Immer mehr Menschen kommen in die Stadt – mit Bus, Bahn oder Auto. Um die Mobilität in der City für die Zukunft zu sichern, braucht die METROPOLE DES NORDENS neue Verkehrskonzepte.

Hamburg rollt. Gleitet, schwebt, bewegt sich – zumindest in den Augen der Verkehrsplaner. Wer im Auto sitzt, auf dem Fahrrad, in der Bahn, im Bus – der sieht die Sache oft anders: Hamburg stockt, holpert, drängelt, verspätet sich oder kommt gar nicht erst an. Wer von Altona oder Blankenese auf die Autobahn nach Lübeck oder Berlin will, der hat bis zum Horner Kreisel ein paarmal ins Lenkrad gebissen vor Wut über das Geschiebe auf den Straßen der Innenstadt, über sinnfrei geschaltete Ampeln und den schrägen Humor der Straßenbauer, die ihre Dauerbaustellen mit viel Geschick so legen, dass aber auch jeder Durchschlupf zum Nadelöhr verengt wird.

Alles übertrieben? Vielleicht. Ein bisschen. Die Kieler Straße stadteinwärts, die Ost-West-Straße, das Berliner Tor: Wer den Zustand des automobilen Nahverkehrs aus eigener Anschauung erleben will, der hat es nicht schwer, eine geeignete Teststrecke dafür zu finden. Von der Sechslingspforte zur Kennedybrücke und zum Dammtor, die Grindelallee hinauf nach Eppendorf oder nach links Richtung Fernsehturm. Sogar Busse bleiben stecken. Wer von Süden durch den Elbtunnel möchte, der kann im Dauerstau erleben, wie sich zwei Wochen Urlaub innerhalb von zwei Stunden in Wohlgefallen auflösen. Wohlgefallen? Na, eher wohl Verzweiflung, Zorn und Stress. War nicht erst am vergangenen Wochenende die halbe Stadt blockiert wegen Hafengeburtstag, City-Marathon, Cyclassics, einer Fahrrad-Demo oder dem Motorrad-Gottesdienst am Michel?

Bitte um Entschuldigung. Der hier schreibt, ist einer, der in einer sehr speziellen Phase der Geschichte mit einer sehr speziellen Vorstellung von urbanem Leben groß geworden ist. Für den es nämlich lange Zeit vollkommen normal schien, dass Städte um das Auto herum gebaut wurden und weiter wachsen: erst der Parkplatz, dann der Spielplatz; die Fahrbahn vierspurig, ein Zebrastreifen für die Fußgänger und kein Radweg; hier die Wohnung, da der Arbeitsplatz und dort die Zentren für Versorgung, Unterhaltung, Gemeinschaft. Alles sauber voneinander getrennt. Neigt diese Epoche sich jetzt ihrem Ende zu? Ist der drohende Verkehrskollaps ihr Menetekel? Wer von Mobilität spricht, der sollte zunächst seine eigenen Lebensgewohnheiten befragen, seine Ansprüche an Platz, Komfort und Tempo, seine Gedankenlosigkeit und seine Faulheit.

Stadtplanung fängt also bei mir selber an. Ich möchte im Grünen leben. Einen Garten haben, Bäume in der Straße und eine grosszügig geschnittene Wohnung. Möchte dort Ruhe genießen. Ich arbeite in der Stadt. Ich genieße und bin angewiesen auf ständigen Austausch mit meinen Kollegen und die Nähe zu Kunden und Lieferanten. Wir besprechen uns in Konferenzen. Ich habe keine Zeit zu verlieren, möchte meine Einkäufe in einem Aufwasch erledigen, aber auch den Stadtbummel genießen, lege Wert auf ein umfang- und abwechslungsreiches Angebot an Waren, Restaurants und Kultur und liebe es, am Wochenende aus dem Fenster zu schauen und spontan ausrufen zu können: Kinder, lasst uns rausfahren!

