Die vielen ungeernteten Äpfel in seinem Garten brachten JAN SCHIERHORN auf eine geniale Idee: das Obst einsammeln, Saft machen, verkaufen und damit Arbeitsplätze für Behinderte schaffen.

Erfolgreich mit Äpfeln: Jan Schierhorns Projektidee „das Geld hängt an den Bäumen“ wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. In diesem Jahr erhielt er zusammen mit seinen Mitstreitern die Auszeichnung „die Verantwortlichen“ der Robert-Bosch-Stiftung.

In der Mitte des Gartens Eden stand der „Baum der Erkenntnis“ – ein Apfelbaum. Dort begann die mythologische Karriere des Apfels mit dem Sündenfall. Später wurde er zum Symbol für das Weltall, Sinnbild weltlicher Macht, der Fruchtbarkeit, Verjüngung. Für den Hamburger Kommunikationswirt Jan Schierhorn stand der Baum der Erkenntnis in einer Ecke seines Gartens in Groß Borstel. An einem Augusttag des Jahres 2008 saß er wieder einmal an seinem Lieblingsplatz unter dem Baum, blickte in das unter der Fülle seiner Früchte gebogene Geäst hinauf und dachte: „Oh Gott, sind das viele Äpfel. Was machen wir damit?“ Das war der Anfang davon, dass der symbolischen Vielfalt des Apfels eine Bedeutung aus unserer Zeit zuwuchs: Arbeitsplätze und Selbstwertgefühl. Zuerst war es ein noch ungenauer Impuls, den er unter dem Apfelbaum von seinem, wie er selbst es nennt, „betriebswirtschaftlichen Herzen“ empfing. In den folgenden Tagen und Wochen fragte er in der Nachbarschaft herum, was andere mit ihren ungeernteten Äpfeln machten. Er unternahm Erkundungstouren mit dem Fahrrad durch die Schrebergärten von Groß Borstel und sah – Äpfel. Eine unfassbare Menge Äpfel, die an den Bäumen der Fäulnis entgegenreiften. Die Idee kam in Form einer nüchternen Feststellung: „Das Geld hängt an den Bäumen.“

„Obst einsammeln, das keiner benötigt. Saft machen, verkaufen, Arbeitsplätze schaffen.“ Die innere Logik dieser Gedankenkette fand ihr Ziel, als Schierhorn den PR-Leiter der Winterhuder Werkstätten für geistig behinderte Menschen, Kai Storm, und den und Landschaftsbaumeister Kai Schlatermund kennenlernte. Und im Spätsommer 2009 rückte zum ersten Mal ein Pflücker-Team Behinderter der Werkstatt aus, um unter der Leitung zweier Gärtnermeister das Geld von den Bäumen zu holen. Auf dem Gelände des Garten- und Landschaftsbaumeisters Schlatermund, dem logistischen Zentrum des Unternehmens, werden die Äpfel zwischengelagert, bis genug beisammen sind, um sie zur Mosterei von Uwe Engelmann nach Fintel zu transportieren. Äpfel aus Privatgärten, die als Spende gegeben wurden. Äpfel aus den Streuobstwiesen im Großraum Hamburg, die das Naturschutzamt Hamburg Schierhorn für den guten Zweck freigegeben hat. Äpfel aus Kirchgärten.

2,45 Euro für eine 0,75 l-Flasche Apfelsaft. Der Erlös fließt vollständig zurück in das Projekt und sichert die Arbeitsplätze der Pflücker. Dann kann man nur sein Glas heben und sagen „Gott sei Dank“. So lautet der eine Produktname des online angebotenen, über einen eigenen Lieferdienst vertriebenen Saftes und verweist dabei ebenso auf seine Herkunft wie der andere Name: „Nachbars Garten“. Der Slogan „schmeckt immer und immer anders“, weist auf die Vielfalt der verarbeiteten, häufig historischen Sorten hin, die hier nicht geschmacklich auf ein industrielles Markenprodukt getrimmt werden. „Finkenwerder Herbstprinz“ und „Weißer Winterglockenapfel“ behalten auch ausgepresst ihre Identität.

Noch ehe der erste Apfel gepflückt war, belohnte die Initiative “Anstiften“ der Körber Stiftung das Projekt bereits mit einem Preis und 10 000 Euro Startkapital. „Als Testauflage war geplant, im ersten Jahr fünfhundert bis eintausend Flaschen Apfelsaft zu produzieren.“ Schierhorn erzählt es in genussvoller Erinnerung, denn am Ende wurden es 9000 Flaschen. Im folgenden Jahr waren es 50 000 Flaschen. Genauso viel erwartet er auch in diesem Jahr, wobei zu den großen 0,75 l-Flaschen erstmals noch 50 000 kleine Viertelliter- Flaschen hinzukommen. Bei einer Kundenbindung von über 90 Prozent ist das kein Risiko.

Inzwischen ist aus dem Projekt eine gemeinnützige GmbH mit drei ehrenamtlichen Gesellschaftern geworden – Schierhorn und Schlatermund und als Dritter im Bunde der Steuerberater Bernd Jarchow, das „geschäftliche Rückgrat“ des Unternehmens. Nach behördlichen Begriffen organisieren sie ein „Berufsbildungsprogramm für Behinderte mit dem Ziel ihrer Integration ins alltägliche Arbeitsleben“. Was das bedeutet, zeigt das Beispiel von Andreas Schuppert, Hartz-IV-Empfänger, Langzeitarbeitsloser. „Keiner hat ihm etwas zugetraut und er selbst sich auch nicht mehr“, erzählt Schierhorn. Heute leitet Schuppert als erster Festangestellter den Vertrieb und ist Schierhorns rechte Hand in der Verwaltung. Zwei Behinderte, die als „unlenkbar“ aus der beschützenden Werkstatt herauszufallen drohten, entwickelten sich im Pflückerteam zu Leistungsträgern.

„Unser Ziel ist, den Behinderten eine Qualifikation für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, so dass sie auch dort eine Anstellung bekommen“, sagt Schierhorn. Ein neues Leben, jenseits der beschützenden Werkstatt. Im September wurden gerade zwei weitere Mitglieder der Werkstatt als Angestellte übernommen. Wertschätzung ist ein Nährstoff der Seele, den Behinderte, wenn überhaupt, nur in therapeutischen Dosen bekommen. über die Arbeit in den Apfelgärten, ihre Beteiligung an der Herstellung eines Produktes, auf das andere Menschen mit Freude und Anerkennung reagieren, wächst ihnen zu, was die meisten von ihnen niemals hatten: Selbstwertgefühl. „Diesen Apfelsaft hast du mit hergestellt? Ist ja toll!“ Auf einem Grillfest der Werkstatt erfuhr Jan Schierhorn von einer Pädagogin, wie tief dieses Gefühl der Anerkennung auch in die Familien hineinwirkt. „Sie sagte, die Familien seien jetzt stolz auf ihre Kinder“, erzählt er. „Als ich das hörte, standen mir die Tränen in den Augen.“

Text: Uwe Prieser
Uwe Prieser ist Schriftsteller und Journalist. Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit dem Egon Erwin Kisch-Preis ausgezeichnet.