Die Fahrten sind kürzer, die festen Tischzeiten aufgehoben. Und statt Smoking und Abendkleid tun es auch ein Sakko und das „Kleine Schwarze“. Die „Europa 2“ bietet die etwas legerere Version einer Luxus-Kreuzfahrt.  

Niemand, der jemals näher mit Schiffen zu tun hatte, wird bestreiten, dass ein Schiff ein lebendiger Organismus ist. Und dass es eine Seele hat, die alle umgibt, die auf ihm fahren. Beides muss wachsen und sich entwickeln und so entstanden über die Jahre vier Schiffe, aus denen schließlich in diesem Frühjahr, schneeweiß und 225 Meter lang, die „Europa 2“ hervorging – das neue Flaggschiff von Hapag-Lloyd Kreuzfahrten. Die erste „Europa 2“ kreuzte noch schemenhaft über das uferlose Meer der Ideen und bekam wohl bei einem der alljährlichen Strategie-Workshops erste Konturen. Das war im Jahr 2007.

Die zweite „Europa 2“ fuhr als Konstruktionszeichnung durch ein Meer von Zahlen, in denen sich ihre mathematisch-physikalische Existenz bereits so weit konkretisiert hatte, dass Henning Brauer als Erster das neue Schiff in seiner ganzen Form und Größe klar vor Augen hatte. Die Zahlen waren schließlich von ihm und seiner Abteilung geschaffen worden, denn der promovierte Ingenieur Brauer war der Bauleiter der „Europa 2“. Inzwischen war es Januar 2010 geworden.

Vier Schiffe zum Ziel

Nur zwei Monate später war die dritte „Europa 2“ bereits acht Meter lang und hing als maßstabgetreues Miniaturmodell in einer riesigen Röhre, wo ein Ventilator von vier Metern Durchmesser ihm alle erdenklichen Winde um Decks und Schornstein blies. Nach diesen Messungen im Strömungskanal wurden die Aufbauten so optimiert, dass der Seewind später den Passagieren in ihren Deckstühlen weder die Zeitung aus den Händen reißen konnte noch ihnen, wie Hennig Brauer es ausdrückt, „die Heizerflöhe in die Kaffeetassen wehte“, die unvermeidlichen Rußpartikel aus dem Schornstein.

Erst die vierte „Europa 2“ hatte Wasser unter ihrem Kiel. Zwölf Meter lang rollte sie durch Strömung und Wellen, denen sie beim „Badewannentest“ im Schleppkanal der größten Schiffssimulationsanlage Europas, im holländischen Wageningen, ausgesetzt wurde. Das war im Juli 2010. Und noch immer mussten 14 Monate vergehen, ehe auf der Werft die Stahlplatten geschnitten wurden, aus denen schließlich der erste fertig montierte Rumpfabschnitt zur Kiellegung von einem Kran ins Dock hinabschwebte. Am Donnerstag, den 1. März 2012. Danach ging alles, gemessen an der schieren Größe des Objekts und der Komplexität seines Innenlebens, sehr schnell. Ein Jahr später näherten sich geschätzte drei bis vier Millionen Arbeitsstunden am Schiff, von den fünfzig Ingenieuren zu Beginn der Bauphase bis zu den zuletzt täglich 1100 Arbeitern an Bord, ihrem Ende. Rund 25 000 Verbrauchsartikel hatten ihren Platz, Form und Design gefunden, auch wenn sie noch nicht alle an Bord waren. Eine hohe dreistellige Anzahl von Lieferanten hatte ihre Schuldigkeit getan.

Leinen los!

Fast auf den Tag genau ein Jahr nach Kiellegung im Trockendock legte die „Europa 2“ von der Ausrüstungspier der STX Werft in Saint Nazaire zur Probefahrt ab, drehte in das Fahrwasser der Loire-Mündung ein und fuhr zum ersten Mal aufs Meer hinaus. An Bord die beiden Männer, die für Organismus und Seele des Schiffs maßgeblich verantwortlich waren: Bauleiter Dr. Henning Brauer und Julian Pfitzner, der leitende Produktmanager der „Europa 2“. Und natürlich der Kapitän, Friedrich Jan Akkermann. „Wir verhält sich das Schiff in Fahrt bei voller Leistung der Maschinen? Wie sprechen die Stabilisatoren, die Ruder an beim Navigieren von Manövern…“, begann Akkermann seine Checkliste für die Probefahrt. Würde sich für ihn die Realität auf See so erweisen, wie sie sich Henning Brauer und seinem Team in rund zwanzigfacher Verkleinerung im Schleppkanal gezeigt hatte? Würden die neue Rumpfform und die Gewichtsersparnis durch die fortschrittliche Konstruktionstechnik den Treibstoffverbrauch im errechneten Ausmaß reduzieren, der Katalysator im Schornsteinschacht den Ausstoß von Kohlendioxyd im erhofften Ausmaß reduzieren?

