Jede Stadt hat ein Zentrum. Und jedes Zentrum hat eine Mitte. Was nicht so sehr geografisch oder gar geometrisch definiert ist, sondern von den Bewohnern selbst definiert wird: Mitte ist das, was die Leute für Mitte halten. Was im Lauf der Jahrtausende immer wieder einmal anders definiert wurde. Mitte, das war beziehungsweise ist der Platz für Regentänze und Gottesdienste, für Rathäuser und Revolutionen, zum Schauen und natürlich zum Shoppen.

In den vergangenen einhundert Jahren war das, erstmals in der Weltgeschichte, vielerorts ein privates Gebäude: das große Kaufhaus. Die KaDeWe‘s, Macy‘s und Alsterhäuser der Metropolen wurden an den Knotenpunkten des öffentlichen Nahverkehrs errichtet – wo Gedränge, da Gepränge. Der Konsumtempel beanspruchte die Position in der Mitte, die in den früheren Epochen stets der „echte“ Tempel einnahm. Und seine Architektur war sichtbarer Ausdruck dieses Selbstbewusstseins der Shopping-Kultur.

Das ändert sich gerade wieder. Architektonisch schon seit einigen Jahrzehnten: Die Einkaufszentren glänzen nicht mehr nach außen, sondern allenfalls nach innen, das Gepränge tritt hinter die betriebswirtschaftliche Optimierung zurück. Und jetzt geht es auch an die ökonomische Substanz: Das Internet hat den einst so selbstbewussten Platzhirschen den Rang streitig gemacht. Wurde man früher auf die Frage „Wo bekommt man…?“ von den Einheimischen grundsätzlich ins Alsterhaus geschickt, wird man heute zuerst einmal an Amazon verwiesen – wenn man überhaupt noch die Frage stellt und nicht gleich „googelt“.

Was wird die nächste Mitte? Nach dem derzeitigen Stand der Stadtentwicklungen etwas, was man früher den Marktplatz genannt hätte – und heute Shopping Mall nennt. Viele Geschäfte in allen Größen, mit all dem, was die Bewohner so brauchen, ob Pfirsich oder Prada. „Shopping ‘s coming home“, wirbt die neue „Mall of Berlin“ für sich; hat aber nicht etwa eine Neuauflage des protzig-ehrwürdigen Wertheim-Warenhauses errichtet, das einst dort stand, sondern eine Adaptation der Shopping-Parks, die sonst eher in Dubai verortet sind.

Aber auch dabei wird es wohl nicht bleiben. In der Weltgeschichte war der Marktplatz fast immer mit sozialen Funktionen verknüpft – und ist es im typischen Kleinstadt-Design immer noch, wo Kirche, Rathaus und Theater die Ränder des Marktplatzes zieren. Ohne Events, ohne zusätzliche Funktionen wird sich das Shopping in der City kaum gegen die Onlinekonkurrenz behaupten können. Eine der möglichen Weiterentwicklungen des Marktplatz-Konzepts orientiert sich an der Tradition der alten Griechen – der Agora. Das war der Platz, an dem nicht nur Waren ausgetauscht wurden, sondern auch Meinungen: die kommunikative Mitte der Stadt.

Diese Zentralfunktion ist im 20. Jahrhundert verkümmert. Debatten fanden in Medien, Parlamenten, Versammlungshäusern statt, die zentralen Plätze wurden nicht mehr für den Austausch, sondern für die Inszenierung von Meinungen genutzt, von Montagsdemo bis Militärparade. Je mehr sich die Menschen in ihren Filter-Bubbles einrichten, desto wichtiger würde es für die Gesellschaft, den Austausch, die Kommunikation, den Brückenbau zu pflegen – und was wäre dafür besser geeignet als eine Stadtmitte. Als „Speaker‘s Corner“ im Alsterhaus, als Debating Club nach Ladenschluss oder als etwas ganz anderes: Als Agora hat das Zentrum wieder Zukunft.

Apropos, ganz was anderes. Die kühnste Antwort aller Zeiten auf die Frage nach der nächsten Mitte gab übrigens der französische König Ludwig XIV. Beim Bau von Schloss Versailles setzte er an den zentralen Punkt des Gebäudes nicht etwa den Thronsaal und auch nicht die Schlosskapelle – sondern sein Schlafzimmer.

Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.