Noch nie waren unsaubere Geschäfte für Konzerne so riskant wie heute. Wer sich erwischen lässt, muss nicht nur um sein Ansehen bangen. Auch die Existenz des Unternehmens steht auf dem Spiel. Und das eigene Ersparte.

Ob die Hersteller von Thermoskannen in den vergangenen Jahren besonders gute Geschäfte gemacht haben? Genaue Zahlen sind zwar schwer zu bekommen. Aber es ist ziemlich wahrscheinlich. Seit deutsche Unternehmen – nicht ganz freiwillig – die Welt der Compliance für sich entdeckt haben, stehen Sitte und Anstand wieder hoch im Kurs. Neu eingestellte Mitarbeiter werden noch vor Dienstantritt auf detaillierte Antikorruptionsrichtlinien verpflichtet, potenzielle Geschäftspartner nicht allein nach wirtschaftlichen, sondern auch nach ethischen Gesichtspunkten ausgesucht. Einerseits eine erfreuliche Rückbesinnung auf die wahren Werte. Andererseits hat der neue, alte Moralkodex auch erhebliche Nachteile. Freundliche Gesten etwa sind in diesem System nur noch selten vorgesehen. Der früher obligatorische Kaffee aufs Haus? Längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Zu viele Schweinereinen haben noch bis vor wenigen Jahren mit der Einladung auf eine Tasse Kaffee begonnen. Davon will man sich heute distanzieren. Die Folge: Kunden und Geschäftspartner, die beim Arbeiten etwas trinken wollen, müssen sich immer häufiger selbst versorgen. So macht die Thermoskanne – früher nicht unbedingt das Standard-Accessoire in Managementkreisen – eine unverhofft steile zweite Karriere.

Hanseatische Tugenden
Für manchen Beobachter treibt das Streben nach untadeligem Verhalten inzwischen allerdings recht bizarre Blüten. Denn auch wenn der Begriff Compliance als solcher vergleichsweise jung ist: Letztlich umschreibt er jene Tugenden, die schon im norddeutschen Städtebund der Hanse einen „ehrbaren Kaufmann“ ausgezeichnet haben. Ehrlichkeit, Gesetzestreue und eine Ausrichtung des eigenen unternehmerischen Handelns an gängigen Moralvorstellungen. Verlangt wird also beileibe nichts Unmögliches – und schon gar nichts bahnbrechend Neues. Dennoch, so scheint es, teilt sich die deutsche Wirtschaft gerade in zwei Lager. Die besonders Eifrigen, denen es gar nicht korrekt genug sein kann. Und jene, die sich schwer damit tun, ihre alten, (vermeintlich) bewährten Geschäftspraktiken zugunsten der neuen Compliance-Regeln aufzugeben. Zur ersten Gruppe darf man fast ausnahmslos die Flaggschiffe der Wirtschaft zählen. „Innerhalb der Großkonzerne hat sich in den vergangenen Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass Bestechung und Bestechlichkeit weder Kavaliersdelikte noch legitime Vertriebsmethoden sind“, sagt Michael Weber-Blank, Rechtsanwalt und zertifizierter Compliance-Manager von BRANDI Rechtsanwälte aus Hannover. Mit Gutmenschentum hat diese Entwicklung allerdings wenig zu tun. Ausschlaggebend ist vielmehr knallharter Egoismus. Denn Regelverstöße haben inzwischen oft existenzbedrohende Folgen. Für das Unternehmen. Und für die verantwortlichen Manager.

