Man muss nicht unbedingt laut und extrovertiert sein, um seine Mitarbeiter erfolgreich zu führen. Quiet Leaders verschaffen sich durch ihre ruhige Art und aufmerksames Zuhören Vertrauen und Respekt bei den Mitarbeitern.

Es hört sich fast ein wenig schnöde an, wie die Chefs der deutschen Fußballmannschaften genannt werden: „Trainer“. Da haben die Briten doch den deutlich besseren Begriff gefunden: „Manager“ heißen ihre Führungskräfte an der Seitenlinie – ein Titel, den Carlo Ancelotti für angemessener hält.
Ancelotti, der als Profispieler sehr erfolgreich beim AS Rom und dem AC Mailand spielte, arbeitete nach seiner Karriere nicht minder erfolgreich als Trainer für europäische Topclubs wie Paris St. Germain, AC Mailand, Real Madrid und als Manager für den FC Chelsea. Der neue FC Bayern-Trainer ist davon überzeugt, dass auch Führungskräfte in der Wirtschaft viel von den Teamchefs der Fußballclubs lernen können. „Quiet Leadership – Wie man Menschen und Spiele gewinnt“, heißt das Buch, das er kürzlich veröffentlicht hat – und gleich der Titel macht stutzig: Ist nicht etwa nur derjenige zum Boss befähigt, der ordentlich Rabatz machen kann? Der seine Erfolge herausposaunt und als Alpha-Tier geboren ist?
Ganz und gar nicht, nur fallen die Lauten eben eher auf als diejenigen, die auf leiser Sohle daherkommen und daher schneller unterschätzt werden – ohne die es aber weder Einsteins Relativitätstheorie, Chopins Klavierstücke noch die Suchmaschine Google gegeben hätte, wie die amerikanische Autorin Susan Cain in ihrem Buch „Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt“ schreibt. Sie kritisiert darin das gesellschaftliche Ungleichgewicht zugunsten der Partylöwen und Dampfplauderer. Es herrsche eine „extrovertierte Ethik“, die stille Wasser zwinge, sich anzupassen oder unterzugehen. Ihre Eigenschaften – Ernsthaftigkeit, Sensibilität und Scheu – würden eher als Krankheitssymptome denn als Qualitäten gelten. „Zu Unrecht“, sagt Susan Cain und fordert leise Menschen auf, zu ihren Eigenschaften zu stehen. Gerade auch als Chef.
So wie Gilbert Dietrich, der die Personalabteilung eines Leipziger IT-Unternehmens mit 1800 Mitarbeitern führte, bevor er als Leiter des Global People Services Teams zu einem Berliner Unternehmen aus der Musikbranche wechselte. Gilbert ist ein Mann, der allein wegen seiner Größe von 1,91 Meter auffällt, seine eigene Komfortzone aber eher unter einer Tarnkappe definiert. „Ich bin nicht so der Redenschwinger“, erklärte er vor seinem Wechsel in einem „Zeit“-Porträt über introvertierte Führungskräfte. Er nehme im Büro lieber die Treppe, um dem Smalltalk im Fahrstuhl auszuweichen, er brauche Zeit für sich, um Dinge in Ruhe durchzudenken. „Ich bin erschöpft, wenn ich unter Leuten bin.“
Typisch für introvertierte Menschen, wie der Harvard-Psychologe Jerome Kagan in Studien herausfand. Introvertierte seien wegen ihrer neuronalen Gehirnaktivität neuronal leichter überstimuliert und bräuchten deswegen mehr Ruhe und Rückzugsräume. Schlechtere Mitarbeiter oder Chefs sind sie deshalb aber ganz sicher nicht.
Das weiß auch Sylvia Löhken, Coach für in- und extrovertierte Menschen und Autorin des Buchs „Leise Menschen – starke Wirkung. Wie Sie Präsenz zeigen und Gehör finden“ (Gabal Verlag, 285 Seiten, 24, 90 Euro). Introvertierte Vorgesetze seien den Extrovertierten deutlich überlegen in Teams, deren Mitglieder Initiative und Eigenverantwortung zeigen, erklärte sie in einem „Handelsblatt“-Interview mit Verweis auf entsprechende Ergebnisse einer US-Studie von 2011. In Teams, in denen dagegen das schnelle, effektive Befolgen von Anordnungen zentral sei, würden die extrovertierten Führungskräfte gewinnen. „Wichtig ist: Menschen, die viel reden und viel Aufmerksamkeit einfordern, sind nicht automatisch gute Führungskräfte – am Ende zählen die Ergebnisse, nicht die erzielte Wirkung auf andere.“
Löhken verweist darauf, dass sich erfolgreiche leise Menschen sehr wohl Gehör verschafften. „Sonst wären beispielsweise Angela Merkel, Mark Zuckerberg, Günther Jauch und Woody Allen nicht dort, wo sie sind.“ Am besten seien introvertierte Menschen deshalb, wenn sie mit ihren eigenen Stärken und Vorlieben das tun, was sie von Extrovertierten unterscheidet. Zwei Beispiele: „Erstens fühlen sich viele Introvertierte besonders im Gespräch mit einer oder zwei Personen wohl. Das führt im Idealfall zu intensivem Austausch, der sehr viel besser verbindet als eher seichter Smalltalk.“ Zweitens würden leise Menschen gut beobachten und ausgezeichnet zuhören, so dass sie die Standpunkte und Bedürfnisse ihrer Gesprächspartner in den Austausch und auch in die eigene Strategie einbeziehen könnten. „Beide Vorteile helfen sehr bei der Verfolgung von karrierebezogenen und anderen Zielen und beim Aufbau guter Kontakte“, betont Löhken.
