In Ökonomie und Wirtschatsgeografie spielen Standortfaktoren eine zentrale Rolle. Aus welchen Gründen entstehen und entwickeln sich welche Branchen an welchen Stellen? Oder, um mit dem Philosophen Martin Heidegger zu fragen: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“

Für die ersten Jahrhunderttausende der menschlichen Existenz gab es auf solche Standortfragen nur eine Erklärung: den RohstoŽff. Wenn es an Ort X einen RohstoffŽ gab, den es anderswo so nicht gab, dann konnte dort eine Siedlung oder gar eine Stadt entstehen. Die ältesten Belege dafür finden sich, natürlich, in Afrika. Im kenianischen Olorgesailie, unweit der heutigen Hauptstadt Nairobi, liegt die am längsten genutzte Werkstatt der Menschheitsgeschichte. Knapp eine Million Jahre lang wurden dort Faustkeile hergestellt, bevor die Produktionsstätte vor rund 200 000 Jahren aufgegeben wurde. Auch die ältesten Minen der Welt liegen in Afrika, nämlich in den Bomvu-Bergen im südafrikanischen Swasiland. Bereits vor 40 000 Jahren wurde dort roter und gelber Ocker für die Körperbemalung abgebaut. Je nach Wichtigkeit und Seltenheit des entsprechenden RohstoŽffs konnten daraus mehr oder weniger bedeutende Stätten oder Städte werden.

So auch bei einer der wichtigsten Kultstätten im alten Europa – in Stonehenge. Denn schon Jahrtausende vor der Errichtung des ersten Steinkreises verfügte der Platz über einen entscheidenden Standortfaktor: eine eisfreie Quelle. Das Wasser von Blick Mead, keine Meile von Stonehenge entfernt, ist das ganze Jahr über elf Grad warm; und war damit jeden Winter Attraktion für die gesamte Tierwelt Südenglands, und damit ein erstklassiges Jagdrevier für Frühmenschen.

So wertvoll diese RohstoŽ -Standorte auch gewesen sein mögen – es gibt dort längst keine žflorierenden Städte mehr. Ganz im Gegenteil zeichnen sich viele der heute bedeutendsten Städte durch eine weitgehende Abwesenheit von RohstoŽffen aus. Was hat Hamburg, was hat Berlin, was hat München, das man dort ab- oder anbauen könnte? Drei Antworten aus der Gründungsgeschichte: ein Hafen an der Elbe, eine Insel in der Spree, eine Furt in der Isar. Und alle drei Antworten weisen auf den gleichen Standortfaktor hin: Handel. Es kommt nicht so sehr darauf an, was man hat, und auch nicht so sehr darauf, was man kann, sondern darauf, dass man bewegt.

„Bruchpunkte des Verkehrs“ nennen die Wirtschaftsgeographen solche Standorte, an denen Waren umgeschlagen werden – in der Regel von einem Verkehrsmittel aufs andere. Das gibt die Gelegenheit, zu kaufen und zu verkaufen, Informationen und Emotionen auszutauschen, und sich auch immer wieder auf neue ökonomische Situationen einstellen zu können. Wenn die Silberminen des Erzgebirges kein Silber mehr hergeben, ist Schicht im Schacht; aber die Silberkaužfleute in Hamburg können mit Silber aus anderen Regionen weiter handeln, oder auf Gold, Kaffee, Rosen oder Containerschifffahrt umsteigen.

Und auch die Industrie hat sich in vielen Fällen von den Standorten der Rohstoffen wegverlagert. Denn bei den meisten Produkten gibt es nicht nur ein Vorprodukt, sondern viele, also muss jeweils der Ort gefunden werden, an dem sie am besten zusammenkommen. Das war schon bei einem der frühesten Industriezweige in Europa so: der Türkischrot-Färberei, bei der ab Mitte des 18. Jahrhunderts in mehr als einem Dutzend Produktionsschritten leuchtend rote, licht- und waschechte Textilien hergestellt wurden. Denn dafür brauchte man nicht nur StoŽffe, sondern unter anderem auch ranziges Öl, Schafmist, Rinderblut – und vor allem viel Erfahrung.

Je komplexer die Produktion in Werkstätten und Fabrikhallen wird, desto wichtiger wird als Standortfaktor das Vorhandensein der dafür benötigten Fachkräfte. Davon werden auch die Arbeitgeber des 21. Jahrhunderts noch so manches Lied singen können.