Immer häufiger wünschen sich Führungskräfte von Unternehmen die Teilnahme an Mentoring-Programmen. Sie wollen von den erfahrenen Mitarbeitern profitieren und ihre berufliche und persönliche Entwicklung voranbringen.

An die Schmerzen kann sich Tim Karge noch gut erinnern. Er war kurz zuvor den Hamburger Marathon gelaufen, 42,5 Kilometer in vier Stunden und fünf Minuten – und jetzt stand schon wieder der nächste Dauerlauf an. Kein sportlicher, sondern ein mentaler: sein Mentoring-Programm. Ein Jahr lang sollte Karge, heute 51 und Bezirksdirektor bei der Provinzial Nord, alle vier bis sechs Wochen seinen Mentor treffen, um sich auf seinen nächsten Karriereschritt vorzubereiten. Ganz bewusst hatte er sich mit Christian Alpert, 51 und Direktor bei der HSH Nordbank, jemanden dafür ausgesucht, der nicht in den eigenen Unternehmenskosmos und die dortige Hierarchiestruktur eingebunden war – und der genau wie er über ausreichend Puste verfügte.
Wie Karge wünschen sich immer mehr Führungskräfte, an Mentoring-Programmen teilzunehmen – doch offensichtlich erkennt ein Großteil der Unternehmen weiterhin nicht, wie entscheidend ein solches Angebot für die Karriereförderung und Mitarbeiterbindung ist. So zeigt eine aktuelle Untersuchung der Personalberatung Robert Walters, für die mehr als 130 Arbeitgeber und Professionals in Deutschland und der Schweiz zum Thema Schulungs- und Mentoring-Angebote befragt wurden, dass Schulungs- und Mentoring-Programme für 84 Prozent der Beschäftigten wichtig für die individuelle Karriereentwicklung sind. Trotz dieser hohen Nachfrage nach Weiterbildung und Begleitung durch Mentorinnen und Mentoren würden aktuell jedoch nur 38 Prozent der Unternehmen solche Programme für ihre Arbeitskräfte anbieten, um damit einerseits Toptalente im Unternehmen zu halten und gleichzeitig um neue Talente zu werben.
Laut Distatis (Statistisches Bundesamt) ist der Umfang des Weiterbildungsangebots dabei abhängig von der Mitarbeiteranzahl. 95 Prozent der Unternehmen mit mehr als 250 Festangestellten bieten größere Weiterbildungsangebote an, wobei die umfangreichsten Programme Unternehmen aus der Finanz- und Versicherungsbranche sowie Unternehmen der Energie- und Wasserversorgung offerieren. „Nicht zuletzt durch die anhaltenden Diskussionen zu den Themen Fachkräftemangel oder Gender Diversity sind Unternehmen im Zugzwang, die eigenen Talentmanagementstrategien zu hinterfragen und anzupassen. Dies bedeutet vor allen Dingen auch, Toptalente zu überzeugen und High Potentials im Unternehmen zu halten“, erklärt Nick Dunnett, Geschäftsführer von Robert Walters für Deutschland und die Schweiz. Ein möglicher Ansatz bestehe eben darin, das Angebot von Weiterbildungs- und Mentoring-Programmen im eigenen Unternehmen auszubauen. Zumal laut Studie 57 Prozent der Befragten eine/n Mentor/in auf Senior Level als entscheidenden Faktor für den Karrierefortschritt sehen. Insbesondere Senior Professionals würden das Angebot von Mentoring als essenziellen Antrieb für die eigene Karriere bewerten.
Welche Bedeutung Mentoring hat, zeigt schon die jahrtausendealte Geschichte – denn der Begriff „Mentoring“ geht zurück auf die erste geschichtlich überlieferte Mentoring-Beziehung aus Homers „Odyssee“ aus dem achten Jahrhundert vor Christus: Odysseus bat darin seinen Freund Mentor, die Erziehung seines Sohnes Telemachos zu übernehmen, als er seine Heimat Ithaka für den Feldzug der Griechen gegen Troja verlassen musste. Die Beschreibung Mentors als Erzieher, väterlicher Freund, kluger Ratgeber und aufmerksamer Beschützer spiegelt sich noch heute in der Definition von Mentoring wider. Beispielsweise wird häufig eine persönliche und hierarchische Beziehung betont, die auf die Förderung des Lernens, der Entwicklung und das Vorankommen des Mentees durch den Mentor ausgerichtet ist, heißt es in einer Studie zur Effektivität von Mentoring von Heidrun Stöger und Albert Ziegler.