„Man kann die Bedeutung von Compliance für international agierende Unternehmen gar nicht hoch genug einschätzen“, sagt Natacha Theytaz, Chief Audit & Risk Advisory Executive beim Pharmariesen Roche in der Schweiz. „Integrität, Mut und Leidenschaft“ – so lautet zum Beispiel der Verhaltenskodex bei Roche. Das heißt: „Jeder Beschäftigte, egal ob Geschäftsleitung oder Produktionsmitarbeiter, muss nach diesen Werten handeln. Oder gehen“, so Theytaz. Wie ernst es dem Unternehmen mit dieser Politik ist, belegen die Zahlen: Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 100 Arbeitsverhältnisse wegen Regelverstößen beendet. Eine ähnliche „Null-Toleranz-Strategie“ propagieren auch viele hiesige Großkonzerne. Der Schmiergeldskandal bei Siemens, aber auch der mangelnde Datenschutz bei der Deutschen Telekom oder der Deutschen Bahn haben die Führungsetagen der Wirtschaft aufgeschreckt. Angesichts der nicht enden wollenden Negativschlagzeilen ist überdies der Gesetzgeber in einen bemerkenswerten Aktivismus verfallen und hat in den vergangenen Jahren eine wahre Flut neuer Gesetze erlassen, die der Kungelei im Geschäftsleben einen Riegel vorschieben sollen. Entsprechend umfangreich ist die Liste der Folterinstrumente, mit denen Regelverstöße geahndet werden können. Da wären zunächst die Geldbußen, die seit der jüngsten Novelle im Jahr 2013 bis zu zehn Millionen Euro bei vorsätzlichen Taten betragen können. Hinzu kommt, dass Behörden bei einem nachgewiesenen Compliance-Verstoß regelmäßig den gesamten Vermögenszufluss aus dem Verstoß brutto abschöpfen dürfen, das heißt, ohne dass der Unternehmer seine Betriebsausgaben oder Steuern abziehen kann. „Das tut selbst Dax-Konzernen richtig weh“, sagt Anwalt Weber-Blank. Viele Mittelständler würden solche Sanktionen gar nicht überleben

Lernen durch Schmerzen
Doch nicht nur das Unternehmen selbst, auch die Führungskraft, in deren Zuständigkeitsbereich der Fehler passiert ist, bekommt ernsthafte Probleme: Vorstände, Geschäftsführer und Aufsichtsräte haften für die Verletzung von Organisations- und Aufsichtspflichten persönlich. Etliche „Tathandlungen“ werden mit Gefängnisstrafen sanktioniert. Und weil die meisten Haftpflichtversicherungen für Manager (sogenannte D&O-Policen) bei „wissentlichem Fehlverhalten“ des Betreffenden nicht greifen, stehen die Betreffenden für die Schäden nicht selten mit ihrem Privatvermögen ein – unbegrenzt, versteht sich. Das gilt selbst dann, wenn sie das Unternehmen schon lange verlassen haben. Selbst wer alles Menschenmögliche getan hat, um Schaden von seinem Arbeitgeber abzuwenden, ist noch nicht auf der sicheren Seite. „Es genügt nicht mehr, alles richtig zu machen – man muss es auch beweisen können“, sagt Weber-Blank. Und das bedeutet: Nur wenn Bemühungen auch minutiös dokumentiert sind, können Manager eine Krise unbeschadet überstehen. Spaß machen solche Fleißarbeiten selten. Dennoch sollten Führungskräfte diesen Punkt nicht auf die leichte Schulter nehmen. Eine umfassende Dokumentation ist nämlich noch aus anderen Gründen unumgänglich. „Die neuen Compliance-Regelungen dienen nicht allein dem Erhalt von Transparenz und unternehmerischer Kultur“, warnt Weber-Blank. Sie sind auch zu einem effektiven Hebel geworden, um sich auf elegante Weise von Führungskräften zu trennen, die in Ungnade gefallen sind. „Wo man früher die Spesenabrechungen ins Visier nahm, wenn man einen Vetriebler oder Geschäftsführer loswerden wollte, kann man heute ebenso gut nach Compliance-Verstößen fahnden. Die Erfolgsquote ist ähnlich hoch“, so der Experte.

ist der Ruf erst ruiniert….
Dennoch ist und bleibt es die Angst vor Imageschäden, die Unternehmen und Manager am stärksten umtreibt. Nicht zuletzt, weil mit ihnen auch die massivsten finanziellen Schäden einhergehen. „Die Öffentlichkeit reagiert inzwischen ausgesprochen sensibel auf Berichte über unlautere Geschäftsmethoden oder gierige Wirtschaftsbosse“, warnt Anwalt Weber-Blank. „Einmal in den Negativschlagzeilen – schon brechen Aufträge weg oder bleiben die Kunden aus.

