Elf Spieler aus der eigenen Jugend stehen im Kader des HSV, der den Wiederaufstieg in die Bundesliga schaffen soll. Cheftrainer CHRISTIAN TITZ über die Entwicklung von Werten und Persönlichkeit, die Bedeutung von Kommunikation und warum er gerne Bücher schreibt.

club!: Herr Titz, in der vergangenen Saison sind Sie als neuer Cheftrainer der HSV-Profimannschaft von null auf hundert gestartet. Was mussten Sie lernen?
Christian Titz: Worauf man sich nicht vorbereiten kann, ist die Art, wie Menschen einen aufnehmen. Wie sie mit einem umgehen. Wenn ich früher aus dem Haus gegangen und zu meinem Job gefahren bin, wurde mir deutlich weniger Beachtung geschenkt. Seit ich Trainer der ersten Mannschaft bin, hat sich in meinem Leben einiges verändert. Plötzlich kommen Menschen auf einen zu, nehmen Kontakt auf. Wenn ich die Wohnung verlasse, gebe ich meine Privatsphäre auf. Das meine ich nicht negativ. Ich weiß, dass es Teil dieses Berufszweiges ist. Deshalb ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, ebenfalls auf die Menschen zuzugehen.

Wie lernt man, damit umzugehen?
Ich bin einfach so, wie ich bin. Meine Eltern haben mich dazu erzogen, dass man, wenn man irgendwo hinkommt, die Menschen begrüßt und mit ihnen kommuniziert. Das finde ich wichtig, denn häufig ist es ja so, dass man sich trifft, sich aber lieber mit dem eigenen Handy beschäftigt, statt miteinander zu reden. Das finde ich nicht so gut.

Sehen Ihre Spieler das auch so?
Darüber müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Das sind junge Menschen, die noch in ihrer Entwicklung sind. Deshalb brauchen sie jemanden, der sie begleitet und ihnen Hinweise gibt, worauf sie achten müssen. Ich möchte, dass jeder seine Persönlichkeit auslebt, aber einfache Dinge, die wichtig sind, die muss man dennoch ansprechen. Beispielsweise, wenn man vom Trainingsplatz kommt. Dann gehört es sich, dass man die Leute grüßt, die dort warten. Sie sind ja gekommen, um die Spieler trainieren zu sehen. Wir sind die auserwählten Protagonisten auf dem Spielfeld. Aber es gibt auch noch einen zweiten Teil von Protagonisten, und das sind die Zuschauer. Und auch für sie muss man sich Zeit nehmen. Miteinander kann nur funktionieren, wenn Menschen aufeinander zugehen.

Welche Rolle spielt dabei die Erziehung durch das Elternhaus, wie war das bei Ihnen?
Die Schule hat bei uns zu Hause eine große Rolle gespielt. Mein Bruder war mir immer überlegen. Er war ziemlich belesen. Ich dagegen habe mich sehr schwer getan. Ich wollte lieber nach draußen und Fußball spielen. Deshalb bin ich einen anderen Weg gegangen. Nach dem Hauptschulabschluss habe ich erst in unserer Gemeinde eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten gemacht.

Weil die Eltern das wollten?
Eltern, Oma, Opa, ja, die haben stark gedrängt. Aus heutiger Sicht betrachtet war ich aber viel zu jung für diesen Weg. Es waren harte, aber andererseits auch sehr lehrreiche Jahre. Sie haben mir gezeigt, was ich möchte.

Was war das?
Ich war schon damals ein rastloser Mensch. Nach der Bundeswehr habe ich einige Jahre im Verlagswesen gearbeitet, dann die mittlere Reife nachgeholt, Fachabitur gemacht, BWL studiert und abgeschlossen. Und später noch ein weiteres Studium absolviert.

Ihre wahre Leidenschaft war aber doch immer Fußball.
Ich habe teilprofessionell gespielt, zunächst bis zur vierten Liga. Dort wurde auch Geld gezahlt, aber alle Spieler waren darüber hinaus in der Ausbildung oder im Beruf.

Fußball als Mittel zum Zweck, um das Studium zu finanzieren?
Ich hatte mit 19 Jahren einen Zeckenbiss, dessen Folgen mir jahrelang das Spielen erschwerten. Mit 26 bin ich erst Vertragsspieler geworden, da hatte ich mein Studium schon abgeschlossen. Man ist ein anderer Mensch, wenn man vor dem Studium schon gearbeitet hat. Man hat einen anderen Reifeprozess hinter sich. Als ich plötzlich als Profi ausschließlich Fußball spielen durfte, war es für mich wie im Traum.