Hamburg wächst. Die Wirtschaft hat Tritt gefasst, das Steueraufkommen ist ordentlich. Dienstleistungen, Flugzeugindustrie, Schiffbau, Medien, Handel. Die Containerumschläge im Hafen sind gegenüber dem Vorjahr um sieben Prozent gestiegen, die HHLA stellt neue Arbeitskräfte ein und meldet weiteren Bedarf an. Gut für die Stadt, doch in alledem steckt auch eine Herausforderung an Einfallsreichtum und Möglichkeiten der Planer. Wohnraum tut Not und wenn er erschlossen ist, renoviert oder neu gebaut: Wer sorgt für seine Anbindung? Die HafenCity, Wilhelmsburg, Steilshoop, Bramfeld, der Westen, Lurup, der Bereich um die Stadien, Rothenburgsort: Was muss womit verbunden werden? Welche Kapazitäten sind notwendig und welche Investition rechnet sich bei welcher Zahl von Fahrgästen? In einem Konferenzraum des Hanseatischen Ingenieurs Clubs in der City Nord sitzt Ulrich Sieg und fasst zusammen, was er viele Jahre lang als Technischer Vorstand der Hamburger Hochbahn aufbauen, durchsetzen, verteidigen und begründen musste. Seit wenigen Wochen ist der grauhaarige, groß gewachsene Mann im Ruhestand – eine gute Zeit und gute Gelegenheit, um weite Bögen zu spannen und Konzepte zu reflektieren. „Wir haben viel aufzuholen“, fasst er zusammen und verweist auf den Zustand der Straßen, die Köhlbrandbrücke, den Hinterlandverkehr im Hafen. Lebensadern der Stadt. Da ist viel versäumt worden, Jahrzehnte lang. Nun wird es unangenehm. Und teuer.

Sieg ist einer, der auf alte Zeiten auch schimpfen kann. Auf die Bräsigkeit und Larmoyanz so mancher, die Verantwortung trugen und sie nicht wahrgenommen haben, auf Regierungsbündnisse, die mehr mit sich selbst beschäftigt waren als mit Winterfrost, Abnutzung und der rechtzeitigen, vorausschauenden Pflege der Infrastruktur. Jetzt liegen die Quittungen auf dem Tisch, ein ganzer Stapel; die Stadt muss nacharbeiten und saftige Zinsen zahlen. Und die Bürger sind auch noch verärgert darüber, dass plötzlich überall gebaut wird.

Es sind ja nicht die Schlaglöcher und rostigen Brückenpfeiler allein. Immer wieder war der öffentliche Nahverkehr an Grenzen gestoßen, immer wieder musste nachgebessert werden. Neue Bahnen, größere Busse, Korrekturen im Verkehrsnetz. Eine Bushaltestelle vor einer Ampel zum Beispiel, so rechnet der Verkehrsplaner aus langer Erfahrung vor, verursache Störungen im geregelten Ablauf: „Bus hält an, Fahrgäste steigen ein und aus, Bus will weiterfahren – die Ampel springt auf Rot. Während der erste Bus wartet, kommt schon der zweite angefahren; bei der nächsten Ampel sind es drei, es bildet sich ein Pulk.“ Der Ärger wird anschaulich: das Gedränge im vorderen Bus, die Not mit den Fahrplänen. Aber wie schwer ist es, die Haltestelle hinter die Ampel zu verlegen, wenn ringsum Wohnhäuser stehen, wenn Parkplätze und Geschäfte verlegt werden müssen… Lauter solche Beispiele zeigen, dass Lebensqualität auch eine Frage der Logistik ist. Der Tausch der U-Bahn-Linien 2 und 3 zum Beispiel am Berliner Tor, weil die Bahnsteige nicht verlängert werden konnten, die Zahl der Fahrgäste in Richtung Billstedt aber auf 70 000 pro Tag angewachsen war: 2009 endlich war alles fertig, ein Projekt wie der Bau der Pyramiden von Gizeh. Und eine Linie U4 über die heutige Endstation HafenCity Universität hinaus bis nach Wilhelmsburg und Harburg? „Es muss sich rechnen“, mahnt Verkehrsexperte Sieg. „Das Potenzial muss sich entwickeln.“ Ein Kilometer U-Bahn kostet 80 bis 100 Millionen Euro, Pi mal Daumen gerechnet. Schon ist eine U5 in Planung, vom Osdorfer Born durch die Stadt nach Bramfeld und Steilshoop, je nach Verlauf 28 bis 32 Kilometer lang, in einem nördlichen Bogen über die Universität, Hoheluft und Lokstedt. Oder südlich über Altona, Ottensen und Bahrenfeld. Baubeginn voraussichtlich 2020, Fertigstellung laut Plan: 2040.

Den Transport in die Stadt und durch die Stadt – den übernimmt der HVV.