Auch kann der Aktienkurs eines Unternehmens in solchen Fällen schnell mal um ein paar Prozentpunkte absacken. Dann wird es richtig teurer.“ Aus diesen Gründen beschäftigen die deutschen Großunternehmen inzwischen fast ausnahmslos ihre eigenen Compliance- Officer samt angehängter Rechtsabteilung. Bei den kleineren und mittleren Unternehmen hingegen wähnte man sich lange unterhalb des Radars von Staatsanwaltschaft und Öffentlichkeit – und machte erst einmal weiter wie bisher. Doch die Zeiten ändern sich.

Sündenfall Stadion
Große Konzerne verlangen ihre eigenen Standards inzwischen selbst dem kleinsten Zulieferer ab und lassen sich die Einhaltung der Reglements schriftlich zusichern. Spätestens damit ist das Thema Compliance auch im Mittelstand angekommen. Und die Verunsicherung ist groß: Zählt eine Einladung zum Essen schon als Bestechung? Wie steht es mit Blumengründen zum Geburtstag? Der Flasche Whiskey zu Weihnachten? Oder dem Freiticket für die Fußball-WM?

Vieles von dem, was gestern akzeptiert und üblich war, scheint heute kriminell zu sein. Der frühere EnBW-Vorstandsvorsitzende, Utz Claassen, kann davon ebenso ein Lied singen wie Dieter Reiter, aktueller Kandidat der SPD für das Amt des Münchener Oberbürgermeisters. Claasen musste sich vor Gericht verantworten, weil er einst Fußballtickets an wichtige Politiker verschenkt hat. Reiter steht – mitten im Wahlkampf – am Pranger, weil er einer ebensolchen Einladung gefolgt ist. Ohne gegen geltendes Recht zu verstoßen, wohlgemerkt. Unternehmen und deren Mitarbeiter, die sich dem Thema Compliance erstmalig nähern (müssen), wird die Arbeit dadurch nicht unbedingt erleichtert. Nette Geste oder verbotene Bestechung? Die Beantwortung dieser Frage ist im Einzelfall ausgesprochen schwierig.

„Die rechtlichen Anforderungen müssen in den meisten Fällen unternehmensspezifisch konkretisiert werden“, sagt Christina Stecker, Partnerin im Bereich Governance Risk und Compliance bei PricewaterhouseCoopers in Hamburg. Viele Firmen behelfen sich angesichts dieser Herausforderung mit selbst gesteckten Obergrenzen und verböten beispielsweise die Annahme von Geschenken mit einem Wert von mehr als 30 Euro. Das klingt nach einem gangbaren Weg, der klare Limits vorgibt. Eine Stehplatzkarte beim Fußballspiel könnte man nach dieser Lesart durchaus noch verschenken bzw. annehmen. In die VIP-Lounge hingegen dürfte man selbst gute Kunden nicht mehr einladen – geschweige denn, einer solchen Einladung Folge leisten. Die hausgemachten roten Linien haben nur einen gewaltigen Schönheitsfehler: Sie sind nicht mehr als eine Orientierungshilfe und schaffen – selbst wenn sie minutiös beachtet werden – keine absolute Rechtssicherheit. Das wiederum führt dazu, dass es viele Firmen mit der Korrektheit inzwischen übertreiben (siehe Interview auf der folgenden Seite): Um selbst den kleinsten Anschein eines Compliance-Verstoßes zu vermeiden, werden Workshops am Wochenende inzwischen in Jugendherbergen statt im Sternehotel abgehalten, zum geschäftlichen Abendessen gibt es Tafelwasser statt Spätburgunder – und den Kugelschreiber mit dem Werbelogo des Kunden lässt man auch besser an Ort und Stelle liegen. Man weiß ja nie.