Dennoch haben Sie nebenbei weiter andere Sachen gemacht?
Ich hatte inzwischen viele andere Interessen. Deshalb habe ich noch ein Fernstudium in Sportmanagement hinzugefügt. Zwei Jahre später habe ich meine eigene Fußballschule gegründet.

Und Bücher geschrieben, mittlerweile fast 50 an der Zahl. Warum?
Das Interessante am Studium ist, dass man so viele unterschiedliche Ansichten und Ideen kennenlernt und verfolgen kann. Das bringt dich auf ganz neue Gedanken. Auch im Fußball ist das so. Du hast so viele unterschiedliche Gesprächspartner, siehst viel, lernst viel. Ich suche immer nach neuen Möglichkeiten mich weiterzuentwickeln. Irgendwann habe ich begonnen, diese Gedanken in Buchform niederzuschreiben.

Sind Sie ein Sucher zwischen den Welten?
Ich weiß nicht, ob ich das unbedingt sein möchte. Ich bin ja im Grunde fußballverrückt. Als ich dann krank wurde und immer Schmerzen hatte und nur mit Spritzen spielen konnte, habe ich mich oft gefragt, ob ich das wirklich will. Meine Erkenntnis aus diesen Erfahrungen lautet: Spiel’, solange du kannst. Wenn es vorbei ist, kommt es nicht mehr zurück. Das sage ich auch meinen Spielern. Genießt diese Zeit bewusst, denn sie ist – noch vor dem Trainerberuf – für mich die schönste gewesen.

Sie haben den Ruf eines Menschenfängers. Spieler wie Lewis Holtby nennen Sie als Hauptgrund dafür, mit dem HSV in die zweite Liga gegangen zu sein. Sind Sie Trainer geworden, weil Sie den Fußball lieben oder weil Sie so gut mit Menschen umgehen können?
In diese Trainergeschichte bin ich schon mit 15 Jahren gerutscht. Mein Vater, mein Opa, meine Onkel, alle waren Trainer in meinem Heimatverein. Mein Vater hat mich anfangs trainiert. Eines Tages hatte die D-Jugend keinen Trainer. Da ist der Jugendleiter an mich herangetreten, hat mich gefragt, willst du das nicht machen? Und so ging das weiter. Ich habe Kindermannschaften trainiert und war eigentlich selbst noch fast ein Kind. Mir hat es schon als Jugendlicher und junger Mann Spaß gemacht, anderen etwas beizubringen. Das ist bis heute so geblieben.

Sie kommen vom Dorf. Was haben Sie von damals mitgenommen?
Wie sinnstiftend Gemeinschaft ist. Sonntagsmittags ging es auf den Fußballplatz. Das machten alle. Dort hat mein Papa gespielt. Ich fand es schon damals toll, dass man sich gemeinsam für eine Sache begeisterte. Nach dem Spiel traf man sich in der Vereinsgaststätte. Es wurde gegessen, getrunken und diskutiert. Wir Kinder sind dann auf den Bolzplatz und haben selbst gespielt.

Ist für solche Sozialromantik noch Platz im Profifußball?
Natürlich ist das ist eine andere Welt. Als Profi kannst du nicht nach dem Spiel feiern gehen.

Wir meinten auch eher generell das Thema Zusammenhalt in Zeiten, in denen sich der Profifußball doch sehr verändert hat und manchmal nur noch wie ein kühles und egoistisches Geschäftsmodell wirkt.
Aber Zusammenhalt ist dennoch ein wichtiger Bestandteil. Und ich hoffe, dass wir das hier beim HSV dauerhaft hinbekommen. Es kann ja ganz schnell in die andere Richtung gehen, wenn man nicht aufpasst. Deshalb ist es wichtig, dass alle daran mitwirken.

Wie kriegt man das hin?
Wir gehen zusammen zum Bowling, wir grillen gemeinsam, wir beziehen die Frauen und Kinder mit ein. Gemeinschaftsgefühl entsteht nicht nur beim Training.

