Karriere. club! sprach mit ihm über Erschöpfung, Popularität und Klimaschutz.

Der Held ist müde. Boris Herrmann sitzt auf der Couch in seiner Wohnung in der HafenCity, als ihn das club!-Magazin zum vereinbarten Interview erreicht. Das Gespräch läuft der Pandemie geschuldet über eine Video-Plattform. 80 Tage musste sich der Hamburger Profisegler um Corona keine Sorgen machen. Denn er lebte völlig allein auf seiner Rennyacht Seaexplorer. Jedes Ansteckungsrisiko war ausgeschlossen, jeder Landgang hätte die Disqualifikation bedeutet.
Dafür waren andere Gefahren bei der Vendée Globe, der härtesten Segelregatta der Welt, um so realer: zwei Wochen nach dem Start im französischen Les Sables d’Olonne musste Herrmann in den 29 Meter hohen Mast klettern, um einen Verschlussmechanismus zu lösen – Horror für den gebürtigen Oldenburger, der unter Höhenangst leidet. Vier Tage später geriet sein Konkurrent Kevin Escoffier in Seenot, als seine Yacht auseinanderbrach. Herrmann beteiligte sich an der Suche, Escoffier wurde gerettet.
Am Ende schien für den ersten deutschen Teilnehmer an der Vendée Globe ein Podestplatz greifbar nah. Doch rund 90 Seemeilen vor dem Ziel rammte ein Fischtrawler die Seaexplorer. Boris Herrmann blieb unverletzt, aber sein Schiff war beschädigt. Der Hamburger reparierte die Yacht notdürftig, erreichte aber nur noch als Fünfter das Ziel.

club!: Herr Herrmann, wie gut haben Sie sich inzwischen von den ungeheuren Strapazen des Vendée Globe erholt?
Boris Herrmann: Überhaupt nicht. Ich gehe auf dem Zahnfleisch. Nach einem solchen Rennen hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du lehnst dich zurück oder du stürmst nach vorne. Ich habe mich für das nach vorn Stürmen entschieden. Um Klarheit zu bekommen für die kommenden fünf Jahre.

Dabei geht es vor allem um das Ocean Race, einer Regatta um die Welt in Teambooten 2022/23, sowie um die nächste Vendée Globe 2024/25.
Genau. Wir möchten an beiden Regatten teilnehmen und sind jetzt dabei, alles aufzugleisen. Mitte Mai möchten wir dann alles unter Dach und Fach haben. Es geht dabei um hohe Budgets, über die wir jetzt gerade mit unseren Partnern sprechen. Das ist alles sehr ambitioniert. Allerdings haben wir durch die erfolgreiche Vendée Globe 2020/21 deutlich mehr Schwung, viele Leute kennen uns nun.

Sie möchten mit einem neuen Schiff starten…
Das ist richtig. Auch dort haben die Planungen begonnen. Durch den Fünf-Jahres-Zeitraum haben wir die einmalige Chance, ein komplett neues Schiff zu designen. Man hofft ja immer, dass ein neues Schiff schneller wird als das alte, aber hundertprozentig sicher kann man sich nie sein. Wir reden über neu entwickelte Prototypen, man kann nicht alles komplett berechnen.

Wie schwer fällt Ihnen der Abschied von der Seaexplorer?
Als ich bei der Zielankunft am 28. Januar von Bord gegangen bin, bin ich am Steg entlanggegangen, dann warteten dort meine Familie und Journalisten. Dann war die Pressekonferenz. Kurz vor der Abfahrt mit dem Auto nach Deutschland war ich noch einmal am Schiff, habe es aber nicht mehr betreten. Das war auch gut so. Ich habe mit der Seaexplorer eine so intensive Beziehung, die kann man gar nicht beschreiben. Deshalb bin ich auch froh, dass sich nun mein Team in Port-la-Fôret in der Bretagne um das Schiff kümmert. Die machen einen großartigen Job.

