Es gibt verschiedene Bilder für das Fortschreiten auf Erden. Das Leben wird als Aufstieg und Niedergang oder auch als Kreis gezeichnet, die Wirtschaft rollt im Rhythmus der Konjunkturwellen oder zickzackt im Stakkato der Börsenbewegung, die Weltbevölkerung wächst exponentiell (im 20. Jahrhundert) oder asymptotisch (im 21. Jahrhundert) und der Pfeil der Zeit fliegt genauso ruhig und gleichförmig neben uns her, wie er auch schon flog, als wir noch nicht waren, und fliegen wird, wenn wir nicht mehr sind.

Und die Wissenschaft, die Forschung? Sie bewegt sich wie auf einer Treppe nach oben; immer nur nach oben. Er habe nur deshalb weiter als andere gesehen, weil er „auf den Schultern von Riesen“ gestanden habe, hat sich der englische Physiker Isaac Newton 1676 bewusst klein gemacht – als ihn die ganze Welt als wissenschaftlichen Superstar feierte. Jede neue Erkenntnis, jede neue Entdeckung, jede neue Erfindung vergrößern unser Wissen von der Welt und dem, was sie zusammenhält. Zwar wirft dem Forscher jede neu gefundene Antwort neue Fragen auf; aber die stehen eben auf den Schultern der alten, beantworteten Fragen.

Hm. Wirklich? Und immer? Kann es sein, dass eine Treppe immer weiter nach oben geht? Im wörtlichen Sinn wohl nicht – es sei denn in den Bildern von M.C. Escher. Aber da fließt ja auch das Wasser bergauf. Und in der realen Welt verabschieden wir uns inzwischen von einigen dieser ewigen Treppen. Bei der Bevölkerungsentwicklung gewöhnen wir uns so langsam daran, dass die Zeiten des ewigen Wachstums vorbei sind, beim Wirtschaftswachstum müssen wir uns gerade etwas schneller daran gewöhnen. Kann uns eine solche Umgewöhnung auch bei der Forschung passieren? Kann der Fortschritt einfach aufhören fortzuschreiten?

Robert Gordon sagt Ja. Die letzten zwei Jahrhunderte mit ihrem rapiden Zuwachs an Produktivität und Erkenntnis seien, so der US-Ökonom, wohl nur eine Ausnahmeerscheinung in der abendländischen Geschichte – die zudem gerade dem Ende entgegengehe. Schon die derzeit aktuellen Basisinnovationen Computer und Internet hätten die Produktivität weit weniger gesteigert als ihre Vorgänger, also Eisenbahn und Elektrizität. Schlappe Innovationen führen zu schlappem Wachstum – oder auch umgekehrt.

Wir könnten uns sogar an eine Welt ohne Fortschritt gewöhnen, meint Gordon, und führt als Beispiel die Entwicklung der Transportgeschwindigkeit an. Jahrtausendelang habe sie sich kaum geändert, sei von „Huf und Segel“ vorgegeben worden. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts eine rapide Steigerung begann, die bis 1958 angedauert habe, dem Jahr, in dem die Boeing 707 auf den Markt beziehungsweise in die Luft kam. Und seither: Stillstand. Die Jets seien heute sogar ein wenig langsamer unterwegs als vor fünfzig Jahren – um Kerosin zu sparen.

Von Rückschritten an Erkenntnis, von schrumpfenden Riesen also, ist aber auch bei Gordon nicht die Rede. Dafür müsste ja tatsächlich einmal gemachte Erkenntnis wieder aus der Welt verschwinden. Mit den alten Schinken eines Aristoteles konnte so etwas schon passieren (Umberto Ecos „Der Name der Rose“ handelt von nichts anderem), aber doch nicht mit unseren beliebig oft gedruckten und gespeicherten Dokumenten!

Hm. Wirklich? Dann versuchen Sie doch mal, Ihre ersten auf Computer entstandenen Dateien wieder aufzurufen. Oder die Super- 8-Filme aus Opas Keller noch mal abzuspielen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wird künftigen Historikern viele harte Nüsse zu knacken geben: so viele Techniken, so schnell veraltet, da wird vieles definitiv verloren gehen. Selbst wenn jemand dereinst meine erste selbst geschriebene und gespeicherte Software aufstöbern sollte – auf die Idee, dass diese mit einem Datasette genannten Gerät, einem Commodore PET 2001, gefüttert werden müssen, muss er erst einmal kommen.

 

Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.