Aber wie führt man eine Gruppe, wenn es komplizierte oder negative Entscheidungen zu verkünden gilt? Der frühere Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld hatte für die Spieler, denen er sagen musste, dass sie es am Wochenende nicht in den Kader geschafft hatten, immer Tribünenkarten dabei, die er ihnen mit den Worten übergab: „Tut mir leid diesmal.“
Führung ist nicht nur meine Aufgabe. Wir sind ein sehr gutes Trainer- und Betreuerteam. Jeder von uns hat Eindrücke von den Spielern. Als Trainer kannst du nicht alle Spieler ansprechen, wie sie sich das wünschen. Deshalb teilen wir uns auf. Unterschiedliche Typen brauchen unterschiedliche Ansprachen. Mit dem einen geht man essen, mit dem anderen spricht man in der Kabine oder auf dem Platz. Wir sind sehr individuell aufgestellt und manchmal reicht es auch aus, einen einfach nur mal in den Arm zu nehmen.

Woher wissen Sie, wer was braucht?
Viele Erkenntnisse habe ich durch meine Arbeit mit Kindermannschaften erhalten. Kinder sind ehrlich. Kinder haben keine Angst. Kinder sprechen aus, was sich Erwachsene vielleicht nicht so trauen.

Können Sie das genauer beschreiben?
Ich habe mal in einer Trainingseinheit zu einem Jungen gesagt, dass er als Außenbahnspieler aus dem Deckungsschatten treten soll. Daraufhin hat er mich angeschaut und gesagt: ,Trainer, das geht doch gar nicht. Wie soll ich denn aus dem Deckungsschatten treten?’ Da habe ich verstanden, dass er das Wort nicht kennt. Bis heute habe ich mir gemerkt: Du musst so sprechen, dass dich jeder versteht. Mit einer Kindermannschaft ist übrigens auch das Torwartspiel unserer Profimannschaft entstanden.

Bei dem Ihr Keeper Julian Pollersbeck, wenn Ihr Team angreift, weit aus seinem Tor kommt. Manchmal fast bis zum Mittelkreis.
Ich muss ein bisschen ausholen. Ich habe auch die Mannschaft trainiert, in der mein Sohn vor seiner Erkrankung gespielt hat. Er ist später an Rheuma erkrankt. Damals haben wir auch gegen Mannschaften aus Leistungszentren gespielt. Natürlich waren die besser als wir. Also muss man sich als Dorfclub etwas einfallen lassen. Also haben wir uns für die Hallenturniere ein System ausgedacht, wie wir den Gegner verblüffen können. Daraus ist entstanden, den Torhüter das Angriffsspiel einleiten zu lassen. Während der Erkrankung meines Sohnes konnte er nicht mehr sprinten und dann habe ich mit ihm den mitspielenden Torhüter aus der Halle auf das Großspielfeld übertragen und weiterentwickelt. Um es abzukürzen: Am Ende ist diese Idee bei Julian Pollersbeck gelandet.

Wir sind ein bisschen von unserem Thema Bildung abgekommen. Ein Politiker hat unlängst gesagt, Bildung sei die Macht unseres Jahrhunderts.
Dem will ich nicht widersprechen. Bildung gibt Menschen die Möglichkeit, Zusammenhänge anders einzuordnen. Und ich hoffe, gerade in den Zeiten, in denen wir uns befinden, dass die Menschen dadurch zu einem friedvollen Umgang miteinander gelangen. Dann hätte die Bildung wirklich Macht ausgeübt.

Man könnte auch argumentieren: Je gebildeter, desto machtbewusster.
Ja. Aber wir reden vom Gros der Menschen. Die wollen keinen Krieg, sondern Frieden. Und das heißt miteinander statt gegeneinander.

Was gerade in den sozialen Medien nicht immer so angesagt ist. Stichwort Shitstorm, Fake-News, Instagram und Facebook. Wie hat die in Teilen regelfreie Internetwelt die Fußballprofis von heute verändert?
Wir bemühen uns, unsere Nachwuchsspieler und Profis auch auf das Leben nach dem Fußball vorzubereiten. Mal mit Abitur, mal ohne, oft mit dem Angebot eines zweiten Standbeins, falls es schief geht mit der Profikariere. Immer mit der guten Absicht, ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Aber worüber reden wir? Wir sprechen von jungen Leuten, deren Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Sie kommen in die Situation, dass viele Menschen ihnen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Diese ungefestigten jungen Männer musst du also einfangen, denn sie können sich ja nicht frei bewegen. Schlagen sie über die Stränge, werden sie in den sozialen Medien verurteilt. Oder das andere Extrem: für etwas gehypt, was eigentlich ziemlich normal ist. So ein Leben muss man erst einmal hinbekommen. Hinzu kommt: Nicht jeder mag das öffentliche Leben. Ja, die einen sonnen sich in ihrer Öffentlichkeitsdarstellung, aber anderen fällt sie schwer. Oder sie mögen sie gar nicht. Deshalb ist gute Begleitung wichtig. Um ihnen zu helfen, Situationen einzuschätzen. Sich selbst einzuschätzen. Das muss aber auch schon früher geschehen. Zu Hause, von den Eltern und in der Schule.

