Geschäftsführer, Bereichsleiter, Hauptabteilungsleiter, Abteilungsleiter, Teamleiter, Mitarbeitender – immer weniger Unternehmen finden die vielen hierarchischen Ebenen hilfreich, um ihre Zusammenarbeit effektiv zu organisieren.

Gemütliche Lounge-Ecken, in denen sich junge, turnschuhtragende Visionäre mit Coffee-to-Go-Bechern tummeln, den Laptop auf dem Knie balancierend, das Du auf der Zunge, das kreative Chaos hängt beinahe greifbar in der Luft – so oder so ähnlich stellen sich viele jene Unternehmen vor, in denen flache Hierarchien zum Arbeitsalltag gehören. Damit die Zusammenarbeit in flachen Hierarchien nicht mit dem Verlust von Profitabilität und Effizienz einhergeht, braucht es eine neue Struktur und Organisation.

„Selbstgesteuerte Teams ohne formale Führungskraft erfordern von den Mitgliedern selbst Struktur in ihre Zusammenarbeit zu bringen, Aufgaben zu verteilen, Prioritäten festzulegen. Bei den Teams, die das hinkriegen, wirkt sich solch ein Selbstmanagement positiv auf die Leistung aus,“ sagt Dr. Clara S. Hemshorn de Sanchez. Die Expertin für Führungsprozesse forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg, Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft, Arbeits- und Organisationspsychologie.

Dass immer mehr Firmen dem Trend folgen, ihre Organisationsstruktur umzustellen, beobachtet sie auch in Hamburg: „Mir sind keine Zahlen dazu bekannt. Aber ich habe den Eindruck, dass es ein Interesse bei den Unternehmen gibt, ihre Hierarchien zu verflachen oder dies schon getan haben, um sich für die Zukunft fit zu machen.“ Einen möglichen Grund für diesen Kulturwandel verortet Dr. Clara S. Hemshorn de Sanchez in der Corona-Pandemie: „Die Unternehmen haben gemerkt, dass es plötzlich zu drastischen Veränderungen kommen kann und dass man in solchen Situationen flexibler und dynamischer reagieren muss. Flache Hierarchien können ein Weg sein, damit Anpassungen an Veränderungen besser gelingen.“ Auch das Aufkommen von Künstlicher Intelligenz mache deutlich, wie schnell Veränderungen eintreten können, die dazu auch noch schwer vorhersehbar sind.

Ein aktuelles Beispiel für die Abflachung von Hierarchien ist der Leverkusener Großkonzern Bayer. Weltweit beschäftigt der Aspirin-Hersteller 100 900 Mitarbeiter, davon rund 22 200 in Deutschland. Bis dato war die Unternehmensstruktur strikt hierarchisch organisiert. 17.000 Führungskräfte standen auf zwölf Stufen zwischen dem Vorstandschef und den Kunden. Zu viel, zu bürokratisch, zu starr, findet Bill Anderson, der den Vorstandsvorsitz des Konzerns im Juni vergangenen Jahres übernommen hat. Der US-Amerikaner hat eine radikale Transformation eingeleitet: Tausende Führungskräfte müssen bis Ende 2025 gehen — auch in Deutschland. Und dies nicht nur zur Kostenreduzierung. Wie viele Stellen genau gestrichen werden, ist derzeit nicht bekannt, wohl aber der Grund für die Aufräumaktion: Die Mitarbeiter und Teams bei Bayer sollen in Zukunft mehr Verantwortung erhalten, selbst entscheiden, wie sie arbeiten und was sie als
Nächstes entwickeln wollen.

Der Gedanke an mehr Autonomie, mehr Selbstwirksamkeit und mehr Freiraum für eigene Ideen klingt erst einmal durchweg positiv. Allerdings stünden Unternehmen, die diesen Schritt gehen und Hierarchien abflachen oder Führungspositionen komplett abschaffen wollen, auch vor besonderen Herausforderungen – vor allem, wenn bisherige Strukturen über Jahrzehnte gewachsen sind: „Bei einem Start-up, das gerade gegründet wird, können Mitarbeiter von vornherein danach ausgesucht werden, ob sie sich in einem horizontalen Gefüge wohlfühlen, ob sie die zusätzliche Verantwortung als Wertschätzung und Zuwachs von Autonomie sehen“, sagt Dr. Clara S. Hemshorn de Sanchez. In einem schon etablierten und vor allem großen Unternehmen mit steilen Hierarchien seien die Menschen es hingegen einerseits gewohnt, klar zu kommunizieren und Aufträge zu verteilen und andererseits Aufgaben abzuarbeiten ohne selbst Verantwortung zu übernehmen. Um den Sprung hin zu einer agilen Organisationsstruktur zu schaffen, brauche es daher eine gute Vorbereitung – und vor allem Zeit.

