Mag ja sein, dass man getrost nach Hause tragen kann, was man Schwarz auf Weiß besitzt (diesen Text zum Beispiel); aber was man in Bild und Ton erlebt, hat weit bessere Chancen, sich ins Gedächtnis einzugraben. Denken Sie nur an das „Hör, sie spielen unser Lied“, das auch in Ehren ergraute Paare noch einmal in Erinnerungen schwelgend auf die Tanzfläche zieht – wer würde jemals sagen: „Lies, sie drucken unseren Text?“
Doch nicht nur Paare haben „ihr“ Lied, „ihr“ Bild, „ihren“ Film – auch Städten, Ländern, Epochen geht es so. Wohl auf alle Ewigkeit sind die Zustände im Rom der ersten Jahrzehnte nach Christi Kreuzigung in unserer Erinnerung mit dem Monumentalfilm „Quo vadis?“ von 1951 verbunden – und Cäsarenwahn mit Peter Ustinovs Nero-Darstellung. Und einer hektisch-hässlichen Hafenstadt in Marokko werden auf ziemlich ewig Touristenströme und -Dinare sicher sein, die jenes echte „Rick’s Café“ suchen, das es in Casablanca nie gab (unter anderem, weil der Film 1942 gar nicht in Casablanca, sondern in Hollywood gedreht worden war). Sie wären allesamt historisch wie touristisch besser in Tanger aufgehoben, aber Humphrey Bogart ist einfach stärker.
Natürlich sind solche Film-Bilder nicht „wahr“. Aber Wahrheit ist ohnehin ein sehr hoher Anspruch an Bilder, ob bewegt oder still – und das nicht erst seit Erfindung von Photoshop und Bluebox: Kein Dokumentarfilm kommt ohne Inszenierungen aus und bei den faszinierenden Tierfilmen unserer Jugend fragen wir auch besser nicht nach, wie die spektakulärsten Aufnahmen tatsächlich entstanden sind. Wie hieß doch gleich einer der ersten großen Tierfilmer, der 1953 für „Die Wüste lebt“ sogar einen Oscar erhielt? Genau: Walt Disney.
Manchmal sind sich die Macher solcher starken Bilder der Macht bewusst, die sie haben. Steven Spielberg etwa, der schon ein Weltstar war, als er sich 1993 entschloss, dem Holocaust ein Bild zu geben. Wenn in nicht allzu ferner Zeit auch die letzten Zeitzeugen der Nazi-Diktatur gestorben sein werden, wird die Last, vom damaligen Grauen zu erzählen, fast ausschließlich auf den Schultern von „Schindlers Liste“ liegen. Mit der (tröstlichen, aber umstrittenen) Botschaft, dass es ein richtiges Leben im falschen geben kann.
Und manchmal, nur manchmal, schafft es ein Film sogar, das wahre Leben zu verändern. So wie, genau, in Hamburg. Denn das Tor zur Welt ist wohl die einzige Metropole weltweit, deren Bild im In- und Ausland von ihrem Rotlichtviertel geprägt wird. Von der Reeperbahn eben. „Große Freiheit Nummer Sieben“ heißt der Film und „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ das Lied, das für Hamburg steht wie nichts anderes. Nix Hanse, nix Alster, nix Hafen, nix Ohnsorg-Theater: Der Inbegriff von Hamburg ist „mein St. Pauli, St. Pauli bei Nacht“.
Rein ökonomisch und urbanistisch hätte die Stadt längst das Rotlichtviertel plattmachen, längst die Schmuddelecken ausfegen können: Die Seeleute hängen ja nicht mehr, wie früher, tage- oder wochenlang im Hafenviertel herum, bis ihr Schiff ent- und wieder beladen ist, und das bisschen verbleibende Sünde hätte gut und gerne noch mit ins Bahnhofsviertel von St. Georg gepasst. Aber das ging nun mal nicht – weil im Jahr 1945 dieser Film von Helmut Käutner in die Kinos kam. Mit Hans Albers, La Paloma und der Reeperbahn nachts um halb eins. So muss die nüchterne Hansestadt Hamburg wohl dauerhaft damit leben, vor aller Welt als Sündenpfuhl dazustehen. Was Traumfabriken so alles produzieren können.
Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.