Wer wüsste besser, welche Wege aus einer Krise herausführen, als diejenigen, die immer und immer wieder in Krisen hineinkommen? Also schauen wir doch mal nach – Brüssel. Seit Jahrzehnten kann man jederzeit auf „die aktuelle Krise in Europa“ verweisen, und dafür auf Zustimmung stoßen; irgendwas ist ja immer. Aber dafür, dass sie so ein hoffnungsloser Fall ist, ist die EU ganz schön weit gekommen, oder? Und das wohl nicht trotz der ständigen Krisen, sondern wegen ihnen.
Das System hinter dem Chaos wurde entwickelt von dem französischen Unternehmer Jean Monnet, einem der Wegbereiter des EU-Vorläufers Montanunion. Die Krise war für ihn nicht Bremse, sondern Motor der Entwicklung: „Europa wird in Krisen geschmiedet werden, und es wird die Summe der zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein.“ Denn jede dieser Lösungen führe zu einer weiteren Integration der europäischen Staaten, aus der wiederum neue Probleme entstünden, und damit neue, zu lösende Krisen.
Das wichtigste Instrument in dieser Schmiede, sozusagen Monnets Hammer, ist der Krisengipfel. Wenn nationale Egoismen die Europäische Union mal wieder in eine Sackgasse geführt haben, fahren unter heftigem Mediengetöse dunkle Staatskarossen im Dutzend in Brüssel vor, deren Insassen kommen hoch konzentriert und gerüstet zu einem Arbeitsessen zusammen, tagen danach die ganze Nacht, ach, das ganze Wochenende hindurch und flicken sich dann in letzter Minute eine Einigung zusammen, die nicht nur aus der Sackgasse wieder hinausführt, sondern auch einen neuen Weg für den Kontinent bahnen kann. Und vor der Presse des eigenen Landes kann sich dann jeder Teilnehmer rechtschaffen übernächtigt zeigen und als Gewinner posieren.
„Im Rahmen der europäischen Integration wurde mit jeder, wie auch immer gearteten Krise stets die Hoffnung verbunden, einen Ausweg aus einer temporär chaotischen Lage zu finden“, resümierte der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Santer das erste halbe Jahrhundert Monnet-Methode. „Krisen haben den europäischen Integrationsprozess auch immer eine gewisse Zeit gelähmt. Sie haben jedoch nie diesen Prozess komplett stoppen können, da sie stets als Chance zur ‘Katharsis’, zur Läuterung und zur Wiederankurbelung der europäischen Einigungsbestrebungen betrachtet wurden.“
Und wer ist der Schmied, der von Krise zu Krise den europäischen Stahl härtet? Eine der unterschätztesten, unverstandensten Gruppen im politischen Spiel: die Eurokraten. Statt über Gurkenkrümmungen zu entscheiden, arbeiten die Spitzenbeamten der europäischen Institutionen sowie die eng mit ihnen verbundenen Europa-Experten in den nationalen Regierungen nämlich lieber an Schritten auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa. Sie haben allerdings keine Chance, diese Schritte selbst zu beschließen – das können nur die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. Diese wiederum haben kein besonderes Interesse an einer Weiterentwicklung Europas, schließlich werden sie nicht von den Europäern, sondern von den Bürgern ihres Staates gewählt. Nur wenn all diese Entscheider zusammen an einem Abgrund ankommen und einen Blick in die Tiefe werfen, in die sie sich und ihre Wähler stürzen würden, wenn sie weitermachen wie bisher, werden sie einem jener Schritte zustimmen, die Europa voranbringen.
„Der Mensch akzeptiert die Veränderungen nur unter dem Druck der Notwendigkeit“, sagte Monnet – und so kam es, dass in der EU Krisenzustände in Serie produziert werden. Chaotisieren für Europa.

 

Text: Detlef Gürtler