Wirtschaftsfaktor Fliegen: Hamburg gehört weltweit zu den drei bedeutendsten STANDORTEN DER LUFTFAHRTINDUSTRIE. Neben Airbus und Lufthansa haben sich 300 Unternehmen rund ums Fliegen angesiedelt. Der Flughafen wächst und selbst Astronauten kommen um Hamburg nicht herum.

Ein Flieger macht sich fein: Nur 0,2 Millimeter dick ist die Farbschicht eines airbus-Jets. Die Lackiererei ist der einzige Bereich des Konzerns, in dem sieben Tage die Woche rund um die Uhr gearbeitet wird.

Es ist ein warmer Nachmittag im Sommer, als Ronald Reith Schub gibt und uns in den Himmel über Hamburg befördert. Wir sitzen in einem Motorsegler vom Typ Super Dimona, der auf das Rufzeichen „Delta Kilo Uniform Delta Lima hört“. Ein hübsches weißes Flugzeug, das jetzt vom kleinen Flugplatz Boberg abhebt. Die Maschine steigt, schnell gewinnt die Stadt an Format. Bald tut sich die Innenstadt auf, ein buntes Häusermeer unter blauem Himmel. Der Michel und der Fernsehturm sind zu sehen, dann breitet sich die Alster aus. Von hier oben sieht sie aus wie ein mitten in die Stadt gelegtes Blatt Silberpapier.

Unten am Hafen schwimmen Riesenfrachter auf der Elbe, die Landungsbrücken sind zu erkennen, die mächtigen Containerterminals, all die Schuten und Dampfer, die sich zwischen Hafencity und Blankenese tummeln. Für dieses Bild ist die Hansestadt berühmt: das Tor zur Welt.

Ein Begriff, der heute um eine Ebene erweitert werden muss – denn längst ist die Stadt auch ein Tor zum Himmel. Hamburg ist zum Standort der Fliegerei geworden. Hier haben sich Größen der zivilen Luftfahrtindustrie etabliert, Airbus, Lufthansa Technik, der Hamburger Flughafen. Unternehmen, die Milliardenumsätze machen und modernste Technologien entwickeln, hinzu kommen etliche Dienstleister rund ums Fliegen. Wie wenige andere Städte auf der Welt ist Hamburg nicht nur der Schifffahrt verbunden, sondern hat auch den Himmel zu seinem Wirtschaftsraum erklärt.

„Der Mensch ist das einzige Wesen, das im Fliegen eine warme Mahlzeit zu sich nehmen kann“, sagte Loriot einmal. Der übertragene Sinn dieses Satzes führt weiter: Denn der Mensch ist auch das einzige Wesen, das mit dem Fliegen Fortschritt, Umsätze und Arbeitsplätze schaffen kann. Genau das hat Hamburg erkannt.

Was also liegt näher, als sich selbst einmal in den Luftraum zu begeben? In jene Sphäre über der Stadt, die ihr hohe Gewinne garantiert und sie in die internationalen Verkehrsströme eingliedert wie nichts anderes. Von Süden und Norden kommen die Verkehrsflugzeuge geflogen, aus Frankfurt, München, Zürich, aus Dänemark, Finnland und Schweden. Wie auf unsichtbaren Straßen fliegen sie alle paar Minuten und nur knapp über uns vorbei. Eine Boeing 737 von Air Berlin, gefolgt von zwei Airbus’ der Lufthansa. Die Maschinen steuern alle den Hamburger Flughafen an, der in diesen Sommer seinen 100. Geburtstag feierte.

Schon 1919 flogen 233 Passagiere die Stadt an, was aus heutiger Sicht beinahe niedlich klingt. Denn im Laufe der Jahre stieg diese Zahl stetig an: 2010 starteten und landeten 157 180 Flugzeuge in Fuhlsbüttel, beförderten 13 Millionen Passagiere und fast 72 000 Tonnen Fracht. Der Airport ist zum wichtigen Drehkreuz im Norden geworden, über 60 Airlines fliegen ihn heute an; die Flughafen Hamburg GmbH machte 2010 einen Umsatz von 248,6 Millionen Euro.

Beim Flug über Fuhlsbüttel sind im Süden neben den Terminals und Landebahnen mächtige Hallen auszumachen. Ein großer Jumbo-Jet versteckt seine Schnauze in einem der Riesenhangars. Es ist die Basis von Lufthansa Technik, einem weiteren Unternehmen in Hamburg, das Luftfahrtkunden aus aller Welt bedient. Im Mittelpunkt stehen hier die diversen Checks, denen sich alle Linienmaschinen in exakt vorgeschriebenen Intervallen unterziehen müssen. Vom „Ramp Check“ bis zum „D-Check“, einer Generalüberholung, bei der die Flugzeuge alle fünf bis zehn Jahre komplett zerlegt werden. Da werden Motoren auseinandergebaut, Ersatzteile eingebaut, Millionen von Nieten geprüft und Flügel getestet.