Boris Herrmann, 39, geboren am 28. Mai 1981 in Oldenburg, war schon als Säugling bei Törns seiner Eltern dabei. Zusammen mit seinem Schulfreund Julien Kleiner segelte er mit Erfolg in Zwei-Mann-Jollen. Als 19-Jähriger wurde Herrmann Elfter bei der Mini-Transat-Regatta von Frankreich nach Brasilien. Wichtigster Partner für Herrmann ist Pierre Casiraghi, Präsident des Yacht Clubs von Monaco. Die beiden segelten auch 2019 die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg nach New York. Boris Herrmann studierte Ökonomie in Bremen. Er lebt mit seiner Frau Birte Lorenzen-Herrmann und Töchterchen Marie-Louise in einer Genossenschaftswohnung in der HafenCity.

Ihre Yacht hat durch den Zusammenstoß mit einem Fischtrawler kurz vor der Ziellinie sehr gelitten. Wie aufwändig sind die Reparaturen?
Das dauert insgesamt vier Monate. Wir müssen unter anderem ein zerbrochenes Foil…

…also eine Tragfläche, die das Boot förmlich aus dem Wasser katapultiert…
…ersetzen. Das ist alles aufwändig. Und leider auch sehr teuer.

Ersetzt eine Versicherung den Schaden?
Die Eigenbeteiligung ist zu hoch. Nein, das geht komplett aus unserem Budget. Entsprechend groß ist das Loch. Leider.

Sie werden das Schiff nach der Reparatur an einen neuen Skipper übergeben. Wie wichtig ist Ihnen, dass es in gute Hände kommt?
Es ist ja nicht mein Schiff, es gehört unserem Partner Gerhard Senft (ein Stuttgarter Immobilienunternehmer, die Red.). Ich kann das daher gar nicht entscheiden. Aber natürlich helfen wir tatkräftig mit, dass der Verkauf gut über die Bühne geht. Es ist ja auch ein Superschiff. Und so wie es jetzt aussieht, kommt das Schiff in sehr gute Hände. Und ich wünsche dem neuen Eigner ganz viel Erfolg.

Wie sehr beschäftigt Sie noch der Zusammenstoß, der Sie so kurz vor dem Ziel einen sicheren Podestplatz gekostet hat?
Ich komme damit ganz gut klar. Ich denke inzwischen seltener daran. Es ist, wie es ist. Aber es ist schon ein kleines Trauma. Ab und an habe ich noch ein kurzes Flashback. Irgendwann werde ich mich damit noch einmal intensiver auseinandersetzen.

Werden Sie die Seaexplorer noch einmal segeln?
Ja, so ist es geplant. Voraussichtlich im Juni werde ich dem neuen Skipper bei einer Tour das Schiff erklären, ihm Tipps geben, wie man es am besten segelt. Dann ist der Abstand für den Abschied hoffentlich groß genug. Wir hatten mal überlegt, das Schiff zuvor nach Deutschland zu bringen, um es nochmal Freunden zu zeigen. Aber das ist immer mit hohen Kosten verbunden.

Wie sehr fehlt Ihnen gerade das Segeln?
Überhaupt nicht. Ich kann monatelang an Land leben. Auf ein Schiff zu gehen, reizt mich gerade gar nicht.

Sie haben 80 Tage und 80 Nächte an Bord des Schiffes verbracht, maximal eine Stunde am Stück geschlafen. Wie lange haben Sie gebraucht, um wieder Ihren gewohnten Schlafrhythmus zu finden?
Ich habe in den ersten Nächten wie ein Stein geschlafen, die Erschöpfung war enorm groß. Aber jetzt sitze ich zu viel am Schreibtisch, habe zu viele Video- oder Telefonkonferenzen. Ich komme nicht dazu, Sport zu machen. Nachts liege ich dann wach und habe einen hohen Puls. Entsprechend gerädert bin ich morgens. Erfahrene Vendée Globe-Teilnehmer sagen, dass man Monate braucht, um sich völlig zu erholen. Psychologen sprechen von traumatischen Erlebnissen, die man nun bewältigen müsse. Aber so dramatisch sehe ich das nicht. Wir ziehen das jetzt durch, dann machen wir richtig Urlaub.

 

Die Vendée Globe ist eine Nonstop-Regatta für Alleinsegler, sie gilt als härteste Regatta der Welt. Start und Ziel liegen vor Les Sables d’Olonne an der französischen Atlantikküste im namensgebenden Département Vendée. Erfunden wurde die Regatta 1989 vom französischen Segler Philippe Jeantot. Seit 1992 findet sie alle vier Jahre statt. Landgänge führen automatisch zur Disqualifikation. Auch externe Beratung während des Rennens, etwa in Sachen Navigation, ist verboten. Die Rekordzeit liegt bei 74 Tagen, 3 Stunden, 35 Minuten und 46 Sekunden.