Aber ist ein Mentor damit am Ende nicht genau das gleiche wie ein Coach? Nein, denn während der Coach in der Regel für seine Tätigkeit ausgebildet ist und für das Coaching bezahlt wird, verfügt der Mentor „lediglich“ über einen Erfahrungs- und/oder Wissensvorsprung und übernimmt diese Aufgabe in der Regel ehrenamtlich. Diese Weitergabe von Wissen durch eine Person (Mentor/in) an eine unerfahrenere Person (Mentee) wird als Mentoring bezeichnet mit dem Ziel, den Mentee bei seiner persönlichen oder beruflichen Entwicklung zu unterstützen.
Und das bringt aus Sicht von Gabriele Hoffmeister-Schönfelder, Geschäftsführerin der auf Mentoring spezialisierten Hamburger Personalentwicklung Kontor5 und Autorin des Standardwerks „Mentoring – im Tandem zum Erfolg“, gleich einen „doppelten Gewinn“: „Durch ihre Teilnahme am Mentoring-Programm lernen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Erfahrungen anderer. Sie gehen persönlich gestärkt aus dem Programm hervor – und können in der Folge individuellen Anforderungen besser gerecht werden.“ Mitarbeiter wie Unternehmen würden also gleichermaßen profitieren. Weiter fördert Mentoring den Austausch vorhandenen Wissens innerhalb des Unternehmens, es bricht „Barrieren auf und verbessert das Verständnis für andere Arbeitsbereiche, es erweitert die Kompetenzen und stärkt das Selbstvertrauen“. Es sei eine „ausgezeichnete Chance, die eigene Situation aus der Sicht der Mentorin oder des Mentors zu betrachten. So ein Perspektivenwechsel bringt Themen an die Oberfläche, gibt Denkanstöße und sorgt für eine persönliche Weiterentwicklung.“
Und dabei profitiere am Ende nicht nur der Mentee und sein Unternehmen, sondern auch der Mentor selbst. „Sie sind stolz darauf, fachliche und persönliche Erfahrungen weitergeben zu können und dadurch aktiv an den Fortschritten und der Entwicklung der Mentees beteiligt zu sein. Gleichzeitig bietet ihnen das Programm die Möglichkeit, Sichtweisen zu verändern und den eigenen Horizont zu erweitern“, betont Hoffmeister-Schönfelder, die mit Kontor5 schon mehr als 4200 Tandems betreut hat.
Unterschieden werden muss dabei im Wesentlichen zwischen drei Formen des Mentorings: Internes Mentoring, Cross-Mentoring und Generationen-Mentoring. „Beim internen Mentoring kommen Mentee und Mentorin oder Mentor aus dem gleichen Unternehmen, stehen aber in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander“, erklärt Hoffmeister-Schönfelder. Interne Mentoring- Programme könnten vor allem genutzt werden, um vorhandenes Wissen innerhalb des Unternehmens zu verbreiten und die Kommunikation zwischen verschiedenen Ebenen, Abteilungen oder Standorten zu verbessern. „Durch den Austausch auf Augenhöhe mit einer erfahreneren Führungskraft können die Mentees ihr Wissen erweitern und die Karriere vorantreibe“, sagt Hoffmeister- Schönfelder.
Beim Generationen-Mentoring liege der Schwerpunkt darauf, den Wissenstransfer zwischen den Generationen anzuregen – und zwar nicht zwangsläufi g nach dem „Alte-Hasen- Prinzip“, sondern in beide Richtungen, also auch „Jung hilft Alt“. Dieser Austausch kommt nach Ansicht von Hoffmeister-Schönfelder heutzutage oft zu kurz. „Dabei ist vor allem die Erfahrung älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine wertvolle Ressource. Generationen-Mentoring spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Wissen im Unternehmen zu halten, beispielsweise, wenn ältere Führungskräfte in den Ruhestand gehen“, erklärt sie. Dass jüngere Mitarbeiter die Mentoren-Rolle übernehmen, komme beispielsweise vor, wenn es um die Einführung in neue, vor allem digitale Techniken gehe.