Dutzende Airlines fliegen ihre Maschinen nach Hamburg, um sie von den Experten von Lufthansa Technik überprüfen zu lassen. Was die Hamburger unter Dienstleistung verstehen, geht jedoch weit darüber hinaus. Eine Spezialistengruppe aus 100 Ingenieuren stellt sich immer wieder einer hübschen Denksportaufgabe: Wie können sie die komplexen Wartungsprozesse schneller und gleichzeitig wirtschaftlicher gestalten? Dank der fortschrittlichen Methoden von LH Technik ist etwa der Zeitaufwand einer Jumbo- Überholung inzwischen von 90 000 auf 60 000 Stunden reduziert worden. Flieger-Knowhow, Made in Hamburg. Die Kunden freut dies. Denn jeder Tag an zusätzlicher Liegezeit in der Technik kostet bei einem Jumbo mal eben einen sechsstelligen Betrag. Auf der Basis in Hamburg wird noch an vielen anderen Fronten getüftelt und optimiert. Hier existieren elektronische Diagnosezentren, die Daten aus den fliegenden Maschinen via Satellit empfangen und auswerten. Airline Support Teams können so rechtzeitig an jeden Ort der Erde entsandt werden, um Maschinen zu warten.

Damit nicht genug. Wie ist Fluglärm weiter zu reduzieren? Wie lassen sich Aramid-Fasern in den Triebwerken durch effektivere Kohle- und Glasfasern ersetzen? Wie sehen die Onboard-Entertainmentsysteme der Zukunft aus? Wie lassen sich Flugleistungen steigern bei gleichzeitiger Umweltentlastung? Fragen über Fragen, die sich mit der Zukunft und Effizienz der Luftfahrt befassen. Viele Antworten kommen heute aus Hamburger Büros und Denketagen.

Hoch über der Stadt treibt Pilot Ronald Reith die kleine Super Dimona in eine steile Kurve, der Blick fällt tief aus der Cockpitkanzel. Schön sieht Hamburg von oben aus, und mit Hafen und Elbe im Süden mutet es immer wieder äußerst maritim an. In welchem Maße sich die Stadt dabei der Fliegerei verschrieben hat, ahnt so schnell keiner. Dabei sind in Hamburg 39 000 Menschen im Bereich Luftfahrt beschäftigt, über 300 kleine und mittelständische Unternehmen sowie viele wissenschaftliche Institutionen arbeiten an Zukunftslösungen rund um die Fliegerei.

Im Süden des Flughafens tauchen nun mehrere Bürogebäude auf. Darin existieren Firmen wie etwa Spairliners, 2005 gegründet als der „A380 Component Service by Air France Industries and Lufthansa Technik“. Spairliners ist spezialisiert auf die Ersatzteillogistik für die A380, hält für das größte Linienflugzeug der Welt die wichtigsten reparablen Ersatzteile parat – egal ob einer der Riesenvögel gerade in Frankfurt, Tokio, Johannesburg, New York, Peking oder Paris weilt. Im Pool der Hamburger Firma sind dafür 5000 Teile mit 1400 Seriennummern gelistet, die von über 100 Herstellern und diversen Subunternehmen stammen und einen Gesamtwert von rund 100 Millionen Dollar haben. Flugzeug-Support im dritten Millenium, auch dies mitten in Hamburg.

In einem unscheinbaren Gebäude knapp südlich des Flughafens ist eine Institution beheimatet, in der ebenfalls Dinge geschehen, die kaum einer diesem maritimen Hamburg zutrauen würde. Am Eingang des Hauses prangt ein Schild: Aviation Center. Hinter den Türen befindet sich die Abteilung „Luft- und Raumfahrtpsychologie“ des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Hier finden jene Auswahlverfahren statt, ohne die viele Flugzeuge keine Piloten hätten. Denn erst die schwierigen dreitägigen Tests des DLR muss bestehen, wer danach für die Ausbildung zum professionellen Flugzeugführer zugelassen wird.

Und es geht noch viel höher hinaus. In der Hamburger „Filiale“ des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt werden auch jene erlesenen Kandidaten ermittelt, die unter deutscher Flagge eines Tages in den Weltraum starten wollen. Die Entscheidung, wer das Zeug zum Astronauten hat, wird ebenfalls in Hamburg gefällt. In der Tat haben sich so viele Luftfahrtfirmen in der Stadt etabliert, dass Wirtschaft, Wissenschaft und Senat zusammen mit 15 Mitgliedern 2011 den Verein „Luftfahrtcluster der Metropolregion Hamburg“ gegründet haben. „Hamburg ist einer der drei Spitzenstandorte der Luftfahrtindustrie weltweit“, sagte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz diesen Sommer auf der Paris Air Show. „Jeder dritte in der deutschen Luftfahrtindustrie Tätige arbeitet mittlerweile in der Metropolregion Hamburg.“ Neue Projekte und Kooperationen sollen das Wachstum der Luftfahrtbranche weiter fördern.

