Achten Sie mal auf die Vorsilben. In Stilfragen, insbesondere Baustilfragen, tauchen sie regelmäßig auf, um das, was da gerade kommt, in irgendeine Beziehung zu dem zu setzen, was irgendwann schon einmal war – von Spätgotik über Neobarock bis Postmoderne. Und die Wahl der Vorsilbe sagt mehr über den Zustand aus, in dem sich eine Gesellschaft befindet, als diese selbst wahrhaben will.

Da gibt es die Großfamilie des Neuen, mit ihren drei Hauptstämmen: dem altsprachlichen Neo-, dem weltsprachlichen New (oder, vor 100 Jahren: Nouveau) und dem eigensprachlichen Neu-. Eines haben alle Familienmitglieder gemeinsam: eine positive Einstellung zur Zukunft. Das Neue soll mehr oder weniger anders, aber vor allem wird es besser werden als das Alte. Eine derzeit, und zwar ziemlich genau seit dem 11. September 2001 im Abendland nicht mehr allzu verbreitete Vorstellung, aber davor doch immer wieder in optimistischen Epochen anzutreffen.

Unter dieser Gemeinsamkeit treten dann aber die großen Unterschiede der drei Stämme zutage. Neo- wie in -klassizistisch oder -konservativ, wie in -liberal oder -barock, badet durch die Latinisierung in der Historie, behauptet von sich selbst, sich auf die Schultern von Riesen zu stellen, gibt aber durch die Blume zu verstehen, dass es der Zukunft doch eigentlich gut stehen würde, so auszusehen wie die Vergangenheit. Globalistisch und genialisch hingegen gibt sich die Anlehnung an die jeweils gerade hippe Weltsprache, von New Age bis New Economy, oder eben einst jene Art Nouveau, die sich in Deutschland Jugendstil nennen durfte. Alles irgendwie ganz neu, wie genau ist egal, Hauptsache irgendwie ganz anders. Viel mehr als ein Rülpser der Kulturgeschichte ist dabei bisher allerdings noch selten herausgekommen.

Gründlicher wird beim „Neuen“ gearbeitet, wie in der „Neuen Sachlichkeit“, dem „Neuen Bauen“ oder der „Neuen Fotografie“. Da wird von Deutschland aus mit deutschem Adjektiv ein ganzer Begriff umgepflügt, um einem komplett umgedachten System Platz zu schaffen. Dem Rest der Welt ist das jedoch meist zu kompliziert – das „Neue“ bleibt in seiner regionalen Nische stecken. Die bis vor kurzem vorherrschende Vorsilbenfamilie gruppierte sich hingegen um „post“, wie Postmaterialismus, -moderne oder -kommunistischen Parteien. Eigentlich ist es ja der Gipfel der Einfallslosigkeit, wenn man das Nächste einfach auf das Fundament (oder die Trümmer) des Bisherigen draufsetzt, und sich nicht einmal die Gedankenarbeit macht, dem neuen Kind einen neuen Namen zu geben, aber, nun ja, es muss ja auch übergangszeiten geben.

Zuletzt war jedoch ein Stimmungswechsel von der Übergangszur Untergangszeit zu spüren. Er hört auf die Vorsilbe „un“, englisch ausgesprochen, wie in Undoing oder Unfollowing, Unbranding oder Unmarketing, Unstyle oder Unconference. Und dieses Un-ning bedeutet vor allem eines: Unsicherheit. Die alten Begriffe und Handlungsweisen haben in eine Sackgasse geführt, der vertraute Weg des „Weiter-so“ ist, wenn überhaupt, nicht mehr lange gangbar. Die Vergangenheit scheidet als positiver Bezugspunkt aus, die Zukunft sieht auch nicht danach aus und mit dem Gefühl, in einer kaum definierbaren Zwischenzeit zu leben, kann ein Montaigne grandiose Essays schreiben, aber keine Gesellschaft lange existieren.

Also definiert sich die Gesellschaft dann stärker über die Gegenwart, feiert im fiebrigen Gefühl des „Nach mir die Sintflut“ und wartet darauf, dass von irgendwoher neue Begriffe einfliegen, die endlich wieder ganz ohne Vorsilbe auskommen. So etwas wie „Blob“, nur besser. Damit die Zwischenzeit endlich zu Ende geht, und von der Nachwelt dann mit der Vorsilbe „vor“ versehen werden kann, wie in Vormoderne oder Vormärz- der Vorsilbe, die nur die Sieger vergeben.

Von Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.