Denn der Reparaturstau ist höchstens die Hälfte der Geschichte. Die andere Hälfte, der weitaus größere Teil eigentlich, ist Folge der Erkenntnis, dass eine geordnete, wettbewerbsfähige und lebenswerte Zukunft nicht zum Nulltarif zu haben ist. Und dass es Jahre und Jahrzehnte braucht, bis ihre Voraussetzungen geschaffen sind. Diese abstrakte und scheinbar triviale Erkenntnis muss im Kopf behalten, wer sich über Baustellen auf der Straße und Verkehrsstaus ärgert, wer in einer vollgestopften U-Bahn nach Luft schnappt oder an der Haltestelle auf einen Bus wartet, der eigentlich schon längst hätte da sein sollen. „Hamburg wächst“, wiederholt also Ulrich Sieg. Seine Hochbahn, als es noch „seine“ war, hat vorgesorgt, streng genommen seit 1965, als sich die Betreiber von Bahnen, Bussen und Straßenbahn zum Hamburger Verkehrsverbund HVV zusammenschlossen. Wer möchte, darf Hamburg von da an eine echte Weltstadt nennen; zumindest haben sie überall gestaunt und das Modell übernommen, sogar in Paris: ein einziges Ticket für U-Bahn, S-Bahn und Busse; „urban“ ist auch ein Lebensstil. Sogar Fähren über die Elbe sind im Preis inbegriffen. Die Idee lautet: Den Transport in die Stadt und durch die Stadt – den übernehmen wir.

Aber die Stadt wandelt sich: wächst, verlagert ihre Schwerpunkte, ändert ihren Charakter. Und verlegt ihre Verkehrsströme. Planer sind gefordert, Wachstum und Krisen vorherzusehen und ihr Angebot an Mobilität darauf einzustellen. Die Autobahn A 7 mit dem Elbtunnel war einmal auf 40 000 Autos pro Tag ausgelegt; heute sind es im Schnitt 160 000, in Spitzenzeiten noch mehr – die Verbreiterung auf acht und bis Bordesholm auf zumindest sechs Spuren soll sicherstellen, dass der Verkehr auch in Stoßzeiten durchfließen kann. Und großflächige Deckel in Schnelsen, Stellingen und Bahrenfeld-Othmarschen schützen die Bewohner der dicht besiedelten Stadtteile vor anschwellendem Lärm. So ist es vorgesehen.

Private Investoren sitzen mit im Boot. Gleichzeitig sollen eine Verlängerung der Ost-West-Küstenautobahn A 20 mit einer neuen Elbquerung bei Drochtersen, eine Verbindung zur A 7 durch die Autobahn A 26 über Stade und eine Hafenquerspange zwischen A 7 und A 1 Richtung Lübeck viel Verkehr an der Stadt vorbeileiten. Ferne Zukunft. Jahrhundertaufgaben. So wurden das Projekt Busbeschleunigung zum Zankapfel und die Idee einer Stadtbahn zum Dauerthema für jeden Wahlkampf. Rot-Grün, Schwarz-Schill, Schwarz-Grün, Rot in Alleinregierung: Der Gedanke an ein zusätzliches innerstädtisches Verkehrsmittel auf eigenem Gleiskörper wurde diskutiert, verteidigt, beerdigt, wieder ausgegraben, vererbt, vertagt, ganz abgelegt… – jetzt besinnt sich die Stadt auf das gute, alte Verkehrsmittel Bus in seiner modernsten Variante: abgasfrei, ein Gelenk, zwei Gelenke, bis zu 25 Meter lang, mit eigener Ampelschaltung und auf eigener Fahrspur. Dafür gibt es Baustellen ohne Ende, 264 sollen es im Moment sein. Und es gibt Zank ohne Ende: um Bäume, Parkplätze, Wohnqualität. „Aber bedenken Sie“, rechnet Ulrich Sieg vor, „für eine zukunftstaugliche Stadtbahn veranschlagt die Opposition rund 100 Kilometer und knapp drei Milliarden Euro – wer kann das bezahlen? Einen ersten Abschnitt könnten wir vielleicht 2025 einweihen – was tun wir bis dahin?“ Auf der Metrobuslinie 5 von Schnelsen über Niendorf Markt und Hoheluft zum ZOB und zurück sind täglich 60 000 Menschen unterwegs. Es ist die meistgenutzte Buslinie Europas.

Die Metrobuslinie 5 ist die am meisten genutzte Buslinie in ganz Europa.