Viele Antworten für die Luftfahrt kommen aus Hamburger Denketagen

Schon 2001 war die „Initiative Luftfahrtstandort Hamburg“ an den Start gegangen; 2008 hat die Bundesregierung das Netzwerk als eines der ersten Spitzencluster Deutschlands ausgezeichnet. Mit der Strategie, die Luftfahrt noch ökonomischer, ökologischer und effektiver zu gestalten, hat das heutige „Luftfahrtcluster Metropolregion Hamburg“ sogar einen Wettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gewonnen. Hamburg sicherte sich so 40 Millionen Euro Forschungsgelder. Wobei erst kürzlich eine neue Talentschmiede eröffnet wurde: das Hamburg Centre of Aviation Training. Eine Art Fliegerei-Uni, die sich auf Avionik, Elektronik, moderne Fertigungsverfahren, Werkstoffe und neue Kabinensysteme konzentriert. Hamburg will auch in der Entwicklung die Nase vorn haben.

In monströsen Hangars und gigantischen Hallen entsteht das größte Verkehrsflugzeug der Welt

Die Nase unser Super Dimona senkt sich mit sanftem Schwung nach unten; wir haben vom Kontrollturm die Anweisung erhalten, auf eine geringere Höhe zu gehen. In weniger als 500 Meter fliegen wir nach Süden, schnurstracks auf einen Standort zu, wo nun gleich der Superstar der Lüfte zu sehen ist. Südlich der Elbe kommt langsam ein beeindruckendes Gelände näher, monströse Hangars und gigantische Hallen sind zu sehen. Es sind die Airbus-Werke in Finkenwerder, wo auch das größte Passagierflugzeug der Welt steht: der Airbus A380 – seit einiger Zeit Stargast im Himmel über Hamburg. Regelmäßig schwebt der Koloss über die Stadt, um von Toulouse kommend in Finkenwerder zu landen. In Frankreich wird er zusammengebaut, hier folgen Innenausbau und Lackierung. Wenn die Maschinen landen und starten, stehen oft Hunderte Menschen am Elbufer und in Finkenwerder an der Landebahn; den Riesen über Hamburg ziehen zu sehen ist vielen ein ebenso magischer Anblick wie das Auslaufen der „Queen Mary“. In Hamburg sitzt zudem die Geschäftsführung von Airbus Deutschland, allein hier arbeiten 12 000 Menschen, die maßgeblich an der Entwicklung der Airbus-Flugzeuge beteiligt sind, aber auch Grundlagenforschung betreiben und neue Technologien einsetzen wie Virtual Reality fürs Kabinendesign. Auch werden in Hamburg für viele Airbus-Typen die vorderen und hinteren Rumpfsegmente gebaut; viele Maschinen wie die A320 werden hier sogar endmontiert.

Einer der imposantesten Arbeitsschritte dürfte es sein, wenn eine A380 in Hamburg lackiert wird. Nach der Landung aus Frankreich tragen die Maschinen noch ein minzgrünes Kleid aus Schutzlack. Dieser wird alsbald entfernt für die große Glanznummer, wenn die Farben der jeweiligen Fluggesellschaft aufgetragen werden. Techniker in Schutzanzügen und mit Sprühkanonen bewegen sich auf mehreren Ebenen um das Flugzeug. Im Paintshop in Finkenwerder werden pro Maschine 3500 Quadratmeter besprüht, wobei alle Grundierungen und Lackschichten am Ende nur 0,2 Millimeter dick sind und insgesamt 650 Kilo wiegen. So ausgeklügelt ist das Verfahren, dass 24 Beschichtungstechniker nur 60 Minuten brauchen, um den Rumpf des Riesen zu lackieren. Die Halle, in der der Vogel dabei steht, ist 31 Meter hoch und 22 365 Quadratmeter groß – mehr als ein Häuserblock in Manhattan misst.

Am Ende thronen die A380, spiegelglatt und frisch gewienert, unten in Finkenwerder zur Kundenauslieferung an den Terminals. Beim Überflug können wir drei der unglaublichen Maschinen sehen; sie blitzen in der Sonne, in den Farben von Lufthansa, Singapur Airlines und Air France. Nur ein paar Meter weiter fließt die Elbe, stehen die weißen Villen von Blankenese, ziehen die Frachter und Riesen der Meere zur Elbmündung.

Das größte Zivilflugzeug der Erde hat sich einen schönen Ort ausgesucht, um ausgerechnet von hier aus in den weltweiten Liniendienst zu starten. Und spätestens wenn eine der erhabenen A380 mal wieder mitten über die Stadt schwebt, weiß jeder, dass Hamburg auch im Himmel seine Nase ganz vorn hat.

Text: Marc Bielefeld
Marc Bielefeld ist freier Autor in hamburg und leidet darunter, dass er nicht Pilot werden durfte. Dafür schreibt er besonders gern über Flugzeuge. Seine Texte erscheinen in Merian, Zeit und Lufthansa Magazin.