Was heißt das auf den Fußball bezogen?
Wir müssen individueller auf diese jungen Menschen zugehen. Wenn wir wollen, dass sie selbstständige Entscheidungen treffen vor einem Millionenpublikum, wenn ich die TV-Zuschauer dazu rechne, dann kann ich nicht genormt führen. Das meine ich, wenn ich sage, wir haben Führung beim HSV auf viele Schultern verteilt.

Aber Sie haben den Hut auf?
Meine Aufgabe ist es, die Spieler so zu integrieren, dass Sympathie keine Rolle spielt. Ich möchte Spieler so entwickeln und einsetzen, dass sie gewinnbringend für das Team sind. Ich sehe viele Parallelen zum normalen Leben. Wann ist Schule entstanden? Ist sie so noch zeitgemäß? Meine Erkenntnis: Du kannst in einer Gruppe nicht immer mit allen gleich zusammenarbeiten, sondern es muss differenziert werden. Als Beispiel: Ich kann einen Mittelstürmer, der Tore erzielen soll, nicht genau gleich trainieren wie einen Abwehrspieler, der sie verhindern soll. Ob hochtalentiert in der Schule oder im Fußball, Ausnahmetalente kannst du meines Erachtens nicht ins normale Raster stecken.

Stichwort Fiete Arp. Da wurde ein Youngster plötzlich bekannt, weil seine Torschüsse zweimal vom Innenpfosten ins Netz gingen. Plötzlich wollten ihn die Bayern für viele Millionen Euro. Wie führt man so einen Überflieger auf seinem Lebensweg als Mensch?
Als ich Fiete mit 15 Jahren bekam, war er kein Mittelstürmer, sondern ein ballverliebter egoistischer Zehner und Außenbahnspieler. Ich habe ihm erklärt, wie ich ihn sehe. Darüber war er nicht begeistert. Dann hat er gemerkt, dass er in der neuen Rolle erfolgreich spielt. Und dass er die anderen braucht. Später haben wir ihn in den Mannschaftsrat geholt, ihm Aufgaben für die Mannschaft übertragen. Im zweiten Schritt wurde er Kapitän und auf diese Weise ein Teamplayer. Heute ist er ein Spieler, der zwar das Ego hat, Dominanz auszuüben, sich aber auch in die Mannschaft einbringt. Persönlichkeiten entwickeln sich über Werte.

Und der ein Millionenangebot ausgeschlagen hat, um in der zweiten Liga zu spielen.
Das ist in der Tat sehr bemerkenswert. Von 100 Spielern hätten 99 nicht so gehandelt. Aber Fiete ist einer, der seinem Heimatverein treu bleiben will. Er hat eine gewisse Festigkeit, was die Sozialkomponenten angeht. Nicht das Geld allein, sondern die fußballerische Weiterentwicklung ist ihm wichtig.

Derzeit kämpft er nach dem bestandenen Abitur um den Wiederanschluss?
Dass er mal ein Leistungstief in seiner komplizierten Situation hatte, ist normal. Ich finde es toll, wie gut er schon wieder drauf ist. Fiete wird sich mit seiner Qualität in meinen Augen im Profifußball durchsetzen und sich überdies als Mensch weiterentwickeln.

Wie im richtigen Leben?
Ja. Fußball ist ein Abbild der Gesellschaft. Das lässt sich nicht getrennt betrachten. Wenn wir unsere jungen Menschen individuell weiterentwickeln, dann haben wir die Chance, dass sich auch der Fußball und die Gesellschaft weiter positiv entwickeln. Daran mitzuwirken ist meine Leidenschaft.

 

Gespräch: Andreas Eckhoff Fotos: Ivo von Renner