Ach ja, die Allgemeinbildung. Über Jahrzehnte, Jahrhunderte, ach! Jahrtausende galt sie als die hohe Schule des Wissens. Sie umfasste all das, was man nicht zu schnöden berufs- oder klausurrelevanten Zwecken brauchte, was Weltläufigkeit, Small-Talk-Eignung und Quizkandidaten-Tauglichkeit signalisierte, sie war eine Art Freischwimmerzeugnis für den Ozean des Wissens – und steht jetzt in der Wikipedia, ist in Sekunden zu googeln. Schwimmflügel für alle!
Wer versteht denn heute noch, wie wichtig gute Schulleistungen sind? Ganz anders damals 1775, als einer der besten Schüler des Pariser Gymnasiums „Louis-Le-Grand“ für König Ludwig XVI. und seine Frau Marie Antoinette im Namen der Schule Glück, Erfolg und ein langes Leben wünschen durfte. Welch eine Ehre für den ausgewählten Schüler, den 17-jährigen Primus Maximilien de Robespierre – er würde sich zeit seines Lebens dieser Ehre würdig erweisen.
Wer versteht denn heute noch, wie wichtig eine gute Schulordnung ist? So wie jene Bestimmung, die für alle Schulen Englands festlegte, dass die Schüler nur Spielzeug mit in die Schule nehmen durften, das in eine Streichholzschachtel passte. Der Entwicklungsleiter der Londoner Firma „Lesney Products“ baute daraufhin im Jahr 1953 für seine Tochter eine kleine grüne Dampfwalze – das erste Matchbox-Auto der Weltgeschichte, Milliarden andere folgten ihm.
Oder was fällt der Bildungspolitik zum Tod der Allgemeinbildung ein? Interessiert sich dafür irgendeiner der Nachfolger von Minna Faßhauer, der ersten Frau, die in Deutschland jemals ein Ministeramt bekleidete? Vom 10. November 1918 bis zum 22. Februar 1919 amtierte sie in der “Sozialistischen Republik Braunschweig” als Bildungsministerin – wetten, dass keiner der heutigen Kultusminister auch nur von ihr gehört hat?!
Wäre Allgemeinbildung Unterrichtsfach, es würde schlechte Noten nur so hageln. Wie so oft, seit 1792 das Bewertungssystem nach Schulnoten erfunden wurde, erstmals verwendet an der Universität Oxford von dem Tutor William Farish für die Bewertung von Aufsätzen.
An den Schulen fehlt jedes historische Verständnis dafür, ganz anders als an der Universität Al-Qarawiyin, der ältesten noch bestehenden Bildungseinrichtung der Welt. 859 wurde sie in der marokkanischen Stadt Fes von Fatima al-Fihri gegründet, der Tochter eines reichen Kaufmanns, die ihr gesamtes Erbe in den Bau einer Moschee mit angeschlossener Koranschule steckte.
Nein, unser Allgemeinwissen liegt eher so in Trümmern wie die älteste indische Universität, Nalanda. Dort studierten schon im 7. Jahrhundert um die 10 000 Studenten – keine einzige Stadt in Mitteleuropa hatte damals so viele Einwohner. Die (buddhistische) Universität wurde im 12. Jahrhundert durch (islamische) Eroberer zerstört, ungefähr so wie unser Ozean des Wissens von Google und Wikipedia trockengelegt wird.
Ein Jammer. Aber so ist das nun mal, wenn eine neue Entwicklung die gesamten Lebens- und Umweltbedingungen ändert. Dann gibt es nur noch jenes Survival of the Fittest, von dem die Evolutionstheorie so unerbittlich predigt. Ach, Sie meinen, um Ihre Allgemeinbildung sei es doch gar nicht so schlecht bestellt, weil Sie noch wissen, wer diese Theorie entwickelt hat?
Na, dann wollen wir doch mal sehen: Eben jener Charles Darwin (1809 – 1882) publizierte in seiner letzten Veröffentlichung überhaupt, im Jahre 1881, noch eine weitere bahnbrechende Erkenntnis, an der er zuvor vier Jahrzehnte lang geforscht hatte. Um welche Erkenntnis handelte es sich?* Sehen Sie? Nichts wissen Sie! Und das soll noch Allgemeinbildung sein? O Tempora! O Mores! (geht weinend ab)

*Charles Darwin war der erste, der erkannte, wie wichtig Regenwürmer für die Bodenbildung sind. Sein Standardwerk hierzu war das 1881 erschienene „Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit von Würmern“, das die Ergebnisse eines 30 Jahre währenden Feld-Experiments enthielt.

 

Text: Detlef Gürtler