Doch nicht allein die Technologie des Schiffsbaus hatte sich in etwas mehr als einem Dutzend Jahren seit dem Bau der ersten „Europa“ verändert, sondern auch Arbeitswelt und Freizeitverhalten der Menschen. Und dabei eine Innenwelt geschaffen, die aus neuen Bedürfnissen, Ansprüchen, Wünschen bestand. Aus dieser Innenwelt heraus wurde das neue Schiff geboren. „Die etwas modernere, legerere Version einer Luxus-Kreuzfahrt“, wie es Dr. Wolfgang Flägel aus der Geschäftsführung zusammenfasst.

Kein Bordleben mehr mit striktem Dresscode, kein traditionelles Captain‘s Dinner. Das Gala-Zeremoniell sowie die festen Tischordnungen und Tischzeiten mit „first sitting“, „second sitting“ umgewandelt in Individualität und Flexibilität. Freie Restaurantwahl, Zweiertische… Ein anderes Lebensgefühl.

„Früher war die Kreuzfahrt die Traumreise am Ende des Berufslebens“, erklärt Julian Pfitzner. „Heute haben wir viele Gäste, die mitten im Beruf stehen, noch für ihre Kinder sorgen müssen und sich auf einer Kreuzfahrt kurzzeitig erholen wollen. Die wollen nicht wie auf der traditionellen Kreuzfahrt einen durchgeplanten Tag, weil sie den ja schon zu Hause im Terminkalender stehen haben.“ Wenn der Produktmanager der „Europa 2“ das Lebensgefühl an Bord beschreibt, vergleicht er es gerne mit dem in einer Stadt. Gehen wir heute früh oder spät zum Essen? Mit Freunden oder allein? Italienisch, chinesisch, französisch? Und wo bleiben die Kinder? Im „Knopf-Club“, der „Kita an Bord“. Acht Restaurants und durchgehende Tischzeiten garantieren die Freiheit der Wahl.

Und weil das private Refugium ebenso wie körperliche Fitness in der modernen Gesellschaft an Bedeutung gewonnen haben, sind die Suiten der Passagiere größer, Wellness und Spa-Bereich an Bord ausgedehnt worden. Das alles muss berechnet und vorausempfunden werden. Kein Wunder, dass es bei Julian Pfitzner fast ein Jahr länger dauerte als bei seinem Kollegen Brauer, bis er „seine Europa 2“ zum ersten Mal konkret vor dem geistigen Auge hatte.

4000 Löffel an Bord

„Das war zum Jahreswechsel 2010/11“, erzählt er. „Als wir noch einmal intensiv die Farbgebung der einzelnen Suiten, Fußbodenbeläge, Lampen, Stoffe durchgegangen waren. Welches Sofa, welches Geschirr.“ Dass für jeden Gast sechs verschiedene Löffel vorgesehen waren, wusste nicht einmal er als Produktmanager. Bei 516 Passagieren sind das, Reservelöffel eingerechnet, rund 4 000 Löffel. „Ein Silberschatz an Bord“, sagt Pfitzner noch heute mit leichtem Erstaunen.

Und dabei wusste er damals noch gar nicht, dass er ein dreiviertel Jahr später für drei Monate jede Woche in einem anderen Bettzeug schlafen würde, um einige Fragen im obersten Luxussegment zu klären: Was für Bettlaken nehmen wir? Wie hoch soll ihr Anteil von Baumwolle sein? Eiderdaunen oder Gänsedaunen? Wie viel Kassetten für die Bettdecken? Detailfragen, um der Passagierseele zu geben, wonach sie verlangt: zu Hause zu sein in einem riesenhaften Organismus.

Fest stand beinahe von Anfang an allein der Name des neuen Schiffs. „Denn ‚Europa‘ ist ein Markenzeichen für höchsten Luxus auf See“, erklärt Wolfgang Flägel. Seit ihrer Indienststellung 1999 ist die ältere Schwester „Europa“ das einzige Kreuzfahrtschiff der Welt, das mit dem Prädikat „Fünf-Sterne-plus“ die Meere befährt. „Der Name“, sagt Flägel, „ist ein Signal.“ Und mehr als das. Denn es ist ein uraltes Bedürfnis des Menschen, im Namen die Seele zu beheimaten: Bei einem Kind, einem Berggipfel – und auch bei einem Schiff.

INFOS ZUR MS EUROPA 2
Länge: 225,38 m
Breite: 26,70 m
Tiefgang: 6,30 m
Leistung: 24000 kW
Geschwindigkeit: 21 Knoten
Passagierdecks: 7
Passagiere: 516
Suiten: 251
Crewmitglieder: 370
Bordsprache: deutsch
Themen: Golf- und Familienreisen
Routen: westliches und östliches Mittelmeer, arabische Halbinsel und Asien
Indienststellung: Mai 2013

 

Text: Uwe Prieser

Uwe Prieser ist Schriftsteller und Journalist. Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit dem Egon Erwin Kisch-Preis ausgezeichnet.