Hätte man vor 20 Jahren schon gewusst, was man heute weiß; und könnte man jetzt noch mal von vorne anfangen – die Musikindustrie wäre der strahlende Sieger der Medienrevolution. Sie hätte so etwas wie Napster und iTunes und YouTube selbst erfunden, sie hätte aus dem Konzertgeschäft eine neue Goldgrube gemacht und den Weg von Walkman über iPod bis Smartphone beschritten; und die wertvollste Firma der Welt hieße heute Sony oder Universal und nicht Apple.

Klar, hinterher ist man immer schlauer. Aber die Musikindustrie hätte tatsächlich auch vorher schlauer sein können. Schon 1993, der Musikmanager Tim Renner erinnert sich noch wie heute, gab es einen Workshop bei seinem damaligen Arbeitgeber Polygram, bei dem ein paar Nachwuchs-Führungskr.fte den Top-Managern sehr deutlich sagten, was auf sie zukomme: der Tod. Und was sie dagegen tun könnten: Individualisierung des Musikerlebnisses statt Massenproduktion von Tonträgern. Aber damals ging es der Branche noch zu gut, um scheinbar ohne Not einen solchen Radikalumbruch zu starten. Aber als nach ein paar Jahren die Not dann da war, war es zu spät, um das Steuer herumzureißen: Die Musikindustrie wurde das erste Opfer der Digitalisierung. Ein bisschen Musikindustrie gibt es heute in jeder Branche. Entweder ist sie schon mitten im Onlinestrudel, wie die Schwesterbranchen Film und Buch und Zeitung und Fernsehen. Und wie die Medienmärkte, Schuhläden und ein paar Dutzend weitere Einzelhandelssegmente. Oder sie hat den Strudel noch vor sich, wie Auto- oder Finanzindustrie. Auch und gerade diejenigen, denen es noch zu gut geht, um scheinbar ohne Not einen Radikalumbruch zu starten.

Eigentlich, ja eigentlich könnten sich doch die Musikmanager jetzt als Umbruchberater verdingen. Denn weil die Musikindustrie den anderen Branchen schon so weit voraus ist, zeigt sie ihnen ein bisschen, wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommt. Nicht das kopierbare Massenkonsumprodukt bringt den Profit, sondern das individuelle Erlebnis: Die Kids geben kein Geld mehr dafür aus, um Musik zu hören, aber dafür deutlich mehr als früher, um Musik zu sehen, live in concert. Bühnenpräsenz wird honoriert, für reine Studio-Tüftler wie Alan Parson oder Frank Farian ist die Zeit vorbei.

Und die gesamte Wertschöpfungskette muss man beherrschen, oder zumindest gut genug kennen, um sich in die Segmente hineinbegeben zu können, mit denen sich noch Geld verdienen lässt. „Warum bauen Autokonzerne keine Fahrräder?“, fragte Tim Renner vor vier Jahren – sie sollten sich gefälligst nicht mehr als Blechmonteure verstehen, sondern als Mobilitätsdienstleister. Heute gibt es von Smart ein E-Bike zu kaufen, und sowohl der Kleine aus dem Hause Daimler als auch der Mini aus dem BMW-Stall sind im City-Mietwagengeschäft mit eigenen Angeboten präsent – Mobilität wird geboten, kein Autokauf aufgezwungen. Haben die Autokonzernbosse vielleicht tatsächlich auf Tim Renner gehört, aus dem Schicksal der Musikindustrie für sich die richtigen Schlüsse gezogen? Schön wär’s: Die Mobilitäts-Offensive der Kleinen zielt auf das Erfüllen der EU-Auflagen zur durchschnittlichen CO2-Produktion der Neuwagen eines Konzerns. Je mehr von den kleinen Sparmobilen man als Stadtflitzer in Dienst stellen kann (auch ohne dass die tatsächlich viel fahren), desto üppiger dürfen die Verbrauchsdaten der Dickschiffe aus der Konzern-Produktion sein.

Ach ja: Eine Lehre hat die Pionierbranche Musikindustrie noch parat: Das langsame, beharrliche Aufbauen von Talenten zahlt sich nicht mehr aus, Neueinsteiger müssen schneller und schriller daherkommen. Wohl kein Zufall ist es, dass die Flutwelle der Castingshows just in dem Moment anschwoll, als das Internet die alten Geschäftsmodelle der Plattenindustrie zertrümmerte. Jetzt können wir jedes Jahr einen Superstar und ein Supertalent und eine Popstars-Band und einen X-Factor-Sieger und einen Grand-Prix-Teilnehmer küren, in der Hoffnung dass uns auch in Deutschland eines Tages nicht nur ein Küblböck oder Medlock, sondern eine Lady Gaga oder ein Spy aus dem Fernseher entgegenspringt. Hm. So etwas wie Gangnam Style als die Hoffnung der Branche? Vielleicht war das System mit den Platten doch gar nicht so schlecht…

Von Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.