 

Würden sie im Rückblick sagen, es wäre doch besser gewesen, Sie hätten sich für den ersten Weg nach einem Vendée Globe entschieden? Zurücklehnen und einfach mal nichts machen.
Nein, das habe ich mal nach einem großen Rennen gemacht. Da hatte ich keinen neuen Sponsor, kein Team. Da bin ich in ein Loch gefallen, habe mich hängen lassen. Nein, dieser Weg, sich sofort um die neuen Projekte zu kümmern, ist für mich der richtige.

Mona Küppers, die Präsidentin des Deutschen Segler-Verbandes, erhofft sich von Ihrer großen Popularität einen Aufschwung für den Segelsport. Gerade junge Menschen würden Sie mit Ihrem Charisma, Ihrem Können, Ihrer Ausstrahlung begeistern. Spüren Sie die neue Popularität?
Ja, auch außerhalb von Hamburg. Als ich neulich in Frankfurt in den Flieger gestiegen bin, hat mir ein Steward ein kleines Fläschchen Whiskey geschenkt. Wir würden jetzt zwar nicht Kap Hoorn umrunden, aber ich hätte es trotzdem verdient. Und dann wollte er auch noch ein Selfie mit mir machen. So etwas freut einen natürlich.

Ihre Popularität hängt auch mit ihrem Engagement für die Klimaschutzbewegung zusammen. 2019 haben sie die schwedische Klimaktivistin Greta Thunberg über den Atlantik zum UN-Klimagipfel gesegelt. Greta hat Sie nach der Vendée Globe auf ihrer Facebookseite einen „wahren Helden“ genannt. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Ich war mit meiner Frau im März 2019 bei der großen Klima-Demo in Hamburg. Damals war Greta die Hauptrednerin. Auf dem Heimweg sagte meine Frau zu mir: Wenn Greta mal irgendwo hin muss, wo kein Zug fährt, kannst du ihr doch anbieten, sie auf dem Segelboot mitzunehmen. Als sie im Juni 2019 über Twitter gefragt hat, wie sie möglichst emissionsarm nach New York reisen könne, habe ich sie über einen befreundeten Journalisten kontaktiert. Greta hat sich dann für uns entschieden.

Sie kommen aus einem sehr politischen Elternhaus. Mit Ihrem Vater haben Sie schon als Kind für Abrüstung demonstriert. Als Schüler haben Sie später gegen die Castor-Atommüll-Transporte im Wendland protestiert. Stand für Sie schon damals der Umweltschutzgedanke im Mittelpunkt?
Ja und nein. Gesellschaftliche Zusammenhänge haben mich schon immer interessiert, auch dank meines Geschichtslehrers. Doch der Klimagedanke rückte für mich erst später durch mein Studium in den Mittelpunkt, wo ich mich in den Wirtschaftswissenschaften intensiv mit nachhaltigem Management beschäftigt habe.

Auf der Seaexplorer hat während der Vendée Globe ein Mini-Labor alle 20 Sekunden Werte wie Wassertemperatur, pH-Wert, Salzgehalt und CO2-Gehalt ermittelt. Allein das Gewicht von 17 Kilogramm wäre ein guter Grund gewesen, auf dieses Gerät zu verzichten. Sie haben sogar nur Proviant für 80 Tage mitgenommen, damit die Seaexplorer so leicht wie möglich bleibt.
Das Gewicht war nicht das eigentliche Problem. Das Mini-Labor hat 20 bis 25 Prozent der Energie geschluckt, die über Solarmodule erzeugt wurden. Aber dieses Gerät stand von Beginn unserer Kampagne nie zur Disposition.

Warum?
Ich habe mir das zu Beginn etwas schöngeredet. Ich habe mir gesagt, das Vendée Globe setzt einen so unter Druck. Und wenn irgendwas schiefgeht, dann bist du richtig enttäuscht, dann waren zehn Jahre Vorbereitung für meine Unterstützer und für mich umsonst. Durch das Meereslabor hatte meine Mission einen doppelten Zweck: Das Rennen selbst. Und die Forschung. Für mich war das eine Art Versicherung: Wäre das Meereslabor ausgefallen, hätte ich noch das Rennen gehabt. Und hätte ich etwa durch einen Mastbruch einen Landstopp einlegen müssen und wäre disqualifiziert worden, hätte ich trotzdem einen Grund gehabt, außerhalb der Konkurrenz weiterzusegeln, damit Daten ermitteln werden können. Das hat mich damals beruhigt.