Besonders beliebt aber ist das Cross-Mentoring. Dabei werden Mentee und Mentorin oder Mentor aus unterschiedlichen Unternehmen und Branchen zusammengebracht. „Viele mittelständische Unternehmen schätzen das Prinzip des Cross-Mentorings, weil sie aufgrund ihrer Größe selbst kein internes Programm anbieten können. Und sowohl fachliche als auch persönliche Entwicklungsfragen lassen sich oft mit außenstehenden Gesprächspartnern besser erörtern“, erläutert Hoffmeister-Schönfelder. Auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Personalabteilung oder Revision und in exponierten und vorstandsnahen Tätigkeitsbereichen sei es ideal, ein Tandem mit einer externen Person zu bilden.
So wie bei Tim Karge und Christian Alpert, die als Tandem ebenfalls von Kontor5 zusammengebracht wurden. „Mir ging es darum, Fragen zu meiner beruflichen Weiterentwicklung mit jemandem zu diskutieren und daraus Schritte zu entwickeln, der eben nicht aus der eigenen Unternehmensbierarchie kommt“, erzählt Karge, der vor seiner Beförderung zum Leiter der Bezirksdirektion Abteilungsleiter war. Mit Alpert habe er den perfekten Tandem-Partner gefunden: „Herr Alpert ist nicht etwa mit einem Masterplan gekommen, den er mir einfach überstülpen wollte, sondern er hat meine Überlegungen vielmehr durch gezielte Fragen in die richtige Richtung geleitet.“ Aber nicht nur die Gespräche selbst, sondern auch die intensive Vor- und Nachbereitung seien hilfreich gewesen, um die richtige Entscheidung zu treffen.
Wie aber findet man das richtige Matching? Lebens- und Berufserfahung würden jeweils eine Rolle spielen, empathisch müssten beide sein und zuhören können. „Am Ende ist es oft Bauchgefühl, ob Mentor und Mentee zusammen passen“, erklärt Hoffmeister-Schönfelder. „Bevor das jeweilige Mentoring-Programm startet, lerne ich die Mentees und den Mentoren/die Mentorin persönlich kennen. Aus dem Gespräch werden Profi le erstellt und doese dienen als Grundlage für das Matching. Lernt sich das Tandem kennen, muss geklärt werden ob, die Chemie stimmt. Dies erfragen wir telefonisch kurz nach dem Kennenlerntermin bei beiden Seiten. Das ist essentiell, denn schließlich muss der Mentee dem Mentor vertrauen, um sich ihm öffnen und über persönliche Fragen und vor allem auch Schwächen sprechen zu können.“ Dass der Mentee den Mentor wechsle, komme nur sehr selten vor – der Wunsch danach allerdings häufiger: „Mentoring ist nämlich nicht etwa ein netter Plausch, sondern richtig harte Arbeit an sich selbst. Und nach etwa sechs Monaten kommt es oft vor, dass der Mentee seine Komfort- Zone verlassen und den nächsten Schritt gehen muss – und dann passiert es immer wieder, dass er sich einen Mentor wünscht, der ihn nicht so schubst“, erzählt Hoffmeister- Schönfelder. Das sei nur eine allzu menschliche Reaktion – aber mit einem Telefonat und dem Tipp, genau das doch mal mit dem Mentor anzusprechen, sei das Problem oft schnell erledigt.
Er habe seinen Mentor zwar nie wechseln wollen, aber dennoch sei Mentoring ein anstrengender Prozess, sagt Karge. Mit Christian Alpert hat er dafür aber auch einen Profi an seiner Seite gehabt, bereits zum fünften Mal hat Alpert eine Mentoren-Rolle übernommen. „Ich gebe nicht nur gerne mein Wissen weiter, sondern schätze es, mich durch die Selbstreflektion auch selber weiterzuentwickeln“, betont er. Auch wenn es manchmal schwierig sei, sich zu bremsen, müsse jeder Mentor wissen, dass der eigene Lösungsweg nicht automatisch auch der beste für den Mentee ist. „Es geht eher um Hilfe zur Selbstreflektion als um konkrete Lösungsvorschläge“, betont er.
Nach einem Jahr ziehen sowohl Karge als auch Alpert eine positive Bilanz – und beide können sich in einer jeweils anderen Konstellation vorstellen, die Rollen zu tauschen. Ausdauer haben sie für eine neue Runde zumindest genug.

 

Text: Sonja Álvarez Illustration: Stephan Kuhlmann