Es ist noch gar nicht so lange her, da wäre es den Menschen undenkbar erschienen, dass man sich in seiner freien Zeit körperlich anstrengt. Da ja die Arbeit bis weit ins Industriezeitalter hinein für fast alle mit hoher körperlicher Anstrengung verbunden war, war es geradezu das zentrale Kennzeichen der freien Zeit, frei von solchen Anstrengungen zu sein. Essen, Trinken, Ruhen, das waren die wichtigsten Freizeitbeschäftigungen. Sport war so abwegig, dass es nicht einmal einen Begriff dafür gab – erst 1887 taucht das Wort im Duden auf.
Im 20. Jahrhundert nahm die freie Zeit zu und die körperliche Beanspruchung bei der Arbeit ab. Entsprechend verfiel der Wert des trainierten Körpers – und die Körper verfielen gleich mit. Essen, Trinken, Ruhen (plus Fernsehen) blieben freizeitbestimmend, die auf der Fresswelle schwimmenden Bürger verfetteten zusehends. Noch eine ganze Generation lang blieb der Sport eine Randerscheinung. Ab 1959 versuchte die DDR gegenzusteuern («Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport», propagierte Walter Ulbricht), ab 1970 auch die BRD mit der Trimm-dich-Bewegung. Die Gründungswelle der Fitness-Studios, plus periodisch grassierende Aerobic-, Yoga- oder Body-Kulte haben die körperliche Ertüchtigung, das Training, zum Wert an sich gemacht, ganz ohne mit irgendeiner Arbeitstätigkeit verbunden zu sein.
Eine ähnliche Entwicklung wie unserem Körper könnte in den nächsten Jahrzehnten unserem Geist bevorstehen. Denn im 21. Jahrhundert nimmt nicht nur die freie Zeit weiter zu, sondern es wird auch die Beanspruchung unseres Gehirns abnehmen. Denn eine geistig herausfordernde Arbeit nach der anderen werden uns Roboter und künstliche Intelligenzen abnehmen. Auffallen wird uns das vor allem, wenn die für viele Menschen anspruchsvollste geistige Tätigkeit wegfällt: das Autofahren. Nirgends sonst müssen wir innerhalb vergleichbar kurzer Zeit eine Vielzahl an Sinneseindrücken koordinieren, interpretieren und in Handlung umsetzen – und nicht mehr lang, und Assistenzsysteme und Autopiloten nehmen uns diese Aufgabe fast völlig ab.
Und was machen wir dann mit unserem Gehirn? Nutzen wir es für völlig neue Herausforderungen? Oder finden wir uns damit ab, dass wir weniger zu denken haben, und lassen unsere Köpfe so verflachen wie einst die Körper unserer Vorfahren verfetteten? Wenn die Geschichte sich wiederholt, wenn also unser Verhältnis zum Geist sich auf eine ähnliche Reise begeben sollte wie unser Verhältnis zum Körper, müssen wir uns erst einmal auf eine gewaltige Quatsch-Welle einstellen. Die Gehirne werden weiter mit Daten und Kontexten gefüllt, die sie gar nicht mehr brauchen, die Menschen werden dümmer und haben Spaß dabei. (Sie meinen, wir seien schon mitten in einer solchen Quatsch-Welle drin? Ich meine: You ain’t seen nothing yet…)
Aber dann. Dann wird das Gehirn wieder trendy, und überall entstehen Brain-Fitnessstudios, die die geistige Verfettung vermeiden. Die geistige Ertüchtigung, das «Brainieren», wird zum Wert an sich gemacht, ganz ohne mit irgendeiner Arbeitstätigkeit verbunden zu sein. Da kann dann der Brainierer im Simulator wie in der guten alten Zeit Auto fahren – nur ohne dabei wie in der schlechten alten Zeit Menschen zu gefährden und die Umwelt zu verpesten. Gerne als Multiplayer-Game (früher Straßenverkehr genannt) oder mit Zusatzmodulen für Drogenkonsum oder Verfolgungsjagd. Oder man darf als Privatdetektiv ein gerade (virtuell) geschehenes Verbrechen aufklären, wie einst in Kriminalromanen, und brainiert damit logisches Denken und Kombinationsgabe. Eine schöne neue Welt, die da auf uns wartet; oder vielleicht doch eher auf unsere Enkel.

 

Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.