JOJA WENDT ist ein international erfolgreicher Pianist, Komponist, Autor von Büchern sowie begnadeter Erzähler. Ein Gespräch über das Chaos als Inspiration und warum es wichtig ist, Menschen auch in Konzerten an die Hand zu nehmen.

club!: Herr Wendt: Gibt es für Sie Langeweile?
JOJA WENDT: Langeweile ist nicht gleich Langeweile. Man sagt, wenn sich Kinder langweilen, werden sie kreativ. Ich war mit einer chinesischen Delegation in Borneo auf einem Markt. Hinter einem Stand spielten Kinder. Sie hatten sich aus Pappkarton eine Murmelbahn gebaut. Weil Chinesen oft fragen, woher ich meine Ideen habe, sagte ich: ,Das passiert, wenn Kinder sich selbst überlassen sind. Sie füllen ihre Zeit mit etwas, das ihnen Spaß macht‘. Diese Art von Langeweile kenne ich. Ich nenne sie geplante Langeweile, und sie ist sehr fruchtbar für meinen Beruf.

Vielfalt prägt Ihr Leben und Ihre Musik …/strong>
WENDT: … neudeutsch diversity … (heftiges Gelächter von Wendt, der am liebsten und lautesten über sich selbst lacht – wie er sagt).

Woher kommt sie? Gene, Erziehung, Lebenserfahrung?
WENDT: Es ist das Interesse an vielen Dingen. Wenn man sich Neugier bewahrt und hingibt, dann kommen aus vielen verschiedenen Ecken Inspirationsquellen. Das war auch musikalisch bei mir so. Ich habe mich nicht nur für Jazz interessiert, oder nur Klassik, nur Popmusik. In jedem Genre habe ich etwas gefunden, was mir gefallen hat. Mir kommen auch heute noch Ideen, wenn ich Musik höre, die ungewöhnlich ist. Das berührt mich, fließt in meine Kunst ein. Wenn man mit offenen Ohren und Augen durch die Welt geht, entdeckt man viele, tolle Dinge.

Das reicht aus, um kreativ zu sein?
WENDT: Das klingt jetzt doof, aber manchmal muss man sich Interesse auch erarbeiten, indem man sich zwingt, in neue, frische Situationen zu gehen.

Manche Menschen brauchen die Sicherheit zu wissen, was in der Zukunft passiert. Sie sind nicht neugierig.
WENDT: Das ist das Ende von Kreativität. Wenn alles geregelt ist, denkt man nicht mehr ,out of the box‘, wie es so schön heißt. Erst aus dem Chaos entsteht Neues. Erst wenn man Auswählen zulässt, kann man zwei Enden zusammenfügen, mit denen man vorher nicht gerechnet hat.

Sie haben mit vier Jahren angefangen, zu spielen …
WENDT: Alle meine Geschwister, und ich habe acht, spielen Klavier. Zuhause war das Klavier das Zentrum. Daran saßen wir Geschwister, ich war der Jüngste, und haben uns Geschichten erzählt und vertont: der böse Bär, das kleine Vögelchen. Das haptische Erlebnis, auf die Tasten zu hauen, war für mich total natürlich. Seit ich sprechen kann, spiele ich auch Klavier. Man könnte sagen, ich spreche durch das Klavier. Das ist meine Sprache.

Verstehen die Menschen diese Sprache?
WENDT: Ich erkläre sie ihnen. Das macht Musik zugänglicher. Wenn ich erkläre, dass eine Doppel-Helix zwei Stränge sind, die sich miteinander verweben, dann hören die Menschen anders hin. Sie bekommen einen anderen Hintergrund, wenn sie das Stück vorher mal erklärt bekommen. Ich wünsche mir, dass noch mehr Leute wissen, wann Brahms in welcher Zeit und Verfassung seine Sonaten geschrieben hat. Oder welche Lebensumstände herrschten, als Beethoven Klavierkonzerte komponierte. Ich glaube, wer ein paar mehr Worte über seine Kunst verliert, rückt näher ran an den Zuhörer.

Ihre Musik ist geprägt durch Freiräume. Warum?
WENDT: Was gerade los ist überall in der Welt, kann einen schon anfassen. Das Schöne aber ist, sobald ich in die Welt der Musik eintauche, gibt es diese territoriale Welt nicht mehr, diese Art von Egoismus, dann zerfließen die Grenzen. Es mag arrogant klingen, aber manchmal denke ich, ich bin in einer Welt, die die anderen nicht entdecken werden, in einer musikalischen Welt, in einer schönen Welt, um sich darin zu verlieren. Das gibt mir emotional, intellektuell, aber auch technisch so viel, das ist Rewarding. Das zahlt zurück – auch wenn einen die Realität meist zurückholt.

