Es gibt ja Orte, da will man hin. Sehnsuchtsorte wie Venedig („sehen und sterben“), Traumorte wie Paris („eine Messe wert“), Superzentren wie New York City („if you can make it here you’ll make it everywhere“), Extremorte wie der Mount Everest („Dach der Welt“) und all die über die Welt verstreuten Sehenswürdigkeiten- Orte, von Taj Mahal über Machu Picchu bis Grand Canyon.
Und dann gibt es Hamburg. Ein Ort, der seine touristische Größe dadurch erreicht hat, dass die Menschen, die hierherkamen, nicht hierhin wollten. Sondern woandershin. Im 19. Jahrhundert platzten Hamburg und sein Hafen aus allen Nähten, weil die Auswanderer hier Zwischenstation machten, um auf das nächste Schiff ins gelobte Land Amerika zu warten – die Stadt war damals in etwa das, was Lampedusa heute ist. Einer der größten Konzerne Hamburgs, Hapag-Lloyd, verdankt seinen Aufstieg nicht zuletzt der Servicefunktion für all jene, die die Schnauze voll hatten von Armut und Hoffnungslosigkeit in Deutschland. Touristisches Wachstum mit Migrationshintergrund.
Auch die heutige Hauptattraktion Hamburgs – die Reeperbahn natürlich – begann ihre Karriere nicht als Ziel an sich, sondern als Service für Durchreisende. Da wurde geboten, was halt Seeleute so brauchen, wenn sie irgendwo hängenbleiben, weil ihr Schiff entladen oder repariert werden muss, oder wenn sie auf die nächste Heuer warten. Und so attraktiv, dass die Handelsschiffe wegen der Reeperbahn Hamburg ansteuerten, war St. Pauli denn doch nicht – die Pfeffersäcke waren wichtiger.
Man muss sich für diese touristische Tradition der Zwischenstation nicht schämen. Alle Hafenstädte der Welt teilen dieses Schicksal mit Hamburg; zumindest alle, die vor der Erfi ndung des Containers entstanden sind, da diese Innovation ja die Ladeund Liegezeiten so sehr reduziert hat, dass die Besatzung kaum noch die Zeit hat, mal über die Reeperbahn zu schlendern, schon gar nicht nachts um halb eins. Häfen sind nun mal, so der geografi sche Fachbegriff, Bruchpunkte des Verkehrs, Orte, an denen umgeladen, Zwischenstation, Pause gemacht werden muss. Furten, Passstraßen, Grenzen und Oasen haben verkehrshistorisch eine ähnliche Funktion.
Und wenn Pause gemacht werden muss, dann spricht ja wohl alles dafür, es sich dabei auch gemütlich zu machen – mit Gast-, mit Bet-, mit Freudenhäusern, mit Märkten und Dienstleistungsbetrieben aller Art. Womit solche „Bruchpunkte“ zu einer der wichtigsten Wurzeln der Stadtentstehung geworden sind, denn sie stellten einen Kristallisationskeim dar, aus dem heraus sich Unternehmens- und Bevölkerungswachstum entwickeln konnten. In vielen Weltregionen lassen sich diese Wurzeln immer noch auf der Landkarte ablesen. Probieren Sie’s mal dort aus, wo die Händler auf langen überlandstrecken unterwegs waren – die Orte liegen etwa so weit auseinander, wie ein Händlertross oder eine Karawane an einem Tag reisen konnte, in Deutschland etwa 30 Kilometer. Für größere Städte (und längere Zwischenstationen) musste dann allerdings noch mehr dazukommen als nur eine übernachtung – oft eine lokale Produktspezialität, mit der zu handeln sich lohnte.
Manche dieser Spezialitäten breiteten sich durch die Reisenden dann über die ganze Welt aus. So wie ein Erzeugnis des ungarischen Kleinstädtchens Kocs, das sich vor allem dadurch auszeichnete, dass es an der ziemlich langen Landstraße zwischen den Metropolen Wien und Budapest lag. Und weil auf dieser Strecke nicht nur Händler mit Ochsenkarren, sondern auch hohe Herrschaften mit Bequemlichkeitswunsch unterwegs waren, fanden die örtlichen Handwerker ein interessiertes Publikum für ihre Spezialität: gefederte Reisewagen. Die „Kocser Wagen“ wurden zum Markenzeichen – von ihm wurde der Begriff „Kutsche“ abgeleitet.
Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.