„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, sang Wolf Biermann in der deutschen Wendezeit vor 30 Jahren. Er meinte die Menschen, und er meinte das Land. Aber das gilt auch für Unternehmen. Vielleicht sogar: gerade für Unternehmen.
Natürlich gibt es die große Verlockung, auch morgen genau das weiterzumachen, womit man heute erfolgreich ist. Es gibt ja auch Fälle, in denen das sehr gut und sehr lange funktioniert. Der Weltrekord steht, und das wohl noch ziemlich lange, bei 1428 Jahren. So lange gab es nämlich den japanischen Tempelbaubetrieb Kongo Gumi, bevor er im Januar 2006 liquidiert wurde. Vielleicht hatte sich ja die Bauqualität japanischer Tempel im 20. Jahrhundert so verbessert, dass sie einfach viel seltener repariert werden mussten als früher. Aber auch in Deutschlands ältesten Unternehmen spielt oft ein religiöses Element mit – einige von ihnen starteten nämlich vor etwa tausend Jahren als Kloster-Brauereien. Getrunken, gebetet und gestorben wird halt immer.
In allen anderen Gewerken muss man sich hingegen schon deshalb immer wieder etwas Neues einfallen lassen, weil sich die Welt um einen herum ständig verändert. Mal hat die Veränderung nur zwei Buchstaben, wie AI, mal 34, wie Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz. Und in den allermeisten Fällen sind es solche Veränderungen, die zu neuen Produkten oder Services führen. Den löslichen Kaffee beispielsweise verdanken wir einer Kaffee-Rekordernte in Brasilien im Jahr 1930: Überangebot und Weltwirtschaftskrise zusammen führten zu einem totalen Zusammenbruch des Kaffeepreises. Daraufhin fragte die Regierung bei Nestlé nach, ob es einen Weg geben könnte, überschüssige Kaffeemengen haltbar zu machen. 1938 kam das Forschungsergebnis als Nescafé auf den Markt.
Nur den wenigsten ist es vergönnt, durch einen neuen Gedanken den Lauf der Welt tatsächlich zu verändern. Und wo es doch gelingt, kann der eigentliche Initiator oft nur zuschauen, wie andere davon profitieren. Richard Trevithick war so einer: 1802 baute er seine erste Lokomotive, 1808 ließ er in London ein verbessertes Modell als „Dampf-Zirkus“ auf Schienen im Kreis herumfahren, für einen Schilling pro Runde. 1811 machte er Bankrott, 1833 starb er völlig verarmt – als George Stephenson gerade damit begonnen hatte, für die Erfindung der Eisenbahn Ruhm und Reichtum zu ernten.
Auch die Forschungsarbeiten des russischen Klimatologen Aleksandr Voeikov erwiesen sich erst Jahrzehnte nach seinem Tod 1916 als bahnbrechend. Er hatte es auf den Aralsee abgesehen, damals der viertgrößte See der Welt. Das ganze Gewässer war für ihn nicht mehr als ein “nutzloser Verdunster” und ein “Irrtum der Natur” – mit all dem Wasser könne man doch etwas Besseres anstellen. Ab 1960 war es dann so weit: Großangelegte Bewässerungsprojekte verschafften der Sowjetunion eine stattliche Baumwollindustrie, und der See ist seither so gut verschwunden.
Wenn so etwas beim neuen Denken herauskommt, wäre es dann nicht doch besser, es zu lassen? Nicht in jedem Fall – sonst leidet man nämlich an Atychiphobie, der krankhaften Angst davor, Fehler zu machen. Sie führt allerdings nicht dazu, dass die Betroffenen besonders sorgfältig arbeiten, sondern dazu, dass sie überhaupt nichts mehr unternehmen, um nur ja nichts falsch zu machen. Die Evolutionsbiologen schicken uns da lieber auf einen Mittelweg: Es liege zwar in der Natur des Menschen, Risiken zu vermeiden – Abwehrmechanismen im Gehirn hindern uns daran, uns in gefährliche Situationen zu begeben. Aber deswegen hat neues Denken immer dann eine Chance, wenn wir mit dem alten nicht weiterkommen. Jetzt zum Beispiel.