Bei Oose gibt es keine Chefs mehr
Ein Hamburger Unternehmen, das diesen Kulturwandel bereits erfolgreich gemeistert hat, ist oose. Die 1995 gegründete Beratungsfirma ist auf Seminare, Workshops und Coachings rund um Software- und Systementwicklung, New Work und Projektmanagement spezialisiert. 2012 wurden bei oose alle Chefpositionen abgeschafft. Seit 2014 arbeitet das Team als eingetragene Genossenschaft. Das Unternehmen gehört also allen Mitarbeitern, die auch an allen Entscheidungen beteiligt sind. Nicola Jährig hat den Kulturwandel der Firma miterlebt: „Die Initiative dazu ging von dem damaligen Inhaber aus. Er sah Führungsrollen kritisch und sich selbst noch weniger in dieser Rolle. Er hat nach einem Modell gesucht, das seiner Vorstellung von Zusammenarbeit besser entspricht, als eine hierarchisch organisierte Firma“, erzählt die Vertriebs- und Organisationsmitarbeiterin und gewählte Vorständin. Bis diese Vision Wirklichkeit werden konnte, musste aber viel Vorarbeit geleistet werden: „Wir hatten damals noch drei Geschäftsführer und klassische Abteilungsleiter. Es mussten daher viele Gespräche geführt, Projektgruppen gegründet werden. Und natürlich sind auch einige gegangen und neue dazugekommen.“ Schließlich verkaufte der Inhaber seine Firma in Form von Genossenschaftsanteilen an die Gesamtbelegschaft, die heute rund 40 Beschäftigte zählt. Fast alle sind angestellt tätig, andere selbstständige Mitglieder.

Dass es bei oose keine klassischen Hierarchien gibt, bedeute jedoch nicht, dass es keine Struktur gäbe, erklärt Jährig: „Unser Unternehmen ist in verschiedene Themen- und Metakreise mit bis zu zehn Personen überschneidend unterteilt, in denen die Mitglieder ihre Expertisen einbringen. Es gibt keine Teamleiter oder Teamleiterinnen. Stattdessen treffen die Mitglieder innerhalb eines Kreises kleinere Entscheidungen, zum Beispiel ob ein Auftrag angenommen wird oder nicht, gemeinsam oder eigenständig. Eine Führungsrolle kann je nach Thema und Kompetenzbereich von unterschiedlichen Personen eingenommen werden und wechseln.“ Für größere, unternehmensweite Entscheidungen, wie Investitionen oder Gehälter, wird die gesamte Belegschaft einbezogen. Jeden Freitag findet ein Meeting für Austausch, Diskussion und Entscheidungen statt. Dadurch könne es zwar manchmal länger dauern, bis eine Entscheidung getroffen wird. Nicola Jährig ist dennoch überzeugt davon, dass dieser demokratische Weg langfristig die besten Ergebnisse liefere.

Und sie sieht in der Arbeit mit flachen Hierarchien einen weiteren, entscheidenden Vorteil: „Wenn sich Mitarbeitende einbringen dürfen und Verantwortung für Themen übernehmen, die sie persönlich begeistern, dann steigt die Motivation und damit auch die Effizienz.“ Dass das Konzept auch nach außen Strahlkraft hat, zeigen die vielen Initiativbewerbungen, die bei oose eingehen: „Die Organisationsstruktur ist dabei oft ein Thema.“

Neben oose setzen auch andere Hamburger Firmen auf flache Hierarchien. Das 2001 gegründete Getränke-Unternehmen Premium-Kollektiv beispielsweise arbeitet weitgehend hierarchiefrei, mit Einheitslohn und freier Wahl von Arbeitsort, -zeit und -umfang. Ebenso wie die Software- und Dienstleistungs-Firma ePages, bei der Gründer Wilfried Beeck bereits 2011 die Unternehmensstruktur komplett umkrempelte. Seitdem gibt es flache Hierarchien und flexible Arbeitszeiten. Das Team besteht aus mehr als 100 internationalen Kollegen in Hamburg, New York, London, Barcelona und Jena. Und auch große Firmen denken um: Bei der Deutschen Bahn arbeiten immer mehr Teams und Abteilungen agil und selbstorganisiert.

Immer mehr Branchen denken um
Judith Andresen begleitet seit zwölf Jahren als Coach für Agiles Arbeiten Unternehmen bei ihrer Transformation. Auch sie beobachtet die Veränderung in der Wirtschaft: „Am Anfang haben wir nur mit IT-Unternehmen zusammengearbeitet. Dann haben wir viele Verlage beraten. Mittlerweile kommen aber auch immer wieder neue Branchen hinzu, beispielsweise Versicherungen und Banken.“ Diese würden sich vor allem mit der Frage beschäftigen, wie sie mit der Digitalisierung und Automatisierung umgehen sollen. „Geschäftsfelder müssen umgestaltet, neue Arbeitsprozesse entwickelt werden. Werden solche Themen innerhalb eines Teams besprochen, hat das den Vorteil, dass die Mitglieder unterschiedliche Fähigkeiten und Perspektiven mitbringen und das kann dabei helfen, mehrere mögliche Lösungen für ein Problem zu finden“, sagt Andresen.