Kann man als vielreisender Pianist Politik ignorieren?
WENDT: Es bringt nichts, sich vor Reisen politisch negativ zu äußern. Das hilft keinem. Aber ein Konzert in einem als schwierig eingeordneten Land zu geben, tut man für die Menschen dort, die vielleicht danach dürsten. Und da ich für mein Leben gern reise und schon in vielen politisch schwierigen Ländern war, weiß ich, was man machen kann, um ein bisschen zu helfen: reden! Man muss nicht auf Konfrontationskurs gehen, einfach die Dinge benennen, weitererzählen. Die Luft ist schlecht. Euer Leben ist bedroht. Redet darüber. Jeder Mensch will Frieden, will auf Augenhöhe mit den anderen leben.

Verändern Ihre Auftritte etwas?
WENDT: Ich erlebe ganz oft, dass es plötzlich heißt, ihr Germans seid ja gar nicht so steif, wie wir dachten! Ihr seid viel lustiger, emotionaler. So wie ich meine Musik präsentiere, verändere ich den Blick auf die Deutschen viel mehr, als wenn ich mit erhobenem Zeigefinger alles besser weiß.

Wie sind die weltweiten Reaktionen auf Ihre Musik?
WENDT: In China kennen die meisten Klaviermusik. Aber sie sind es nicht gewohnt, jemanden kultmäßig abzufeiern. In Amerika geht es vor allem um Entertainment, mitmachen, um Show. In Europa ist es ein Mittelding aus Inhalt und Unterhaltung. Und in Afrika habe ich mal vor 6.000 Zuhörern gespielt. Die sind ausgeflippt, waren ungehemmt, haben fröhlich mitgemacht und getanzt. Der gesamte Körper war in Bewegung. Ob das dem Nachbarn gefällt oder nicht, war denen egal.

Gab es jemals einen Weg ohne Musik?
WENDT: Dass ich einmal Konzertpianist werden würde, viele Leute unterhalte, das hatte ich so nicht geplant und hätte auch anders kommen können. Den Job, den ich mache, den gibt es ja gar nicht. Ich habe keinen Chopin-Wettbewerb gewonnen, habe nur einen Jazz-Award. Ich bin als Straßenköter auf die Bühne gekommen, habe mich so durchgewurstelt. Die Chance war eins zu einer Million, es zu schaffen. Es war viel Zufall dabei. Wäre es anders gekommen, hätte ich auch diesen Platz ausgefüllt.

Gibt es Kritiker, die Ihre Kunst schlecht reden …?
WENDT: Tatsächlich bekomme ich keine schlechten Kritiken – vielleicht, weil ich nicht einzuordnen bin. Kritiker sagen, er spielt gut Piano, will aber kein Pianist sein, der jede Note so spielt, wie sie auf dem Papier steht. Als Künstler bewegt er sich zwischen den Welten, das macht es schwierig, seine Kunst zu interpretieren. Er unterhält auf vielfältige Art und Weise, die vielen Menschen gefällt. Die meisten Maßstäbe passen nicht auf ihn. Das ist super für mich. Manche Kritiker schreiben gar nicht über mich.
Aber was will man mir auch vorhalten?

Gibt es eine bestimmte Zielgruppe?
WENDT: Es ist offensichtlich, dass mich die Menschen lieben. Vielleicht nicht nur wegen der Musik, aber als Gesamtpaket mit großer Bandbreite. Alle merken, ich bin ihnen zugewandt. Ich mag es, Menschen an die Hand zu nehmen. Für mich gibt es kein ,wir da oben, ihr da unten‘. Ich möchte, dass der Professor meine Musik mag und versteht, aber auch der Klempner. Ich freue mich, wenn der Handwerker sagt, Mensch, du bist ja lustiger als Mario Barth. Und wenn der Hochschulprofessor sagt, ich mag diese vorweggenommenen Analysen. Jeder, der mir zuhört, soll an dem Abend etwas finden, das ihn berührt und dabei ein gutes Gefühl haben.

Kann man diese Beziehung beschreiben?
WENDT: Es ist der Rhythmus in der Menge, der wichtig ist. Ich spiele Stücke aus verschiedenen Genres, aber es ist der Rhythmus, der plötzlich eine Einheit erzeugt. Das ist etwas, das die Leute vereint. Der Rhythmus macht, dass gemeinsam geklatscht und gesungen wird. Dass sich alle wohlfühlen und freuen, Teil dieses Ganzen zu sein.