Gibt es schon erste Aufschlüsse aus dem Datensatz? Sie haben ja zudem auf Ihrer Reise noch eine Art Mini-Tauchroboter ausgesetzt, der bis zu 2000 Meter tief tauchen kann.
Die Auswertungen werden noch Monate dauern. Aber sicher ist schon jetzt, dass wir wissenschaftlich fundierte Daten gewonnen haben. Zwar ermitteln auch viele Containerschiffe solche Daten, aber diese sind immer auf den klassischen Routen der Handelsschifffahrt unterwegs. Bei der Vendée Globe sind wir in Gebieten wie dem Süd-Ozean westlich von Chile gesegelt, wo es kaum Daten gibt.

Wie sehr werden die von Ihnen ermittelten Werte die Forschung beeinflussen?
Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, dass unsere Messergebnisse nun sofort zu völlig neuen Erkenntnissen führen. Da geht es nicht um das Heben eines archäologischen Schatzes, um zu sagen: Oh, guck‘ mal, hier gab es schon vor 1000 Jahren Seefahrer, und wir haben das jetzt entdeckt. Nein, hier geht es um pure Wissenschaft. Klimamodelle zu berechnen, ist extrem komplex. Je feiner die Daten sind, umso präziser kann diese Annäherung gelingen. Vielleicht wird auf unser Material noch in 50 oder 100 Jahren zurückgegriffen.

In der öffentlichen Diskussion geht es vor allem um die Verschmutzung der Meere durch Plastik.
Ja, das stimmt. Das ist auch ein Problem, aber der Klimawandel ist das weitaus größere. Die Erderwärmung verläuft sehr subtil, wir können das nicht riechen, sehen oder schmecken. Aber wenn die Meere nur ein Grad wärmer werden, sterben die Korallen. Und die Ozeane nehmen rund 23 Prozent des weltweit produzierten Kohlendioxids auf. Aber je mehr Kohlendioxid sie speichern müssen, umso saurer werden sie. Mit schlimmen Folgen für die Meeresbewohner. Eins dürfen wir niemals vergessen: Jeder zweite Atemzug, den wir nehmen, ist Sauerstoff, der im Ozean produziert wurde.

Daher engagieren Sie sich auch für den Malizia-Mangrovenpark auf den Philippinen.
Ja, wir pflanzen dort mit einer Stiftung Mangroven. Diese Pflanzen binden CO2. Zudem bietet ein intakter Mangrovengürtel Heimat für Vögel, Reptilien, Fische und Krebse. Und er schützt die vorgelagerten Korallenriffe und die Küste vor Erosion, weil Wellen gebrochen werden. Wir möchten eine Million Mangroven pflanzen, knapp 250 000 haben wir bereits geschafft. Der Preis von 33 Cent für eine Mangrove deckt das Sammeln der Samen, das Aufziehen der Setzlinge in den Baumschulen und das Aussetzen. Aus dem Erlös des Verkaufs meines Buchs über die Vendée Globe, das im September erscheint, pflanzen wir weitere Mangroven.

Auf Ihrem Segel stand der Slogan „A race we must win“.

Es ist die Wahrheit. Dieses Rennen ist viel größer als jede Vendée Globe. Der Kampf gegen Hunger, gegen Kriege, für besseres Trinkwasser, alles hängt davon ab, ob wir den Klimawandel stoppen können.

Peter Wenig, Autor des Hamburger Abendblatts, hat über Herrmanns Vorbereitungen auf die Vendée Globe eine Titelgeschichte für das Abendblatt geschrieben. Der Verband Deutscher Sportjournalisten zeichnete die Reportage mit dem zweiten Platz im Berufswettbewerb 2020 aus. Privat ist auch Peter Wenig oft auf dem Wasser unterwegs – allerdings in Ruderbooten des RC Allemannia.

 

Text: Peter Wenig Foto: Malizia