Darauf verweist auch der neue FC Bayern-Chef Ancelotti in seinem Buch: „Ich glaube, dass eine Führungskraft nicht herumbrüllen oder mit eiserner Faust regieren muss, um ihre Autorität zu behaupten.“ Ein zurückhaltender Führungsstil sei keine Nachgiebigkeit oder Schwäche. „Wer ruhig und überlegt handelt, Vertrauen aufbaut und besonnen Entscheidungen trifft, seinen Einfluss und seine Überzeugungskraft einsetzt und eine Aufgabe professionell angeht, der verströmt Macht und Autorität.“ Natürlich müsse klar sein, wer das Sagen hat, „aber diese Einsicht muss das Ergebnis von Respekt und Vertrauen sein und nicht von Angst“.
Aufgabe von Führungskräften sei es, für eine Situation im Team zu sorgen, in der jedes Mitglied mit seinen Leistungen, Stärken und Bedürfnissen geschätzt wird, betont Löhken. Wenn also der Controller ungestört arbeiten müsse, um akkurate Ergebnisse zu erzielen, sollte ihm das ermöglicht werden. Ebenso solle er aber wissen, dass Konflikte rechtzeitig thematisiert werden, bevor sie eskalierten – auch, wenn er das lieber nicht täte. Oder um es mit Ancelottis Worten zu sagen: „Es geht nicht darum, das Talent zu domestizieren, damit es zum Team passt, sondern umgekehrt das Team zu stärken, damit es zum Talent passt.“
Um einige wichtige To-dos kommen aber auch introvertierte Menschen nicht herum, wenn sie erfolgreich sein wollen, gerade als Führungskräfte. Beispielsweise Smalltalk. Echte Kontakte entstehen schließlich häufig erst, wenn der offizielle Teil eines Programms beendet ist und man sich abends gemeinsam noch an der Bar trifft oder essen geht. Löhken gibt Entwarnung: „Viele Intros sind in ihrer Kontaktpflege sehr, sehr erfolgreich: Ihr Motto ist ,Klasse statt Masse’ oder ,Tiefe statt Breite’. Ich muss und will als stiller Mensch nicht ständig überall dabei sein, aber ich kann mir Ziele setzen und überlegen, was mich interessiert und mir wichtig ist. Dann gehe ich am Abend vor einer wichtigen Entscheidung bestimmt mit an die Bar – und ich rede auch mit wichtigen Akteuren unter vier Augen. Dazu braucht es keine Extroversion.“
Wie aber sieht das tatsächlich in der Praxis aus? Gilbert Dietrich, der bereits für Google gearbeitet und dort ebenfalls ein Team geleitet hat, berichtete gegenüber der „Zeit“ von einer Unternehmenskultur bei dem Internetgiganten, die ihm geholfen habe, sich trotz seiner Introvertiertheit zu entwickeln. Sein Chef habe sein Können geschätzt und ihm Auszeiten gegönnt. Das wichtigste Erfolgsrezept sei, sich selbst richtig zu kennen und seine Rolle zu finden. Heute achte er darauf, dass er sich auch im Berufsalltag mal abschirmen könne, er richte sich vor oder nach wichtigen Terminen Teepausen ein.
Doch obwohl er selbst als Introvertierter eine so steile Karriere hingelegt hat, gehe es ihm wie vielen Führungskräften. Die Extrovertierten würden ihn schneller beeindrucken, weil sie selbstsicher und kontaktfreudig wirkten. In seinem eigenen Team achte er deshalb darauf – so wie es auch Löhken empfiehlt – die Stillen zu berücksichtigen. Bei Teammeetings sitze er zwischen seinen Mitarbeitern, in Personalschulungen sensibilisiere er die Führungskräfte für die unterschiedlichen Persönlichkeitsprofile. „Ich habe in meinem eigenen Team einige Stille, wenn sie etwas sagen, hat das Hand und Fuß, und das kann ein Projekt in Nullkommanichts vorantreiben.“
Allerdings behalte er sich vor, bei Bedarf gegenzusteuern, um zu verhindern, dass ein Bewerber auf einer für ihn weniger geeigneten Position lande. „Falls sich ein extrem Introvertierter auf einen Sales-Posten bewirbt, in dem der Erfolg von viel Außendarstellung, Networking und Smalltalk abhängt, würde ich ihm abraten. Aber das passiert in hundert Jahren nicht.“
Ancelotti betont, dass jeder Mensch seinen eigenen Stil finden müsse: „Führungsstärke lässt sich erlernen, aber man kann sie nicht nachahmen.“
Ob dem FC Bayern mit dem „quiet leader“ Ancelotti womöglich erneut ein Triple gelingt wie zuletzt 2013, wird sich erst am Ende der Saison zeigen. Der neue „Manager“ fühlt sich für das Auf und Ab in der Bundesliga als introvertierte Führungskraft zumindest gut gerüstet, denn: „Mein Arsch ist erdbebensicher.“

 

Text: Sonja Àlvarez  Illustration: Raphaela Schröder