Sie spielen bei Carmen Nebel im TV oder beim Heavy-Metal-Festival Open Air auf. Wie passt das zusammen?
WENDT: Nicht alles, was ich mache, erreicht das Publikum. Aber alles, was ich mache, mache ich aus Spaß und der Lust am Ausprobieren …

… auch in Wacken bei Heavy-Metal-Fans …?
WENDT: Tatsächlich plane ich in diesem Sommer in Wacken eine Premiere: ein Soloauftritt von mir. Ob das funktioniert? Keine Ahnung. Die Fans erwarten natürlich, dass es richtig dengelt mit Schlagzeug und so. Das muss ich am Klavier hinkriegen, und dass sie auch etwas Ruhiges von mir mögen. Ich bin gespannt. Mein Klavierlehrer hat damals schon gesagt, du musst für jeden Moment das richtige Repertoire haben, die richtige Atmosphäre schaffen. In Hamburg habe ich beim Konzert vielleicht ein Heimspiel, weil mich viele Leute kennen. In Hannover ist das vielleicht nicht so. Da fange ich von vorn an, muss die Leute erst einmal von mir überzeugen. Jeder Moment in einem Konzert hat seinen Sinn.

Gibt es ein Bekanntheits-Ranking? Hamburg first, dann Deutschland, dann Ausland?
WENDT: Der Normalbürger hat mich wahrscheinlich nicht auf dem Zettel. Trotzdem bin ich seit zehn Jahren der am besten verkaufende Pianokünstler. Damit meine ich Ticketverkäufe. Also ja, ich bin erfolgreich, aber viele Menschen kennen mich nicht.

Sie treten mit vielen bekannten Künstlern auf. Gibt es manchmal Neidgefühle auf die Karrieren anderer?
WENDT: Man guckt schon, was die anderen so machen. Ein Götz Alsmann, Til Brönner, Martin Tingvall oder Nils Landgren beispielsweise. Aber Neidgefühle? Nein! Ich kann gut gönnen. Unser Kreis ist so klein und der Kuchen auch. Wir sind so wenige. Mit einigen bin ich befreundet. Ich sage, lasst uns noch mehr zusammenrücken und uns alles gegenseitig gönnen.

Sie treten mit vielen bekannten Künstlern auf. Gibt es manchmal Neidgefühle auf die Karrieren anderer?
WENDT: Man darf Ruhm nicht zu wichtig nehmen. Ich war so oft in Gruppen, wo niemand wusste, wer ich bin. Und trotzdem wurde es ein wunderbarer Abend. Wenn du das verstanden hast, kannst du nach dem Konzert nach Hause gehen und bringst den Müll runter. Man darf das rauschhafte Gefühl, das man vielleicht auf der Bühne hat, nicht überbewerten. Man ist deshalb kein besserer Mensch.

Stichwort Authentizität …?
WENDT: Menschen sind nicht doof. Die durchschauen sofort, wenn du nur eine Rolle spielst. Die merken aber auch, das ist der echte Joja. Der traut sich was, der macht auch Fehler. Der lacht über sich. Meine eiserne Regel ist: nie über andere lachen, lass deine Gäste strahlen. Und: nie unter die Gürtellinie. Das hat weder Stil noch Anstand.

Ist das Lebenserfahrung?
WENDT: Veranlagung ein bisschen, vor allem aber Geschwister. Es gibt kein besseres Regulativ. Es gibt niemanden, der dir ungeschminkter Wahrheiten sagt. Geschwister sind so nah an dir dran, wie kaum jemand anderer. Wir waren zuhause zu acht und haben uns gegenseitig erzogen. Wenn von denen einer sagt, Joja, mach‘ mal den Kopf zu. Es reicht jetzt. Dann weiß ich, er hat recht. Und diesem Urteil vertraue ich. Nicht aus einem Grund, sondern weil es so ist.

JOJA WENDT, 60, studierte am Konservatorium in Hilversum und an der Manhattan School of Music in New York. Zu Beginn seiner Karriere wurde er in einer Hamburger Musikkneipe von Joe Cocker entdeckt und für dessen Tour verpflichtet. Es folgten Auftritte mit Jerry Lee Lewis und Chuck Berry. Inzwischen bereist er auf seinen Tourneen die ganze Welt, betreibt eine Online-Piano-Schule. Wendt komponierte die Filmmusik zu „7 Zwerge – Männer allein im Wald“. Er ist Träger des Louis-Armstrong-Preises, lebt mit Familie in Hamburg.

Gespräch: Martina Goy  Fotos: FABIJAN VUKSIC