Sie rät dringend davon ab, Hierarchiestufen in einer Firma plötzlich und radikal abzuschaffen. Denn gerade für Führungskräfte fühle sich solch ein Einschnitt oft wie ein persönlicher Verlust an. Besser sei es, schon im Vorfeld zu klären, welche Aufgaben die Führungskraft bisher hatte und diese erst nach und nach umzuverteilen. „Die Frage ist dann, was sie mit ihrer neu gewonnenen Zeit und Energie machen kann, beispielsweise dem Team weiterhin beratend und unterstützend zur Seite stehen. Ich habe sehr oft erlebt, dass sich die ehemaligen Führungskräfte dann am Ende sogar als selbstwirksamer erleben als vorher, weil die Organisation insgesamt mit flacheren Hierarchien besser funktioniert.“ Die Teammitglieder würden mehr schaffen, die Führungskraft hingegen habe mehr Zeit für strategische Gedanken, zum Beispiel welche neuen Projekte im Unternehmen umgesetzt werden könnten. „Allerdings muss man da auch viel Geduld haben. Alle Beteiligten müssen ihre neuen Rollen erstmal finden“, sagt Andresen.

Wie lange es dauert, um eine hierarchische Unternehmensstruktur in ein agiles System zu verwandeln, sei zudem ganz unterschiedlich: „Eine allgemeine Regel besagt, dass ein Kulturwandel etwa sieben Jahre braucht. Veränderungen entstehen im Machen. Und erste Erfolge und verändertes, innovatives Verhalten wird sich nach wenigen Wochen zeigen. Je mehr Menschen in einer Firma arbeiten, desto länger dauert der vollständige Wandel in allen Denkweisen – die Transformation als Solches startet also früher.“ Und letztlich seien flache Hierarchien auch kein Allheilmittel: „Immer dann, wenn Aufgaben gut beschreibbar und der Handlungsspielraum für Entscheidungen klar definiert ist, macht es Sinn, Hierarchiestufen nach dem Auszubildener-Geselle-Meister-Prinzip zu haben. Denn am Ende trifft dann der die Entscheidung, der die meiste Erfahrung hat. Für manche Menschen kann es ja auch erfüllend sein, am Ende des Tages zu sagen: Das war die Aufgabe und die habe ich erfüllt.“

Strenge und flache Hierarchien müssen sich auch nicht zwingend ausschließen, meint Andresen: „Was erfolgreiche Firmen auszeichnet ist, dass sie je nach Komplexität ihrer einzelnen Abteilungen unterschiedlich strukturiert sind. Es kann also gleichzeitig eine Abteilung geben, die selbstorganisiert arbeitet und eine andere, die streng hierarchisch aufgebaut ist. In einem Serviceunternehmen hat beispielsweise das Callcenter eine andere Komplexität als die Rechtsabteilung. Am Ende ist es am wichtigsten, dass wir das Gefühl haben,
dass das was wir arbeiten auch wirklich sinnvoll ist.“

5 TIPPS FÜR DEN GELUNGENEN KULTURWANDEL

  1. 1. STATUS QUO ERMITTELN
    Sollen Hierarchien verflacht werden, sollte im Vorfeld geprüft werden, wie es um Kommunikationsfähigkeit und Selbstmanagementfähigkeit der Mitarbeitenden steht. Wer steht der Veränderung aufgeschlossen gegenüber, wer braucht noch ein spezielles Coaching?.
  2. 2. KEINE ANGST VOR DEM SCHEITERN
    In komplexen Unternehmen werden vor Umstrukturierungen oft Risikoanalysen gemacht. Scheitert eine neue Methode, sind die Folgen nicht so schwerwiegend und führen stattdessen zu neuen Erkenntnissen.
  3. 3. SCHRITTWEISE VERÄNDERN
    Eine neue Struktur für das gesamte Unternehmen am Reißbrett zu entwerfen, funktioniert nicht. Sinnvoller ist es, kleinere Veränderungen in einzelnen Abteilungen umzusetzen. So können Lernzyklen entwickelt werden, die sich auf weitere Abteilungen übertragen lassen.
  4. 4. DYNAMISCHES MACHTGEFÜGE
    Um in Entscheidungsprozessen zu verhindern, dass ein demokratisches Team endlos diskutiert, kann es helfen, die Rolle des Entscheidungsträgers innerhalb des Teams von Projekt zu Projekt rotieren zu lassen. Die Teammitglieder erleben sich dabei oft selbstwirksamer.
  5. 5. EXPERTEN INS BOOT HOLEN
    Externe Coaches unterstützen und begleiten die Mitarbeitenden und Führungskräfte während der Umstrukturierung. Sie geben Orientierung und können alle Beteiligten gleichsam motivieren.
Text: Lena Johanna Philippi Illustration: Nathalie Sodeikat