Das Reinemachen geht weiter
Ist das Thema Bestechung und Bestechlichkeit also eigentlich gar keines mehr? Oder anders gefragt: Arbeiten die Unternehmen in Deutschland und Europa am Ende schon zu korrekt, um noch gute Geschäfte zu machen? Die Antwort darauf gibt nun eine aktuelle Studie der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst und Young. Sie belegt: Blütenweiß sind die Westen der Manager noch immer nicht.

Auch weiterhin hält es jeder siebte westeuropäische Manager für übliche Praxis, dass in seiner Branche Aufträge mithilfe von Bestechung an Land gezogen werden. In Deutschland sagen das immerhin noch neun Prozent der Befragten. Erstaunlich viele Manager können es sich außerdem vorstellen, in Notsituationen dem Geschäftserfolg mit unlauteren Mitteln nachzuhelfen. So halten von den westeuropäischen Managern 13 Prozent (Deutschland: sieben Prozent) Bestechung von Geschäftspartnern für gerechtfertigt, wenn auf diese Weise ein Unternehmen über einen Wirtschaftsabschwung hinweggerettet werden kann. Doch der Preis heiligt nicht die Mittel. Die Unternehmen müssen sich darüber im Klaren sein, dass Bestechung kein Kavaliersdelikt ist und das Gesetzestreue und Ehrlichkeit für alle gilt.

 

DIE GRÖSSTEN COMPLIANCE-IRRTÜMER

Compliance kostet viel und nützt nur wenig.
Falsch. Die Einführung und überwachung entsprechender Regeln mag aufwändig und kostspielig sein. Der Verzicht darauf kann jedoch existenzvernichtend werden. Tipp: „Idealerweise sollten Unternehmen Compliance nicht als lästigen Kostentreiber, sondern als Chance betrachten, sich werbewirksam nach außen darzustellen und so für mehr Vertrauen bei allen Anspruchsgruppen, etwa Patienten, Investoren und Aufsichtsbehörden, zu sorgen“, rät Roche- Expertin Theytaz. Dass das funktionieren kann, beweise die Entwicklung in ihrem Unternehmen: „Als einziges der zehn größten Pharmaunternehmen in den USA hat Roche bis heute kein sogenanntes Corporate Integrity Agreement (CIA) mit den Behörden schließen müssen.“ Allerdings habe man auch bei Roche die Bedeutung von Compliance auf die harte Tour lernen müssen, als das Unternehmen im sogenannten „Vitaminfall“ wegen illegaler Preisabsprachen hohe Bußgelder zahlen musste.

Je strenger die Regeln, desto besser die Compliance
Schön wär‘s. Kodizes oder Richtlinien bilden zwar eine gute Basis – mehr aber nicht. Maßgeblich ist vor allem, dass auch und gerade die Führungsebene diese Regeln vorlebt. Ein professionelles Compliance-Management und regelmäßige überwachung auf allen Ebenen sind elementar. „Allerdings ersetzen Kontrollen nicht eine gelebte, saubere Unternehmenskultur“ so Theytaz. Effektive Compliance beginne daher in der Chefetage. „Von dort muss sie dann ins ganze Unternehmen getragen werden.“

Compliance ist ein Modethema. Das legt sich wieder.
Falsch. Kein international operierendes Unternehmen wird es sich auf absehbare Zeit noch leisten können, sich diesem Thema zu verschließen. Mehr noch: Sogenannte Compliance- Zertifizierungen, etwa nach dem „Standard für Compliance Management Systeme (TR 101:2011)“, dürften in Zukunft sogar immer häufiger zur Bedingung für eine Zusammenarbeit werden.

Text: Dr. Catrin Gesellensetter
Illustration: Jasmin Nesch

Dr. Catrin Gesellensetter arbeitet als Wirtschaftsjournalistin in München. Die gelernte Juristin hat eine ausgeprägte Vorliebe für Karrierethemen und alles, was Recht ist. Sie schreibt unter anderem für Capital, das Handelsblatt und die Süddeutsche Zeitung.