Lassen Sie mich zum Thema Hamburg und Mobilität Ihnen ein Buch zur Kenntnis bringen (und insbesondere eine Erkenntnis daraus), das in engster Form mit diesem Thema verbunden ist – obwohl der Titel ganz etwas anders vermuten lassen würde. Denn es heisst „überall ist Babylon“. Was ich natürlich niemals mit Hamburg verbinden würde (das mit dem Sündenbabel ist ja nun wirklich schon lange nicht mehr) –, wenn nicht der Autor dieses nunmehr auch schon fünf Jahrzehnte alten Buches mich vor zweieinhalb Jahrzehnten nach Hamburg gelockt hätte: Wolf Schneider. Damals Leiter der damals besten Journalistenschule Deutschlands, des damals besten deutschen Verlages Gruner + Jahr.
Lassen Sie uns also bei der Vergangenheit bleiben und eben jener einen Erkenntnis, die ich zuvorderst aus der Lektüre dieses Buches mitgenommen habe: Von Anfang der Weltgeschichte bis heute waren Städte immer so groß, dass man mit dem jeweils gebräuchlichen Verkehrsmittel eine halbe Stunde von ihrem Rand bis ins Zentrum brauchte.
Immer. Nehmen Sie Babylon, nehmen Sie Rom, nehmen Sie Jerusalem einst und Jerusalem heute, ziehen Sie einen Kreis um den Rathausmarkt oder um die Wall Street oder um Picadilly Circus – genauer gesagt, keinen Kreis, sondern Punkte gleicher zeitlicher Entfernung, im Fachjargon „Isochronen“. Schauen sie wie weit man mit der U- oder S-Bahn in einer halben Stunde kommt, und vergleichen Sie das mit der Grenze des Ballungsraums. Es passt. Sie verstehen sofort, warum die Städte in Europa in der Industriellen Revolution so explosionsartig gewachsen sind: weil die Stadtgrenze nicht mehr von der Kutsche, sondern von der Eisenbahn gezogen wurde. Sie verstehen endlich, warum es im antiken Rom so irrsinnig hoch gebaute Mietskasernen gab: weil nur so der Zustrom der vielen Menschen innerhalb der drei Kilometer Radius aufgefangen werden konnte, die man zu Fuß in einer halben Stunde laufen kann. Sie verstehen, warum Harburg und Bergedorf so standhaft und leidlich erfolgreich eine eigenständige Stadtstruktur erhalten können wie auch Spandau und Köpenick im Verhältnis zu Berlin. Die halbe Stunde ist daran schuld. Wenn’s länger dauert, haben die Städter schlicht keine Lust mehr und das heute wie vor 2500 Jahren. Und Sie verstehen vermutlich auch den Slogan von der „wachsenden Stadt“ jetzt besser. Wenn man die Verkehrsverbindungen aus der Innenstadt an den Stadtrand nicht verbessern beziehungsweise beschleunigen kann, kann man das weitere Wachstum des Ballungsraums gar nicht dadurch fördern, dass man die Randbezirke erschließt. Denn dort hört die Stadt faktisch auf, und je mehr man im Berufsverkehr im Stau steht, desto früher endet da draußen auch das Stadtgebiet – also muss im Stadtgebiet selbst neues Potenzial erschlossen werden oder das Wachstum findet eben woanders statt.
Und jetzt verstehen Sie auch, warum es nie dazu kommen durfte, dass zwischen Berlin und Hamburg der Transrapid fährt. Mit der guten halben Stunde, die er von der einen zur anderen City gebraucht hätte, hätte er glatt dazu führen können, dass aus diesen beiden Städten eine irgendwie gemeinsame Metropole entstanden wäre: Jede mit ihrem eigenen Umland, aber beide Innenstädte miteinander zu einer einzigen Innenstadt verbandelt – schon der Gedanke daran verschwurbelt einem das Hirn.
Und Wolf Schneider, dessen so knapp formulierte Einsicht uns hier diese Erkenntnis bescherte? Der lebt heute, hoch betagt und topfit, in Starnberg. Das liegt, klar, bei München, aber es gehört, ebenso klar, nicht zur Stadt München dazu. Und wie lange braucht man von Starnberg mit der S-Bahn bis zum Hauptbahnhof? Genau 35 Minuten. Sehen Sie: Es passt immer.
Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.