Gute Ideen sind simpel. Leicht umzusetzen sind sie trotzdem nicht. Gerade dann nicht, wenn sie besonders nahe zu liegen scheinen. Business Club-Mitglied Florian Hempel zum Beispiel muss sich schon bei der Aussprache seiner Ideen größte Mühe geben, nicht falsch verstanden zu werden. Im Bundesverband eMobilität, kurz BEM, vertritt er die Regionen Norddeutschland, Berlin und Brandenburg – aber wenn er etwa Bauverwaltungen oder Stadtplaner von den Chancen und Möglichkeiten der e-, also der elektrisch betriebenen Mobilität im Zusammenhang mit Immobilien überzeugen will, dann kann es vorkommen, dass ein Zuhörer stutzt: Wie bitte? E-Mobil und immobil? Sind das nicht Gegensätze per se? Und was, bitte, hat Wohnungsbau mit der Organisation von Verkehr zu tun?

Aber da läuft Hempel zu großer Form auf. Und schildert eine Zukunft, die möglich ist, wenn sie vorausschauend geplant und gebaut wird: mit Wohnkomplexen, in denen von Anfang an auch genügend Ladesäulen für umweltfreundliche und leise Elektromobile vorgesehen sind. Mit Fuhrparks, die speziell für die Bedürfnisse der Bewohner zusammengestellt werden – vom Freizeitrad über das Lastenfahrrad bis zum Auto und zum Kleintransporter. Mit einer Logistik für Geschäftszentren oder für die Post, die sich so geräuscharm durch die Straßen bewegt, dass der Lieferverkehr auf die Nacht verlegt werden kann – und tagsüber nicht die Straßen verstopft. Koordination, sagt Hempel, neudeutsch „sharing“, kluges Management von Zeit und Funktionen und ein Denken, in dem Nutzbarkeit vor Besitz steht – darin liege der Kern einer neuen Mobilität. Es wäre eine Revolution. Das durchschnittliche Auto der Gegenwart ist weniger als eine Stunde pro Tag in Bewegung. Und mehr als 23 Stunden lang braucht es einen Parkplatz. Das ist nämlich Teil zwei des großen Projekts: umdenken. Umlernen. Mobilität neu definieren und umsteigen. Die Lebensgewohnheiten ändern und Einsicht zeigen in ökonomische und ökologische Grenzen und Zusammenhänge. Erste Ansätze lassen sich zumindest erkennen: Schon haben laut Statistikamt Nord nur noch 56 Prozent aller Haushalte in Hamburg ein eigenes Auto, vor zehn Jahren waren es noch 61 Prozent. Besonders unter jüngeren Menschen ist die Zahl der Autobesitzer deutlich rückläufig. Die Fahrradwege werden besser. So an der Elbe, so in Barmbek. Noch nicht gut, aber besser. 14 Routen sind in Planung und im Bau, die sternförmig in die Innenstadt führen. „Wir begrüßen die Maßnahmen“, sagt Dirk Lau, der Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC. Aber echte Begeisterung klingt anders.

Trotzdem: Das StadtRad der Bahn-Tochter DB Rent und das Car2Go der Daimler AG haben sich zu Erfolgen entwickelt, die selbst ihre Erfinder in Staunen versetzen. 1650 Fahrräder und etwa 700 Smarts, allesamt über das Stadtgebiet verteilt, stehen für den bereit, der sich angemeldet und die passende App auf seinem Smartphone hat. Und weil es so schön funktioniert, tut sich ein ganzer Markt auf: Spontan zu mieten und minutengenau abzurechnen sind Cabrios, Vans, Elektrofahrzeuge oder Autos, die in Hamburg übernommen und in Berlin einfach stehen gelassen werden dürfen. Und wer als Nutzer etwa eines Mini von DriveNow bei Rewe einkauft, bekommt dort fünf Prozent Preisnachlass auf Orangensaft, Toastbrot oder Tomaten.

