Wie tief lassen Sie Technik in sich hinein? Bis ins Blut? Unter die Haut? Ins Auge? Ins Gehirn? Ungern, vermutlich. Wir haben kein Problem damit, Technik nahe an uns herankommen zu lassen: in Brillen, Smartphones, Geräten aller Art. Direkt auf unserem Körper, mit Hautkontakt wie bei einer Smartwatch, wird das schon schwieriger – aber IN unserem Körper akzeptieren wir allenfalls Medizintechnik wie Herzschrittmacher oder künstliche Gelenke.
Oder eben einen Knopf im Ohr. Denn das Ohr ist nicht nur als Sitz eines unserer fünf Sinne sehr direkt mit dem Gehirn verbunden; es ist zudem ein Körperteil, der schon seit ewigen Zeiten mit Fremdkörpern zusammengebracht wird: mit Ohrringen und Kopfhörern, mit Ohrsteckern und Hörgeräten. Mode, Technik, Kommunikation, Medizin, alles ist unserem Ohr schon vertraut – das macht es zu einem idealen Einsatzgebiet für Technologien, die auf neue Art mit dem Körper interagieren. Von allen Wearables dürften deshalb die Earables die größte Zukunft haben: technische Geräte, die wir am oder im Ohr tragen können, als Schmuck, Hilfsmittel oder Werkzeug.
Klar, Hightech im Ohr gibt’s schon – Hörgeräte nämlich. Es gibt sie am und im Ohr, vor und hinter dem Trommelfell, (fast) unsichtbar oder als designtes Fashion-Statement. Sie können als Implantat in der Hörschnecke oder im Schädelknochen eingebaut werden und sie können den Hörnerv aktivieren und inzwischen auch direkt den Hörkern im Hirnstamm. Kein wie auch immer smartes Phone und keine Watch kommt auch nur annähernd so ans Hirn heran wie ein solches Earable.
Noch gelten Hörgeräte und Implantate als Hilfsmittel für Hörgeschädigte. Kopfhörer sind cool, vor allem wenn sie von Beats sind. Hörgeräte sind uncool. Aber so schwarz-weiß wird die Zeichnung nicht bleiben. Allein schon die zunehmende Alterung der Gesellschaft sorgt dafür, dass immer mehr Menschen eine Hörhilfe brauchen werden. Und sie werden sie lieber tragen, wenn das cool ist: wenn der Knopf im Ohr nicht das Zeichen einer Behinderung, sondern einer Bereicherung der Sinne ist. Diese Bereicherung kann sogar über die uns bislang zur Verfügung stehenden fünf Sinne hinausgehen. Wäre es nicht sinnvoll, einen sechsten, siebten, achten Sinn zu haben – zur Wahrnehmung von Radioaktivität, zur Erinnerung an Träume, zum Lesen von Gedanken? Oder eine Seh-Hör-Kombination wie das Radar, um sich nachts so gut orientieren zu können wie Fledermäuse? Zu viel Science-Fiction? Dann gehen wir zurück zu etwas, was einige Menschen bereits beherrschen, die meisten allerdings nicht: Warum sollte nicht jeder Mensch auf der Welt das absolute Gehör haben?
Die Höhe eines beliebigen Tons exakt bestimmen zu können, ohne dafür auf Referenztöne angewiesen zu sein, ist eine teilweise angeborene, teilweise erlernte Fähigkeit bei Menschen. Sowohl mit genetischen Maßnahmen (eine Anlage für das absolute Gehör liegt auf Chromosom 8) als auch mit neurologischen Methoden (der Temporallappen der linken Gehirnhälfte zeigt bei absolut Hörenden eine besondere Aktivität) könnte eine größere Zahl von Menschen diese Eigenschaft erwerben.
Der Einsatz solcher Techniken, mit denen sich der eigene Körper oder dessen Fähigkeiten manipulieren lassen, wird immer häufiger akzeptiert, wenn auch oft mit mildem Schauern. Wo der unmittelbare Nutzen für den einzelnen Betroffenen als groß eingestuft wird, werden verfügbare Techniken auch genutzt werden.
Was die Menschen allerdings mit einem absoluten oder einem Fledermaus-Gehör anstellen sollen – das wird ihnen so schnell keine Technologie erklären; das werden sie schon für sich selbst herausbekommen müssen.

 

Text: Detlef Gürtler