Was war das für ein Aufschrei, damals 1980, als Bayern-Fußballstar Paul Breitner das Selbstverständliche sagte: Spieler sollten frühzeitig lernen, foul zu spielen. Er meinte es gut – wer weiß, wie man richtig foult, macht das ordentlich, möglichst ohne den Gegner zu verletzen. Aber es kam nicht gut an: Wofür sind denn die Regeln überhaupt da, wenn schon im Training geübt werden soll, wie man am besten gegen sie verstößt?
Ein klassisches Dilemma, wie wir es nicht nur aus dem Sport kennen, sondern von allen Lebensbereichen, in denen es um Höchstleistungen geht – und wo ginge es nicht darum? Um das Optimum zu erreichen, muss man an die Grenzen gehen; und wenn man die Grenze überschreitet, erreicht man eben noch ein bisschen mehr. Das nennt sich dann Foul oder Doping, Bilanzmanipulation oder Insidertrading, Spionage oder Korruption, Plagiat oder Gammelfleisch.
Und in allen Lebensbereichen ist auch der Ablauf ähnlich. Irgendeiner streckt den kleinen Finger über die Grenze des Erlaubten und wenn das nicht geahndet wird, dann als Nächstes die ganze Hand, und dann den Kopf und Schritt für Schritt immer weiter und alle anderen kommen hinterher, und wer sich weiterhin an die offiziellen Regeln halten will, kann eigentlich gleich seine Karriere beenden. Das war Ende der 90er Jahre bei den Radprofis so, und 2006/07 bei US-Investmentbanken und Rating- Agenturen – und wenn im Laufe eines Jahrzehnts in einer einzigen spanischen Stadt, nämlich Marbella, 30.000 illegale Wohnungen gebaut werden können, müssen auch dort alle Sicherungen durchgebrannt sein. Oder bewusst abgeschraubt.
Wo ist die Grenze? Nicht immer beim Buchstaben des Gesetzes und oft auch bewusst unscharf. Nicht jedes Foul wird beim Fußball mit Platzverweis bestraft, beim Autofahren unter Alkohol gibt es bis 0,49 Promille einen Ermessensspielraum für Polizei und Gericht, bei der Bilanzierung ein paar Grauzonen für Unternehmen – und überall die Gefahr der komplizenhaften Feststellung: Wo kein Kläger, da kein Richter.
Bis es einer übertreibt. Wie Lance Armstrong. Oder einem der Kragen platzt – wie Cicero. Der römische Politiker und Philosoph im Jahrhundert vor Christi Geburt war zwar auch nicht immer zimperlich, wenn es um seine persönliche Profitmehrung ging, aber so rücksichtslos wie Verres, Roms Statthalter in Sizilien, sollte kein römischer Repräsentant sich benehmen. Ciceros Reden im Prozess gegen Verres’ Amtsführung trugen 70 v. Chr. dazu bei, die Patrizier-Parasiten wieder zu mehr Regelbewusstsein zurückzubringen: Wenn schon Schätze rauben, dann bitte nicht aus den lokalen Tempeln, und bei der willkürlichen Ermordung von Untertanen gefälligst vorher sicher gehen, dass es sich bei den Opfern nicht um römische Bürger handelt.
Eine neue politische oder ökonomische Moral konnte Cicero damit allerdings nicht durchsetzen – nur ein „Lass dich nicht erwischen“. (So wie es ja auch heute noch bei vielen Großaufträgen und im Rüstungsgeschäft üblich sein soll.) Ihm selbst sollte das im Jahr 43 v. Chr. zum Verhängnis werden: In den Unruhen nach der Ermordung Cäsars griffen die neuen Mächtigen auf ein bürgerkriegserprobtes Mittel zurück – Todeslisten. Die wurden ordentlich abgearbeitet; Ciceros Name stand ganz oben.
Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.