Gute Ideen sind also zunächst simpel. Das Verbundsystem des HVV vor fast 50 Jahren war solch eine gute Idee, das Programm switchh könnte ihre Fortschreibung für das 21. Jahrhundert sein. „Switch“ bedeutet „umschalten“, das doppelte „h“ bezieht sich, na klar, auf die Hansestadt Hamburg. Und umgeschaltet werden kann nun ganz nach Bedarf und Gusto: vom HVV aufs Stadtrad auf einen Smart von Car2Go oder den Mietwagen von Europcar und zurück zur S-Bahn – alles organisiert und abgerechnet über das Smartphone, alles flexibel auszuwählen nach Bedarf, Wetter, Fahrziel und Verkehrslage. Und offen für jedes Angebot, das sich noch einklinken möchte. „switchh fasst eigentlich alles zusammen, was wir an Mobilität drauf haben“, sagt Günter Elste, Vorstandsvorsitzender der Hamburger Hochbahn, unter deren Leitung das Konzept ersonnen wurde. „Besser und individueller lässt sich die Bewegung von A nach B in einer Metropole wie Hamburg nicht organisieren.“ Oder doch? Vielleicht kommt auf lange Sicht ja alles ganz anders. Vielleicht ist auch massenhafte Mobilität selbst nur das Phänomen einer Epoche. Seit Amtsantritt des Kabinetts Merkel III am 17. Dezember 2013 heißt das Bundesverkehrsministerium auch Ministerium für digitale Infrastruktur; erst im August verkündete der Ressortchef Alexander Dobrindt seine „digitale Agenda“, die den Ausbau schnellerer Netze und die Förderung junger IT-Unternehmen verspricht. Es wäre eine spannende Knobelaufgabe: Wie viele Fahrspuren braucht eine Autobahn noch, wie viele Kilometer neue U-Bahn eine Großstadt, wenn die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation konsequent ausgebaut und genutzt würden? Und wie viele Starts und Landungen auf den Flugplätzen ließen sich durch Verbindungen im Netz ersetzen? Vielleicht könnten viele Pendler auf die tägliche Fahrt ins Büro verzichten. Vielleicht täten sie es liebend gern.

Vielleicht ließe sich viel Arbeit von zu Hause erledigen und vielleicht wäre, was bleibt, nur noch Fahrspaß, Fahrtwind und Entdeckung. Auf einer Bank vor dem Schaufenster eines Fahrradgeschäfts im Schanzenviertel sitzt ein Mann in Jeans und Käppi. Bernd Repenning ist zu Gast hier; der Inhaber des Ladens – Spezialität: edle, maßgeschneiderte Bikes – ist ein Kollege aus alten Tagen. Heute darf der Besucher ihm Konkurrenz machen. Auf der Straße steht ein Ding, das aussieht wie eine Kreuzung aus Mountainbike und Motorrad. Mattschwarz und massiv. Repenning lädt ein zur Probefahrt. Vor einem Jahr hat er gemeinsam mit dem Mobilitäts-Aktivisten Florian Hempel das Start-up Evolte gegründet: Gemeinsam vertreiben und vermieten sie Fahrzeuge mit Elektroantrieb, auch ganze Fuhrparks – vom fahrradähnlichen Pedelec, bei dem der Antrieb nur die Wadenkraft verstärkt, bis zum Elektroauto Twizy, dessen fensterlose Seiten immer noch genug Wind hereinlassen, um nicht mit einem herkömmlichen Fortbewegungsmittel verwechselt zu werden.

Hotels gehörten zu ihren Kunden, sagt der junge Unternehmer, und Touristen nutzten gern die bis zu 45 Stundenkilometer schnellen Speed-Pedelecs, um an allen Staus vorbei von A nach B zu kommen und trotzdem das Gefühl zu haben, mittendrin zu sein. Kein Auto schafft 45 Stundenkilometer im Stadtverkehr. Nicht mal die Hälfte. Realistisch: ein Drittel. Die Kombination aus Körperkraft und Elektroschub, aus ökologischem Gewissen und Wendigkeit ist also mehr als konkurrenzfähig. Ganz ungefährlich sei es freilich nicht, gibt Repenning zu: Die pfeilschnellen Dinger hätten eine Versicherungsnummer zu tragen, ihre Fahrer einen Helm – aber in den Augen vieler Autofahrer seien sie eben nur Fahrräder, also langsam, also schaffen wir’s noch vor ihnen über die Kreuzung…

Was der Vertreter dieser neuen Mobilität aber auch sagt: „Seit ich Speed-Pedelec fahre, hat sich mein Radius vergrößert. Es bringt mir sogar Spaß, Umwege zu machen, wenn ich im Vorbeifahren registriere, dass ich eine Straße oder ein Viertel noch nicht kenne. Und immer deutlicher wird mir klar, wie schön Hamburg eigentlich ist.“

 

Text: Dr. Martin Tschechne

Dr. Martin Tschechne ist Journalist und Psychologe in Hamburg. Seit er die Biografie zu William Stern schrieb, dem Erfinder des IQ, interessiert den Absolventen der Henri-Nannen-Schule alles, was mit Intelligenz zu tun hat – vor allem die Planung einer lebenswerten Zukunft.